K. Hammerstein: Gemeinsame Vergangenheit – getrennte Erinnerung?

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Titel
Gemeinsame Vergangenheit – getrennte Erinnerung?. Der Nationalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen von Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich


Autor(en)
Hammerstein, Katrin
Reihe
Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert 11
Erschienen
Göttingen 2017: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
591 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Reininghaus, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Debatte um Kurt Waldheims Kandidatur für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten im Jahr 1986 ist bis heute ein eindrückliches Beispiel dafür, dass „Aufarbeitung […] in ihrer Gegenwartsorientierung regelmäßig dazu [tendiert], die für Historiker so entscheidende Grenze zwischen Deskription und Präskription, zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik ebenso einzureißen wie […] die zwischen Recht und Politik“.1 Spätestens nachdem die USA dem dann zum Bundespräsidenten gewählten Waldheim die private Einreise verboten hatten und die österreichische Bundesregierung zudem eine Historikerkommission zur Klärung von Waldheims Rolle im Nationalsozialismus einsetzte, wurde die Nähe, aber auch die Unterschiedlichkeit von Wissenschaft, Aufarbeitung und Politik offensichtlich. Umso höher sind die Souveränität und die Ausgewogenheit einzuschätzen, mit der Katrin Hammerstein in ihrer an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation entstandenen Studie kontrovers diskutierte Ereignisse der „Vergangenheitsbewältigung“ wie die Waldheim-Affäre darstellt und einordnet.

In Österreich traten angesichts der Aussage des von der ÖVP als Präsidentschaftskandidat nominierten ehemaligen UNO-Generalsekretärs, er habe im „Dritten Reich“ lediglich seine „Pflicht als Soldat erfüllt“, nicht zuletzt „deutlich die Widersprüche des österreichischen Narrativs vom ‚ersten Opfer des Nationalsozialismus‘ zutage“ (S. 277). Dies führte zu teils ungestümen Auseinandersetzungen um Waldheims Person. Doch auch in der Bundesrepublik wurde der Fall kontrovers diskutiert. Während Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) Waldheims Gegnern eine „Arroganz der Spätgeborenen“ vorwarf (zit. auf S. 297) und damit sein umstrittenes Diktum von der „Gnade der späten Geburt“ modulierte, überwog insgesamt die Kritik an dem einstigen Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds und der SA. Diese Kritik sei, so Hammerstein, nicht selten mit generellen Einwänden gegen den österreichischen Umgang mit der nationalsozialistischen Geschichte verknüpft worden. Zugleich habe die Affäre in der Bundesrepublik Deutschland allerdings auch dazu gedient, eigene Defizite bei der „Vergangenheitsbewältigung“ zu thematisieren. Die DDR dagegen habe die Debatte um Waldheim nahezu ignoriert (S. 293), was vor allem auf die für die DDR auch wirtschaftlich wichtigen außenpolitischen Beziehungen zur Alpenrepublik zurückzuführen sei. Stattdessen habe der ostdeutsche Staat diese Episode einmal mehr dazu genutzt, der westdeutschen Seite „nach wie vor die alleinige Verantwortung für den sogenannten Hitlerfaschismus“ (S. 295) zuzuweisen. Damit wurde nicht nur die Eigenwahrnehmung als „antifaschistischer Staat“ zu untermauern versucht, sondern auch diejenige Österreichs als „erstes Opfer des Nationalsozialismus“. Derweil hatte Hammerstein zufolge in Österreich bereits eine „Neuverhandlung des Geschichtsbilds“ (S. 277) begonnen – nicht zuletzt dank der Rede des (west)deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (CDU) zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985.

