R. Bürgi: Die OECD und die Bildungsplanung der freien Welt

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Titel
Die OECD und die Bildungsplanung der freien Welt. Denkstile und Netzwerke einer internationalen Bildungsexpertise


Autor(en)
Bürgi, Regula
Reihe
promotion 7
Erschienen
Anzahl Seiten
254 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Timocin Celebi, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Das Konzept der Bildungsplanung ist in aktuellen Auseinandersetzungen als politisch-wissenschaftliches Steuerungsinstrument zur Flankierung nationalstaatlicher Entwicklungen unwidersprochen. So scheint die Aussagekraft der PISA-Studie im Bildungswettbewerb mit anderen Gesellschaften in der öffentlichen Wahrnehmung die gleiche Bedeutung zu haben, wie in der Bundesrepublik die Empfehlungen des 1957 eingerichteten Wissenschaftsrates. Beide Institutionen ähnelten sich in den 1960er-Jahren darin, dass Experten, die in bestimmten Fachtraditionen standen und institutionell geprägt waren, politische Debatten um Bildung maßgeblich mitbestimmen und diskursiv aufluden. So kursierten in Expertenkreisen bereits seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges neoliberale Vorstellungen von ausgeglichenen Bildungslandschaften, internationaler Wettbewerbsfähigkeit oder Rationalität.

Der Entstehung internationaler Expertennetzwerke, der Prägung und der Konsolidierung ihrer Denkstile durch fachliche und institutionelle Traditionen zwischen den 1940er- und 1970er-Jahren spürt die Erziehungswissenschaftlerin Regula Bürgi in ihrer 2017 publizierten Dissertation im Kontext der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) nach. Ziel dieser Arbeit ist es, anhand des Fallbeispiels der OECD als institutionalisierter „Plattform der Wissens- und Informationsproduktion“ (S. 14) eine sich zwischen Politik und Wissenschaft herausbildende Professionalisierung und Institutionalisierung von Bildungsexperten darzulegen, die seit den 1960er-Jahren prägend für die Formierung einer internationalen Bildungsforschung waren.

Regula Bürgi geht mit ihrer zentralen These davon aus, dass sich bereits vor dem Hintergrund des Kalten Krieges in den 1950er- und 1960er-Jahren die strukturellen, das heißt auch institutionellen, Voraussetzungen einer internationalen Bildungsexpertise herauskristallisierten. Diese Strukturen beeinflussten die OECD und brachten ihr in der öffentlichen Wahrnehmung den Status einer universellen und nicht hinterfragbaren Bildungsexpertin ein, die die gesellschaftlichen Entwicklungen technokratisch und auf der Basis scheinbar objektivierbarer statistischer Strategien einzufangen und normativ zu erklären versuchte, um vorausschauende Planungs- und Entwicklungsperspektiven zu generieren. So habe sich in den 1960er-Jahren international die Überzeugung durchgesetzt, gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Herausforderungen über die Steuerung der Bildungssysteme bewältigen zu können, was in der erziehungswissenschaftlichen Forschung unter der These der „Pädagogisierung“ als ein Charakteristikum der Moderne diskutiert wird (S. 12f.).

Die vorgestellten Thesen prüft Regula Bürgi am Beispiel von drei Feldern, in denen sie die prägenden Akteure sowie deren institutionelle Anbindungen nebeneinanderstellt. Auf einer breiten Quellenbasis zeigt sie erstens, wie sich entlang der zeitgeschichtlichen Linien bis in die 1970er-Jahre hinein der Zusammenhang von Bildung und Produktivität als Denkstil festigte, der zweitens die sich verbreitende Vorstellung von staatlicher Entwicklung und Bildung, das „Development“ (S. 85), beeinflusste. Drittens wird die Entwicklung systemtheoretischer Erklärungsmodelle und ihre wachsende Deutungskraft zur Beschreibung von Gesellschaft und Bildung seit den 1960er-Jahren innerhalb dieser Expertennetzwerke betrachtet, die zwischen neoliberalen Wettbewerbsmodellen und gesellschaftspolitischen Forderungen nach „Chancengleichheit“ changierten.

Mit der Untersuchung wird eine historische Fragestellung verfolgt, die sich im Kontext der Wissenschaftsgeschichte verorten lässt und auf der Ebene der betrachteten Akteure die wechselseitige Beeinflussung von Wissenschaft und Politik in den Blick nimmt. Dabei werden Fragen angeschnitten, die aktuell unter dem Konzept nationaler „Wissenschaftsgesellschaften“1 diskutiert werden. Über die Untersuchung internationaler Expertennetzwerke, die sich mit der sozialstaatlichen Entwicklung über die mögliche Ausgestaltung von Bildungssystemen beschäftigen, knüpft die Arbeit an Fragen der sozialgeschichtlichen Forschung an, die sich mit der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ und der Entwicklung europäischer Nationalstaaten beschäftigt.2 Mit der Wahl des Untersuchungszeitraumes werden über den Gegenstand der Bildungsplanung Phänomene abgedeckt, die derzeit in der zeithistorischen Forschung als Epochenschwelle zwischen Moderne und Postmoderne beziehungsweise als „Boom“ und „nach dem Boom“ diskutiert werden.

