I. Ramelli: Social Justice and the Legitimacy of Slavery

Cover
Titel
Social Justice and the Legitimacy of Slavery. The Role of Philosophical Asceticism from Ancient Judaism to Late Antiquity


Autor(en)
Ramelli, Ilaria L. E.
Reihe
Oxford Early Christian Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
XVI, 293 S.
Preis
£ 70.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Vaucher, Fribourg

Ilaria Ramelli füllt mit „Social Justice“ eine wichtige Forschungslücke im Bereich der antiken Sklaverei: nämlich die umfassende Untersuchung des Einflusses des Asketismus auf Philosophie und Theologie der Sklaverei. Sie will dabei die theoretischen Debatten zur Rechtmässigkeit der Sklaverei nachzeichnen, und sich dabei von Peter Garnseys „Ideas of Slavery“ (Cambridge, UK 1996) abgrenzen (S. vii–ix); dieser habe wichtige Autoren außer Betracht gelassen. Ramellis Verdienst ist es tatsächlich, viele bislang unbeachtete Quellen auf die Sklaverei hin zu untersuchen. Den Anspruch, auf 253 Seiten „exhaustive“ zu sein, kann Ramelli dabei allerdings mitnichten erfüllen.

Der zweite Anspruch (S. 9) des Buches, Einflüsse von Autoren auf spätere Werke zu fassen, wird konsequent durchgeführt. Ramelli beginnt mit den Sentenzen des Sextus, deren Einfluss auf die christlichen Asketen sie immer wieder hervorhebt. Weiter wird beispielsweise die Nachwirkung des Origenes auf Gregor von Nyssa oder Evagrius betont. Der dritte Anspruch, die Theorie der Kirchenväter mit ihrer Praxis zu vergleichen, kann quellenbedingt nur partiell vollbracht werden. Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz stechen als Aushängeschilder hervor, da sie nebst Sklavereikritik nachweislich asketisch lebten und für die Sklavenfreilassung einstanden.

Diese Zielsetzungen können aber über eine Tatsache nicht hinwegtäuschen: es ist ein Buch über Gregor von Nyssa. Nicht nur beansprucht dieser den weitaus größten Teil des Buches und wird als einziger ausführlich und kontextualisiert besprochen. Gregor von Nyssa ist auch der Höhepunkt der Geschichte, auf ihn läuft die ganze Argumentation von Beginn an hinaus. An Gregor werden die übrigen Autoren gemessen und beurteilt. Diese Konzentration lässt vieles unausgewogen zurück. Ramellis Quellenkenntnisse wären eine gute Chance gewesen, wirkliches Neuland zu betreten und neue Quellen eingehend zu studieren. Zum Beispiel bringt die Auswahl der syrischen Schriften (Bardaisan, Aphrahat, Manichäer) eine willkommene Erweiterung der Sklavereiforschung. Souverän erkennt Ramelli die enkratistischen Traditionen als substantiellen Teil des östlichen Christentums an, ohne sie als häretisch abzuwerten.1 Doch hätten diese Texte eingehender untersucht werden müssen, statt sie auf wenigen Seiten summarisch abzuhandeln.

„Social Justice“ beginnt mit methodologischen Überlegungen (Kap. 1, S. 1–25). Im Mittelpunkt steht die Verknüpfung von philosophischer Askese und Kritik an sozialer Ungerechtigkeit. Diesen Begriff lässt die Autorin nicht als moderne Kategorie gelten, sondern stellt bei antiken Autoren ein Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeit heraus, was wiederholt mit Forderungen zur Almosentätigkeit und Besitzkritik belegt wird. Problematisch nun ist nicht Ramellis provokativer Vorschlag, „social justice“ als antike Idee wahrzunehmen, sondern die Verknüpfung von Armenfürsorge mit Sklavereikritik. „Social justice“ bedeutet für Ramelli Besitzausgleich durch Armenfürsorge oder Besitzverzicht. Sklaven gehörten aber weder zu den „Armen“ noch zu den Hilfeempfängern christlicher Fürsorgetätigkeit. Sklaven unterstanden der Fürsorge ihrer Herren. Abgesehen von wenigen prominenten Beispielen richtet sich christliche Fürsorge an Arme, Kranke, Waisen, Witwen und Gefangene. So hat beispielsweise das „commitment [der kappadokischen Bischöfe] to the poor“ (S. 196) nichts mit Sklavenfürsorge zu tun. Nur in seltenen Fällen – die Ramelli nicht behandelt – wird das Geld aus den Almosen für den Freikauf von Sklaven eingesetzt.2 Nur im gesteigerten Ideal der vollständigen Besitzentsagung werden Sklaven tatsächlich miteingeschlossen. Besitzverzicht oder Gütergemeinschaft bedeuten in beiden Fällen konsequenterweise die Freilassung von Sklaven, nicht aber zwingend Kritik an der Sklaverei.