Die Autorin geht in Kapitel I von den „Gründungsmythen und Geschichtsbilder[n]“ (S. 35) aus, die in allen drei Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“ der Abgrenzung zur NS-Diktatur dienten. Unter der Überschrift „Schuldige Opfer?“ liefert sie in Kapitel II den Nachweis, dass M. Rainer Lepsius' bis heute wirkmächtige Dreiteilung der „(Nicht-)Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus“ (S. 9) in die Muster der „Internalisierung“ (Bundesrepublik), „Universalisierung“ (DDR) und „Externalisierung“ (Österreich) aus dem Jahr 19882 einer grundlegenden Erweiterung bedarf, damit die „Wandlungen und Umakzentuierungen der Narrative“ (S. 133) zufriedenstellend beschrieben werden können. Grundsätzlich hält Hammerstein allerdings an Lepsius' These fest, dass die Antifaschismus-Erzählung der DDR und das österreichische Opfernarrativ zu „veritablen Gründungsmythen ausgebaut wurden“, mit denen das nationalsozialistische Erbe zurückgewiesen wurde, während „die Bundesrepublik zwischen der in ihrem Selbstverständnis als Nachfolgerin des Deutschen Reiches übernommenen Verantwortung […] und Versuchen der Schuldreduzierung [oszillierte]“ (S. 488). Im Kapitel III, das den Schwerpunkt der Studie darstellt, werden unter der Überschrift „Transformationen und Transfers“ die sich annähernden Geschichtsbilder vom Ende der 1970er-Jahre bis zum Ende der 1980er-Jahre beschrieben. Die zunächst in der Bundesrepublik ausgestrahlte US-amerikanische Fernsehserie „Holocaust“ (1979) wird als Auftakt eines sich auch auf die beiden Nachbarstaaten auswirkenden „Gedenkmarathon[s]“ (S. 153) interpretiert. Im Kapitel IV („Towards a Memory of Guilt“) werden die nach dem Ende der deutschen Zweistaatlichkeit von einer zunehmenden „Synchronisierung der Gedächtnislandschaften“ (S. 458) und „Normierungstendenzen“ (S. 501) geprägten Erinnerungsformen seit den 1990er-Jahren untersucht.

Methodisch arbeitet Hammerstein „vergleichend-integrativ“ (S. 32) und dehnt so den auf die deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte gemünzten Terminus der „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ (Christoph Kleßmann) auf Österreich aus. Diesem Vorgehen ist auch der bemerkenswerte Ansatz der Studie zu verdanken, die „unterschiedlichen Rahmen- und Handlungsbedingungen von ostdeutscher Diktatur und westdeutscher sowie österreichischer Demokratie“ (S. 34) miteinander in Bezug zu setzen. Damit können über die Systemgrenze hinweg „deutliche Parallelen, Analogien und Gemeinsamkeiten“ (S. 10) aufgezeigt werden.

Da „die offiziell formulierten und öffentlich kommunizierten Geschichtsbilder“ (S. 28) im Mittelpunkt stehen, dienen vor allem Reden, Erklärungen und Stellungnahmen staatlicher Repräsentanten und anderer politischer Akteure als Quellenbasis. Ebenso berücksichtigt werden zahlreiche Publikationen der historisch-politischen Bildung sowie Presseveröffentlichungen, Filme und Fernsehsendungen.

Auch wenn der Schwerpunkt auf dem Zeitraum vom Ende der 1970er-Jahre bis zum Ende der deutschen Zweistaatlichkeit liegt, kann Hammerstein bereits für die Frühphase aller drei Staaten „Akzentverschiebungen in den offiziellen Bildern von Nationalsozialismus“ (S. 95) nachweisen, indem sie beispielsweise dem sich seit den 1960er-Jahren vorsichtig öffnenden Umgang mit kommunistischen Widerstandskämpfern in der Bundesrepublik die „immer positivere Besetzung und Beanspruchung Stauffenbergs und des ‚20. Juli‘ als Traditionsbestand durch die DDR“ (S. 99) gegenüberstellt. Damit gelingt es ihr, den bis heute (politisch) hoch umstrittenen Begriff des „Antifaschismus“ zu differenzieren. Auch wenn die DDR bis zuletzt ihren Anspruch nicht aufgab, das „bessere Deutschland“ zu sein und „[d]ie (Nicht-)Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus […] von der Durchsetzung der kommunistischen Herrschaft dominiert [wurde]“ (S. 52), so konstatiert Hammerstein doch spätestens mit dem Gedenken anlässlich des 50. Jahrestags der Novemberpogrome im Jahr 1988 den zivilgesellschaftlich von Einzelpersonen, Kirchenvertretern und Vereinen vorbereiteten „Beginn der schleichenden Akzeptanz einer Verantwortung für die Folgen der NS-Verbrechen“ (S. 349). Letztlich stellt die Autorin „für Österreich und auch die DDR in den 1980er Jahren ein […] Aufbrechen der verkrusteten Geschichtsbilder, eine Erosion der Mythen und eine – im Vergleich zur Bundesrepublik […] – nachholende Internalisierung des Nationalsozialismus“ und damit eine „Annäherung der Geschichtsbilder“ fest (S. 495f.).

