Cover
Titel
Die Rote Gefahr. Der italienische Eurokommunismus als sicherheitspolitische Herausforderung für die USA und Westdeutschland 1969–1979


Autor(en)
Dörr, Nikolas
Reihe
Zeithistorische Studien 58
Erschienen
Köln 2017: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
566 S., 9 SW-Abb.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bruno Schoch, Leibniz-Institut, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt am Main

Billy Wilder bewunderte die Filme italienischer Regisseure, namentlich den großen Bernardo Bertolucci, über den er einmal spöttisch bemerkte: „Wenn er nur nicht von der Idee besessen wäre, es gäbe nichts Interessanteres auf der Welt als die Geschichte und Entwicklung der KPI. Auf einmal müssen sich alle für die Geschichte der KPI interessieren.“ Zumindest unzählige Intellektuelle, Journalisten, Politikwissenschaftler und Historiker teilten diese Obsession. Deshalb gibt es, abgesehen von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, wohl keine andere KP, über die derart viel geschrieben worden ist.

Das internationale Interesse erreichte seinen Höhepunkt, als Enrico Berlinguer, der Generalsekretär der KPI, nach dem Militärputsch in Chile mit dem compromesso storico und im Kontext von Umsturz-Gerüchten und handfesten -Plänen auch in Italien (S. 313–329) einen Strategiewechsel vornahm und nach enormen Wahlerfolgen der KPI ihre Regierungsbeteiligung in Rom nur noch eine Frage der Zeit schien. Zur gleichen Zeit bildeten in Frankreich die KPF, seinerzeit noch stärkste Fraktion in der Nationalversammlung, und die von François Mitterrand reorganisierten Sozialisten zusammen die union de gauche, die sich anschickte, die lange Vorherrschaft der Gaullisten zu beenden. In Spanien zeichnete sich das Ende der Diktatur Francos ab und die KP unter Santiago Carrillo bereitete sich auf eine friedliche Transformation des Landes vor, indem sie sich zur Demokratie bekannte und ihre Abhängigkeit von Moskau ostentativ verringerte. In diesem Kontext kam der breit schillernde Begriff des Eurokommunismus auf. Für die einen nichts als ein trojanisches Pferd Moskaus im Westen, um die NATO zu destabilisieren, war er für die anderen eine Projektionsfolie für Hoffnungen auf die Reformierbarkeit des Kommunismus, gar auf die Möglichkeit, Sozialismus und Demokratie zu versöhnen (S. 131–184).

Die Dissertation des Potsdamer Zeithistorikers Nikolas Dörr, der bereits mit einer Reihe von Publikationen zu diesem Themenkomplex hervorgetreten ist, tut gut daran, sich nicht allzu lange mit Definitionsversuchen des vagen Terminus aufzuhalten, sondern sich auf die italienische Partei zu konzentrieren. Denn deren Selbstveränderung war mehr als Propaganda und Taktik und kam nicht über Nacht. Vielmehr hatte die KPI schon seit Palmiro Togliatti begonnen, mit der These vom Polyzentrismus der kommunistischen Bewegung und der Strategie eines italienischen Wegs zum Sozialismus eigenständige Akzente zu setzen. Nikolas Dörr konzentriert sich auch nicht auf die Evolution einer traditionellen KP in Richtung Demokratie und Sozialdemokratie, die vielfach beschrieben worden ist. Vielmehr liegt sein Fokus auf der unterschiedlichen Perzeption der italienischen Variante des Eurokommunismus im Westen, namentlich in der Bundesrepublik Deutschland und in den USA, und auf den daraus folgenden politischen Strategien.

Die Studie zeichnet sich durch eine beeindruckende Kenntnis der Fachliteratur aus, und zwar nicht nur, wie heutzutage zumeist üblich, der angelsächsischen und der deutschsprachigen, sondern auch der italienischen und französischen. Zudem hat Nikolas Dörr eine Fülle von Quellen in bisher kaum erschlossenen Archiven ausgewertet. Einige davon, wie das Parteiarchiv der KPI, aber auch die amerikanischen National Archives und die CIA-Analysen zum Eurokommunismus, das Willy-Brandt-Archiv und die Archive der US-Präsidenten Gerald Ford und Jimmy Carter, sind erst seit kurzem zugänglich (S. 45). Seine intensive Quellenarbeit gestattete Nikolas Dörr eine bestechend genaue und minutiöse Darstellung der Diskussionen, Kontroversen und politischen Entscheidungen in der Bundesrepublik Deutschland und in den USA, deren Unterschiede in beiden Ländern er überzeugend herausarbeitet.