Ramelli betont (S. 1), wie in der Antike eine alternative Gesellschaft ohne Sklaverei kaum denkbar war und die Sklaverei nicht als „stand-alone institution“ wahrgenommen wurde wie heute. Eine ernsthafte Sklavereikritik im Sinne eines „Proto-Abolitionismus“ (Flaig) kann für die Antike daher nicht festgemacht werden. Ramelli hebt hier Gregor von Nyssa als die große Ausnahme hervor, der seine christlichen Zuhörer aufforderte, alle Sklaven freizulassen. Aber Ramellis kritische, einleitende Gedanken führen die Absurdität solcher Forderungen vor Augen. Durch die Freilassung aller Sklaven ohne brauchbare Alternative der Bewirtschaftung (S. 3) wären Haushalte und Gemeinden kollabiert. Da bliebe als Alternative nur der Zusammenschluss aller Christen, von jeglichem Besitz losgesagt, in monastischen Gemeinschaften; eine Alternative, die spätestens im 3./4. Jahrhundert völlig unmöglich geworden war, als die Christen alle Gesellschaftsschichten durchzogen und selbst in den Eliten des Reiches vertreten waren. Askese und Sklavenverzicht sind nicht massentauglich, sondern philosophisches Ideal.

Der Begriff des Asketizismus wird in der Einleitung (S. 13 ff.) kritisch beleuchtet. Askese ist philosophische Selbstschulung durch verschiedene Übungen an Geist und Körper. Dabei braucht es nicht zu verwundern, dass verschiedene Versionen von Askese koexistierten und in ihren Übungsformen differierten. Diese Vielfalt führt auch zu einem Problem der Abgrenzung in „Social Justice“: Askese ist hier am Werk bei Pythagoras, den Essenern und Therapeuten, bei Enkratisten und Manichäern, bei Neuplatonikern, bei Bischöfen und Mönchen. Dass dabei nicht jede Form der Askese die Verwerfung von Besitz und Sklaverei beinhaltet, ist für Ramellis Buch von zentraler Bedeutung. Die Bandbreite des Buches schadet hier der notwendigen Differenzierung.

Ein ähnliches Problem begegnet dem Leser im Überblick über die pagane und jüdische Philosophie (Kap. 2, S. 26–100), in dem Ramelli sämtliche Sklavereitheorien nachzuverfolgen versucht. Doch die theoretischen Überlegungen von Platon, Aristoteles oder den Skeptikern haben mit dem eigentlichen Anliegen des Buches, nämlich der Verknüpfung von Askese und Sklavereikritik, nur wenig zu tun. Auch lässt Ramelli eine große Chance aus, wenn sie die frühen Stoiker und Kyniker nur oberflächlich behandelt (S. 45 ff.). Ihre Vorstellungen von askesis und autarkeia wären zu theoretisieren gewesen und hätten damit mit den christlichen Praktiken verglichen werden können. Ist es nicht bezeichnend, dass bereits vor den monastischen Idealen philosophische Strömungen die Bedürfnislosigkeit und Besitzverzicht propagierten und für die natürliche Freiheit aller Menschen einstanden? Dabei ist es weiter fatal, dass das kynische Ideal der autarkeia mit Beispielen der neueren Stoa versehen wird: in dieser Form ist der Stoizismus bekannterweise mit der Sklaverei verträglich und die Lehre der Freiheit wird in die Innerlichkeit verlagert. Es ist in meinen Augen unverständlich, warum die Autorin den radikalen Ideen und Lebensformen eines Diogenes oder Krates nicht mehr Raum gewährte oder Zeno und Chrysipp kaum behandelte.3 Dieses Versäumnis wird noch gravierender, als Dion Chrysostomos als Ausnahmefall behandelt wird (S. 74). Dion ging, so Ramelli, weiter als seine Zeitgenossen und verurteilte die Sklaverei insbesondere in oratio 15 als Ungerechtigkeit.4 Interessanterweise verweist Ramelli auf mögliche kynische Wurzeln dieser Ideale (Anm. 193), ohne die Chance zu nutzen, hier die entscheidenden Verknüpfungen zu benennen. Ironischerweise wird dabei Dions oratio 10 Diogenes oder über die Sklaven nicht einmal erwähnt. Denn genau hier wird Besitz- und Sklavenverzicht mit dem kynischen Ideal der autarkeia verknüpft.