Diese Entwicklung beschreibt Hammerstein entlang von – nicht selten skandalhaften – Ereignissen wie dem Besuch des Soldatenfriedhofs in Bitburg durch Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident Ronald Reagan 1985 und dem „Historikerstreit“ im „Debattenjahr“ 1986 oder der „Skandal-Rede“ von Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU) im November 1988. Die „transnationale Kommunikation“ (S. 500) der drei Staaten betreffend, macht die Autorin dabei nur wenige echte Zäsuren aus und bescheinigt sogar Weizsäckers in allen drei Staaten breit rezipierter Rede von 1985, dass „vergleichbare Aussagen bereits früher und von anderen Politikern ebenfalls getätigt wurden“ (S. 501). Am Beispiel einer (für Österreich) wegweisenden und dennoch wirkungslosen Rede Waldheims vom März 1988 führt sie zudem aus, welche Bedeutung dem Zusammenspiel von „Person und Moment“ (S. 421) mitunter zukommt. Umso bedauerlicher ist, dass der umfangreiche Band über kein Personenregister verfügt, zumal der Blick auf verschiedene Akteure durchaus noch zu bearbeitende Fragen erkennen lässt. So steht hier eine Aussage des „Lyriker[s] Erich Fried“ (S. 372) über den Umgang mit der österreichischen Vergangenheit offenbar im Einklang mit derjenigen des „Journalist[en] Otto Schulmeister“ (ebd.). Fried als Jude hatte ansehen müssen, wie sein Vater an den Folgen eines „Verhörs“ durch die Gestapo verstarb, war ins Exil nach London geflohen und hatte erst 1982 wieder die österreichische Staatsbürgerschaft erlangt.3 Schulmeister dagegen war Mitglied der Hitlerjugend, hatte 1938 den „Anschluss“ begrüßt und avancierte nach 1945 zu einem der einflussreichsten Publizisten Österreichs.4 Auch eine Einschätzung, welche Rezeption solche Wortmeldungen erfuhren, wäre also von Interesse.

Inwiefern trotz seiner „Vorbildfunktion“ (S. 396) auch der Weg zu einem „Gedenken an die NS-Zeit und ihre Opfer als konstitutives Element des historisch-politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik [Deutschland]“ (S. 400) kein einfacher war, wird im letzten Kapitel über die Ära nach 1990 angesichts zahlreicher revisionistischer Angriffe dennoch deutlich. Dass dieser Weg weit weniger von Einsamkeit geprägt war als bisher dargestellt und beispielsweise „[i]n allen drei Staaten […] pragmatische Gesichtspunkte (zunächst) Vorrang vor den moralischen [hatten]“ (S. 490), aber auch die beiden „nachholenden Staaten“ mitunter eine Vorreiterrolle bei der Anerkennung von Opfergruppen und der Umsetzung von Denkmalsentwürfen übernehmen konnten, hat Katrin Hammerstein erstmals umfassend erforscht und beschrieben. Dass für die Gegenwart zentrale Debatten wie die Kontroverse um die 1995 eröffnete (erste) „Wehrmachtsausstellung“ oder eine seit der Jahrtausendwende diagnostizierte „Universalisierung des Holocaust“ (S. 487) nur beiläufige Erwähnung finden, ist dem zeitlichen Schwerpunkt der Studie geschuldet. Ob sich deren Thema auch künftig noch als Erfolgsgeschichte wird formulieren lassen, entscheidet sich derzeit einmal mehr für Deutschland5 und Österreich6 zugleich.

Anmerkungen:
1 Martin Sabrow, „Vergangenheitsaufarbeitung“ als Epochenbegriff, in: Merkur 67 (2013), S. 494–505, hier S. 499f.
2 M. Rainer Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, S. 229–245, Erstabdruck in: Max Haller / Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny / Wolfgang Zapf (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Kongresses des Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt am Main 1989, S. 247–264.
3 Catherine Fried-Boswell / Volker Kaukoreit (Hrsg.), Erich Fried. Ein Leben in Bildern und Geschichten, Frankfurt am Main 1996, S. 8f.
4 Theodor Venus, Art. „Schulmeister, Otto“, in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 685f. (Online-Version), https://www.deutsche-biographie.de/pnd118920499.html#ndbcontent (06.02.2018).
5 Deutschlands ethischer Imperativ. Schafft es die AfD, die „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ zu erzwingen? Wohl kaum, sagt Aleida Assmann, in: Süddeutsche Zeitung, 14.02.2018 (Interview).
6 Rainer Nowak, Die FPÖ muss ihre braunen Flecken erkennen, eingestehen und löschen, in: Die Presse, 27.01.2018.