J. Zarecki: Cicero's Ideal Statesman

Cover
Titel
Cicero's Ideal Statesman in Theory and Practice.


Autor(en)
Zarecki, Jonathan
Erschienen
London 2014: Bloomsbury
Anzahl Seiten
XI, 212 S.
Preis
£ 28.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Michael Braun, Seminar für Alte Geschichte, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

In gewohnt selbstbewusster Manier bezeichnete Ronald Syme Ciceros De re publica (DRP) in einer Fußnote einst lapidar als „a book about which too much has been written“.1 Von diesem harschen Diktum des Oxforder Doyen ließ sich Jonathan Zarecki keinesfalls abhalten. Der Titel der von ihm vorgelegten Dissertation lässt bereits erahnen, dass es dem Autor zwar auch, aber keineswegs nur um eine Betrachtung von DRP geht. Es geht ihm vor allem um einen ganz bestimmten Aspekt, der zwar ein zentraler Bestandteil von Ciceros Schrift ist, aber gleichzeitig über diese hinausgeht: nämlich um Ciceros idealen Staatsmann, den Zarecki mit der lateinischen und in DRP vergleichsweise häufig vorkommenden Bezeichnung rector versieht, wenngleich er sich der dabei vorgenommenen Vereinfachung durchaus bewusst ist und auf mögliche Synonyme (gubernator, conservator, procurator, moderator, auctor) hinweist. Dadurch stattet sich Zarecki mit dem das ganze Buch wie ein roter Faden durchziehenden Analyseinstrument aus: dem „rector-Ideal“. Um die Frage, worum es sich dabei handelt, geht es in der von Zarecki vorgelegten und im Folgenden zu besprechenden Arbeit.

Nach einer kurz gehaltenen Einführung, in welcher der Autor Ziele, Termini und Aufbau der Untersuchung erklärt, ein Forschungsabriss gibt und auch bereits die wichtigsten Thesen und Ergebnisse vorwegnimmt, gliedert sich die Arbeit in fünf Kapitel, denen jeweils eine kurze einführende Passage vorangeht und die jeweils in klar erkennbarer Ordnung in drei oder vier Unterabschnitte unterteilt sind. Während das erste Kapitel eine Einführung in Ciceros philosophische Grundhaltung, den akademischen Skeptizismus, leistet und DRP in dessen philosophischen Kontext einordnet, beschäftigen sich die diachron gestalteten Kapitel 2–5 mit der Interpretation des rector-Ideals.

„The separation of Cicero the politician from Cicero the philosopher is a modern convention” (S. 16). Mit diesen klaren Worten beginnt Zarecki das erste Kapitel und gibt damit den Tenor und Ausgangspunkt seiner Analyse vor, Cicero „simultaneously [as] a philosopher in politics and a politician in philosophy“ (S. 17) zu sehen. Konzise skizziert Zarecki Ciceros philosophische Bildung respektive Erziehung und bezeichnet Cicero als einen philonischen Skeptiker, da er insbesondere von dem der jüngeren Akademie zugewandten Skeptiker Philon von Larissa geprägt worden sei und dessen von ihm vertretene philosophische Methode übernommen habe, ein Thema in utramque partem zu erörtern. Die mit der skeptizistischen Grundierung einhergehende kritische Untersuchung sowie Betonung von provisorischen (ergo theoretisch immer wieder falsifizierbaren) Ergebnissen seien das Fundament von Ciceros (politischer) Philosophie gewesen. Als ein Skeptiker sei er daher jederzeit offen für neue Ideen gewesen, was wiederum essentiell sei, um ein Verständnis für den Abfassungszweck von DRP zu gewinnen. Mit dieser idealtypischen Applikation der philosophischen Methode kommt Zarecki dann zu einem ersten originellen Schluss: In DRP habe Cicero nicht bereits zuvor zu Ende überlegte Lösungsvorschläge zu ‚staatlichen‘ Problemen schriftlich niedergelegt, sondern vielmehr sei die Schrift als eine philosophische Übung anzusehen und damit ergebnisoffen gewesen. Hierbei wäre es interessant gewesen, auch anderen Funktionalisierungen des Skeptizismus nachzugehen – etwa zu fragen, inwiefern die skeptizistische Methode Ciceros rhetorischer Darlegung seiner politischen Linie und also psychagogischen Motiven gedient haben könnte.

Kapitel 2 beleuchtet die politischen Einflüsse der Jahre zwischen 63 und 52, die Zarecki als gestaltgebende Phase zur Abfassung von DRP deutet. Das rector-Ideal sei als Ausdruck dieser Zeit zu verstehen. Als entscheidende Impulse in dieser Phase bewertet Zarecki das Bröckeln der concordia ordinum in den fünf Jahren zwischen Ciceros Konsulat und seinem Exil und das alleinige Konsulat des Pompeius, in dem Zarecki einen nicht unerheblichen Einfluss auf das rector-Ideal sieht. In Pro Sestio und De oratore erkennt Zarecki bereits erste Ansätze zu dem dann in DRP ausgearbeiteten rector-Ideal.