Durch solche Anekdoten können Rezeption und Konstruktion von Idealen bei späteren Philosophen herausgearbeitet werden. Dieses Vorhaben verfolgt Ramelli auch bezüglich der jüdischen Sekten der Therapeuten (S. 82–92). So deutet Euseb im 4. Jahrhundert die Therapeuten als die ersten ägyptischen Christen, die in perfekter Askese miteinander lebten (S. 89–91). Ramelli schreibt: “Philo’s and Eusebius‘ strongly idealized pictures of ascetics clearly entailed also the rejection of slave ownership.“ (S. 61) Richtigerweise aber offenbart der genaue Vergleich der Texte bei Euseb und seiner philonischen Vorlage wichtige Nuancen: Euseb erwähnt nicht die Sklavenlosigkeit der Therapeuten! Euseb gibt eine knappe Zusammenfassung und will sich explizit auf tà charakteristà tês ekklesiastikês agogês beschränken. Die Sklavenlosigkeit war nun mal nicht charakteristisch für die christlichen Gemeinden. Dennoch bleibt mit Ramelli festzuhalten, dass offensichtlich jüdische Ideale im 4. Jahrhundert als mit dem christlichen Lebenswandel übereinstimmend rezipiert wurden. Gerade die Askese, die besondere Bewunderung erfährt, verbindet die jüdische Gruppe mit dem christlichen Ideal. Dazu gehört auch die Ablehnung von Besitz.

Philo und Euseb belegen mit ihren Schilderungen ein „Ideal eines philosophisch asketischen Judentums“, für das in der richtigen Welt nicht wirklich Platz ist.5 „Gelebte“ Sklavereikritik hat in der antiken polis kein Platz, sondern ist wie die Therapeuten oder die monastischen Gemeinschaften räumlich oder zeitlich fernab der Gesellschaft. Dieses Bewusstsein zeigt sich auch in der theologischen Reflexion zur Entstehung der Sklaverei. Ramelli erörtert diese Thematik bei Gregor von Nazianz (S. 215f.). Für Gregor war die Sklaverei ein Resultat des Sündenfalls und somit unmittelbar mit dem Teufel verbunden. Erst durch seinen Einfluss entstand die Trennung der Menschen in Unterdrücker und Unterdrückte. Die Sklaverei ist eine Ungerechtigkeit dieses Zeitalters. Die Idee der freien Schöpfung ist nichts Neues. Gregor steht hier in den Fußstapfen zahlreicher Vorläufer, die von einem Goldenen Zeitalter ohne Ungerechtigkeit und ohne Sklaverei sprachen.

Der gezeichnete Idealzustand ist aber nicht Utopie, sondern Mittel zum Zweck, nämlich der Lehre des christlichen Lebenswandels. Der Idealzustand muss bereits im Hier und Jetzt realisiert werden. Den normativen Charakter der Eschatologie hebt Ramelli immer wieder zurecht hervor. Da gemäß der communis opinio jegliche Statusunterschiede nach dem Tod aufgehoben würden, gilt es, diese Gleichheit und Gerechtigkeit bereits vorwegzunehmen (S. 209). Bezüglich Aphrahat stellt Ramelli fest (S. 140ff.), dass eschatologische Ideale das asketische Ideal diktieren: „anticipation of the eschatological state lies in asceticism, with the renunciation of possessions” (S. 142). Hier zumindest treten christliche Autoren innovativ auf, in dem sie nicht nur eine theoretische Debatte über die Sklaverei führen, nicht nur eine sklavenlose Gemeinde zeitlich oder räumlich an den Rand der Welt projizieren, sondern vielmehr diese Projektionen als Spiegel für den Lebenswandel auf Erden nutzen. Utopie wird hier eindeutig normativ verstanden.