In insgesamt sechs Oberkapiteln rollt Regula Bürgi die Vorgeschichte einer sich politisch professionalisierenden Expertise seit den 1940er-Jahren in den USA auf und beleuchtet die Entwicklungen und Aushandlungen internationaler Organisationen wie der Organisation for European Co-operation (OEEC) und die Herausbildung einer internationalen Perspektive auf Bildung. Schließlich widmet sie sich der Etablierung von Bildungsfragen in der OECD vor dem Hintergrund einer sich durchsetzenden Steuerungsideologie über entwicklungstheoretische Erklärungsmodelle. Entlang dieser Linien stellt Regula Bürgi einerseits die institutionellen, politischen und wirtschaftlichen Akteure und deren Einflüsse innerhalb der Organisation heraus, die sich durch finanzielle Unterstützung einzelner Nationalstaaten oder durch die Beteiligung wirtschaftsnaher Stiftungen erklären lassen. Auf der anderen Seite werden die kursierenden naturwissenschaftlichen, soziologischen und ökonomisch geprägten Denkstile dieser Akteursgruppen und ihre Aushandlung herausgearbeitet, die innerhalb der OECD und anderer internationaler Player, wie der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO), verhandelt wurden. Dabei werden über den methodischen Blickwinkel der Akteur-Netzwerk-Theorie Prozesse in den Blick genommen, die die Positionen der betrachteten Akteure sowie ihre prägenden Wechselwirkungen mit den jeweiligen Netzwerken sichtbar machen. Aus dieser methodischen Perspektive heraus wird geprüft, inwiefern die betrachteten Akteure eigentlich durch diese Netzwerke „determiniert“ (S. 17) werden.

In ihrer Untersuchung der Akteursnetzwerke und ihrer institutionellen Hintergründe kommt Regula Bürgi zum überzeugenden Schluss, dass die OECD sich über die Expertenverhandlung von Bildungs- und Planungsfragen zu einem eigenständig agierenden internationalen Player entwickeln konnte. Als ein solcher Player zeichnete sich die OECD durch verschränkte Netzwerke zwischen Experten und nationalstaatlichen Akteuren aus, die über die Regierungsebenen hinauswiesen und damit wesentliche Punkte in der bildungspolitischen Agenda setzen konnte (Vgl. S. 220f.). Über nationalstaatliche Experten-Politik-Beziehungen konnte damit ein spezifischer Sprachgebrauch durchgesetzt werden, der den Positionen der OECD diskursiv eine Tiefenwirkung verlieh und bestimmte Vorstellungen festigte. So haben sich „Glaubenssets“ wie das der Rationalisierung der Bildung empirisch unbelegt und dennoch weitgehend konsentiert durchsetzen können.

Die Arbeit bietet – auch über die Hinweise zu prägenden Akteuren nationaler Bildungspolitiken – Anknüpfungspunkte für die Untersuchung bundesrepublikanischer Bildungsdebatten seit den 1960er-Jahren, die sich teilweise zeitversetzt zur internationalen Diskussion um die Frage der „Massenuniversitäten“ in den 1960er-Jahren oder durch gesellschaftspolitische Forderungen nach „Demokratisierung“ und „Chancengleichheit“ in den 1970er-Jahren auszeichneten. Auf der internationalen Ebene werden zudem Fragen nach der Konzeption von „Weltgemeinschaft“ oder der „freien Welt“ in den Bildungsdebatten der OECD aufgeworfen, die über verschiedene Akteure, wie wirtschaftsnahe Stiftungen und einflussreiche Nationalstaaten, die wechselseitige Verknüpfung von nationalen Selbstverortungen mit internationalen Perspektiven auf die Bildungsplanung der OECD offenlegen. Basierend auf den Perspektiven, die Regula Bürgi in ihrer Arbeit diskutiert, ließen sich Fragen weiter entwickeln, die etwa den Beitrag der Bildungsdebatten und die Produktion gemeinschaftlicher Entwicklungsperspektiven zur Konstruktion der „freien Welt“ genauer ausleuchten, die im Titel zwar ohne Anführungszeichen genannt wird, aber in der Wissenschaftsgeschichte und als zeithistorisches Phänomen ein weiteres spannendes Untersuchungsfelde darstellt.

Die Arbeit liefert damit nicht nur einen guten Gesamtüberblick über bildungsplanerische Debatten auf internationaler Ebene, sondern auch Deutungsangebote für die Betrachtung bundesrepublikanischer Bildungsplanung und wissenschaftspolitischer Initiativen in den 1960er- und 1970er-Jahren.

Anmerkungen:
1 Margit Szöllösi-Janze, Politisierung der Wissenschaften – Verwissenschaftlichung und Politik, Wissenschaftliche Politikberatung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Stefan Fisch / Wilfried Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 79–100, und dies., Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 277–313.
2 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193, sowie Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Der Epochenbruch in den 1970er-Jahren: Thesen zur Phänomenologie und den Wirkungen des Strukturwandels »nach dem Boom«, in: Knud Andresen / Ursula Bitzegeio / Jürgen Mittag (Hrsg.), »Nach dem Strukturbruch«? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er-Jahren, Bonn 2011, S. 25–40.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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