So rekonstruiert er in einem der beiden Hauptkapitel (S. 185–292) die Kontakte und Gespräche zwischen SPD und KPI en détail. Sie begannen mit ersten, vorsichtig tastenden Sondierungen des Stern-Journalisten Leo Bauer, später Vertrauter von Willy Brandt, Mitte der 1960er-Jahre. Wenig später kam es zu inoffiziellen, dann auch bekannt gegebenen Gesprächen zwischen Parteivertretern und schließlich zum Meinungsaustausch zwischen Enrico Berlinguer und dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt, der auch als Präsident der Sozialistischen Internationale amtierte. Obwohl Bundeskanzler Helmut Schmidt derartige Gespräche kategorisch ablehnte, erscheint es mir problematisch, sie – wie Dörr es tut – insgesamt als „Nebenaußenpolitik“ zu qualifizieren – immerhin war die SPD seinerzeit an der Regierung. Hatte die KPI eine Vermittlerfunktion für die sozial-liberale Ostpolitik, so trugen die Gespräche mit der SPD „zum endgültigen Wandel der größten kommunistischen Partei des Westens in eine sozialdemokratische Partei bei“ (S. 289), und zwar vor dem Beginn von Michail Gorbatschows Reformpolitik.

Ganz anders waren Perzeption und politische Strategie der USA dem italienischen Eurokommunismus gegenüber, wie Dörr im zweiten großen Kapitel nicht weniger minutiös und quellengesättigt darstellt, wobei er besonders die Berichte der Botschafter ausgewertet hat (S. 293–400). Lange gab es in den USA für die italienischen Kommunisten in den USA kaum Interesse. Das änderte sich mit deren spektakulären Wahlerfolgen in den 1970er-Jahren. Doch anders als in der Bundesrepublik dominierte in den USA lange die Grundüberzeugung vom kommunistischen Monolith, direkte Kontakte mit Vertretern der KPI blieben kategorisch ausgeschlossen. Stattdessen flossen Millionen von US-Dollars an antikommunistische Parteien und Abgeordnete, darunter auch an General Vito Miceli, Abgeordneter des neofaschistischen MSI (S. 319). Auch schloss Washington die Möglichkeit, einen rechten Staatsstreich zu unterstützen, unter den Präsidenten Nixon und Ford nie ganz aus (S. 354). Präsident Carter vertrat dann eine dezidierte Politik der Nichteinmischung und des Dialogs, doch musste er diese Linie nach massivem innenpolitischen Druck der Konservativen aufgeben und auf die intransigent antikommunistische Linie vor allem von Henry Kissinger umschwenken. Dessen rigide Haltung gegenüber der KPI warf ihm der konservative Ministerpräsident Giulio Andreotti während seines Besuchs in Washington 1977 vor, da Washington doch zugleich nach guten Beziehungen mit Moskau und Peking trachte (S. 398). Doch hatte dieser Widerspruch System. Kissingers enger Berater Helmut Sonnenfeldt hatte eine Doktrin der unveränderlichen Stabilität beider Blöcke formuliert, die im Grunde das Pendant der Breschnew-Doktrin war: „There would be no coexistence and dialogue between the two superpowers without their total and ‚organic‘ control over their respective spheres of influence in Europe.“ (S. 397) Der italienische Eurokommunismus erschien auch deshalb als gefährlich, weil er sich dieser manichäischen Blocklogik widersetzte, ein Bestreben, das die KPI mit dem – deutschlandpolitisch motivierten – Entspannungsziel der SPD teilte. Diese Interessenskoinzidenz kommt in Nikolas Dörrs Vergleich zwischen der Politik der USA und derjenigen der Bundesrepublik und der SPD wohl zu kurz.

Etwas arg kursorisch mutet dann der Epilog an, der den Wandel der KPI seit der Epochenzäsur 1989 hin zur Sozialdemokratie resümiert. Dörr geht nicht darauf ein, warum die gesellschaftliche Mobilisierungskraft der KPI dramatisch nachließ und sie nicht davon zu profitieren vermochte, dass Christdemokraten und Sozialisten, die Jahrzehnte lang die Politik Italiens bestimmt hatten, in einem Morast von Korruption versanken. Als sich der langjährige Ministerpräsident Bettino Craxi (PSI) der Strafverfolgung durch die italienische Justiz in Tunesien entzog, schlug nicht die Stunde der inzwischen in Partito Democratico della Sinistra, PDS, umbenannten Partei, sondern die des Populisten Silvio Berlusconi.

Gleichwohl ist Nikolas Dörr eine solide, überaus gründlich recherchierte und instruktive Studie gelungen. Einige wenige Haare in der Suppe tun dem keinen Abbruch. So war etwa der Philosoph Angelo Bolaffi, der auch bei der kulturell-politischen Wochenzeitschrift „Rinascita“ als Journalist arbeitete, nie ein „Parteiphilosoph“ (S. 63). Und dann die Sache mit dem Film. Die KPI habe früh eine eigene Abteilung für Filmkultur geschaffen und damit „eine cineastische kommunistische Subkultur“ gefördert, schreibt Nikolas Dörr, doch sei es ihr in den 1950er-Jahren nie gelungen, „die Hegemonie der katholischen und amerikafreundlichen Kinoszene zu durchbrechen“ (S. 301f.). Man möchte Nikolas Dörr wünschen, dass er nach all seinen gründlichen Archivstudien viel Zeit findet, sich die zahlreichen großartigen italienischen Nachkriegsfilme, deren Regisseure meist der KPI nahestanden, zu Gemüte zu führen – er wird dann dieses kleine Fehlurteil rasch korrigieren.