Norm darf aber nicht als Praxis verstanden werden. Ramelli weist darauf hin (S. 121), dass die Sklaverei nach Paulus unverändert weiterbestand. Dasselbe gilt wohlgemerkt für die kappadokischen Ausnahmebischöfe. Auch ihre Forderungen zu strenger Askese, Besitzverzicht und Sklavenfreilassung sind zwar bewundernswerte exempla, nicht aber christlicher Alltag. Die antike Gesellschaft kannte keine praktikable Alternative zur Sklavenarbeit, und somit ist gelebte Sklavereikritik, wie erwähnt, auf einzelne monastische Gruppierungen oder Einzelpersonen beschränkt. Dass in diesen Kreisen die philosophische Askese dominant war und mit ihr die Verurteilung sozialer Ungerechtigkeit einherging, ist die große Erkenntnis aus „Social Justice“. Am stärksten geht dies aus den Kapiteln zu Gregor von Nyssa (Kap. 5–6) sowie zu den Asketen des 4./5. Jahrhunderts (Kap. 7) hervor. Hier ist die Argumentation dank ausgiebiger Quellen am schlüssigsten.

„Social Justice“ erfüllt die Ansprüche dennoch nur partiell: die Verbindung zwischen Askese und Sklavereikritik wird zwar überzeugend dargelegt. Ihr Anspruch, umfassend die Sklavereitheorien zu besprechen, bleibt indes ungenügend erfüllt, was mit der Oberflächlichkeit der Quellenanalyse und mit der mangelnden Auseinandersetzung mit der Forschung zusammenhängt.6

Anmerkungen:
1 Seltsamerweise geht Ramelli trotz Anspruch der Vollständigkeit und trotz Beachtung des Enkratismus nicht auf den Syrer Tatian ein, der laut Clem. Al. Strom. 3,81ff. als Begründer des Enkratismus gilt und ebenfalls eine starke Askese mitsamt Besitzkritik vertrat.
2Syrische Didaskalie §18 resp. die Adaption des Textes in den Apostolischen Konstitutionen IV,9,2. S. dazu Daniel Vaucher, Sklaverei in Norm und Praxis – die frühchristlichen Kirchenordnungen, Hildesheim 2017 (im Druck).
3 S. 48, Anm. 82 wird dabei auf Andrew Erskine, The Hellenistic Stoa: Political Thought and Action, London 1990 verwiesen, der bei den frühen Stoikern eine Sklavereikritik hervorzuheben versuchte. Dies hätte der Autorin jedenfalls in die Hände gespielt. Siehe jedoch auch die massive Kritik an Erskine in Peter Brunt, Studies in Stoicism, Oxford 2013, S. 28–107.
4 Ich teile durchaus die Ansicht Ramellis, dass Dion eine Sonderstellung in der Sklavereikritik der frühen Kaiserzeit einnimmt. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist Ramellis Kapitel zu Dion dennoch bedenklich, und meine Kritik gilt hier pars pro toto für das ganze Buch. Ramelli verweist auf den drei Seiten nebst den Quellenangaben nur auf Nachovs Artikel zum Kynismus des Dion und einleitend auf einen eigenen Artikel (Anm. 190). Eine Auseinandersetzung mit der Forschung findet nicht statt und andere mögliche Ansichten werden nicht einmal erwähnt.
5 Roland Bergmeier, Die Qumran-Essener-Hypothese, Neukirchen-Vluyn 2013, S. 170.
6 Das lässt sich an einem Beispiel belegen: S. 188f. handeln von einer „critical debate“ um Gregor von Nyssa; alles in allem handelt es sich aber nur um ein Argument, das schlicht mit einer Zusammenfassung des Kapitels widerlegt wird. Dabei hätte gerade eine Auseinandersetzung mit der Forschung das Buch wertvoll gemacht. Mehr Gründlichkeit in der wissenschaftlichen Argumentation wäre angebracht gewesen, so exaktere Literaturverweise (statt pauschal auf Titel oder nur auf eigene Artikel zu verweisen!) und genauere Quellenbelege (mangelhaft bsp. S. 122, 136, 170 u.a.). Für die englischsprachige Forschung wäre außerdem eine breitere Wahrnehmung auch der deutschen und französischen Literatur wünschenswert.

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