Im dritten Kapitel widmet sich der Autor dann spezifisch seiner Interpretation des rector-Ideals. Indem Zarecki sich weitestgehend der „Heinze-Powell-These“2 anschließt, im rector lediglich das Ideal eines Staatsmannes zu sehen und ganz dezidiert keine neue Magistratur (etwa eine Diktatur, wie des Öfteren vertreten wurde), positioniert er sich klar innerhalb der bisher geleisteten Forschung. Zarecki geht aber noch über die „Heinze-Powell-These“ hinaus, indem er deren Arbeiten dafür kritisiert, in Ciceros Konstrukt des rector keinen praktischen Zweck erkannt zu haben. Denn, so Zarecki: „The theoretical and philosophical facets of the rector do not preclude a functional aspect.” (S. 79) Das rector-Ideal sei in einem ganz bestimmten Sinne als praktisch zu verstehen, so die erklärtermaßen neue These Zareckis: Cicero habe den rector vor allen Dingen für sich selbst kreiert – „Cicero embarked on De re publica because he needed guidance during the breakdown of the Republican constitution” (S. 42). Damit habe Cicero dann einerseits ein Schema gehabt, an dem er seine eigenen politischen Aktivitäten habe orientieren können, und andererseits ein Bewertungsschema, anhand dessen er die mächtigen Individuen wie Pompeius, Caesar und (später) Antonius habe evaluieren und kritisieren können. (Zu einem sehr ähnlichen Ergebnis war bereits Richard Heinze im Jahr 1924 bekommen; was jedoch bei Zarecki an keiner Stelle Erwähnung findet.3) Mit der von Zarecki vorgelegten zentralen These erklärt sich dann auch der Teil des Buchtitels „in theory and [Herv. d. Rezensenten] practice“: „Anwendung“ nicht etwa im Sinne eines politischen Programms, sondern eben primär auf Cicero selbst eingegrenzte ‚Anwendung‘. Wie das rector-Ideal mit Beginn des Bürgerkriegs als „praktische Politik“ wirksam wird, versucht Zarecki insbesondere anhand der für Cicero schwierigen Entscheidungssituation aufzuzeigen, welchem der beiden Anführer der jeweiligen Bürgerkriegspartei er folgen solle (das berühmte ego vero quem fugiam habeo, quem sequar non habeo in Att. 8,7,2). Des Weiteren versucht Zarecki den Bezug zum rector-Ideal an ausgewählten Stellen aus zu dieser Zeit abgefassten Briefen zu belegen. Wenn Cicero in Att. 8,3,3 etwa schreibt, dass Pompeius die bekannten römischen Tugenden sapientia, consilium und auctoritas vermissen lasse, ist das für Zarecki schon ein Indiz dafür, dass Cicero den Feldherrn hierbei speziell anhand des in DRP entworfenen rector-Ideals bewerte. Ähnlich verhält es sich bei einem zweiten Brief (Att. 9,5,2), den Zarecki ebenfalls als Belegquelle hinzuzieht: Daraus, dass Cicero hier temeritas, ignavia und neglegentia als die am stärksten hervorstechenden ‚Tugenden‘ des Pompeius benennt und diese das jeweilige Gegenteil von einigen wichtigen Tugenden des rectorsapientia, virtus und diligentia – darstellten, schlussfolgert Zarecki, dass Cicero hier dezidiert über das rector-Ideal reflektiere. Das sind durchaus mutige Interpretationsansätze, die aber letzten Endes reine Spekulation bleiben. Lediglich Ciceros expliziter Bezug in Att. 8,11,1 auf den im fünften Buch von DRP erwähnten Staatsmann, auf den er alles beziehen wolle (quo referre velimus omnia), ist ein unmissverständlicher Bezug und ein starkes Argument für Zareckis These; er steht allerdings allein auf weiter Flur. Dass das rector-Ideal nicht nur in den letzten Jahren der römischen Republik und zu Beginn des Bürgerkrieges, sondern letztlich bis zu Ciceros Ermordung diesem als Bewertungsschema gedient habe, versucht Zarecki dann in den letzten beiden Kapiteln aufzuzeigen.

Kapitel 4 beschäftigt sich zeitlich mit der Phase von Caesars Autokratie, in der sich Cicero Zarecki zufolge noch stärker dem rector-Ideal verschrieben habe. Zarecki konstatiert, dass die nach Ciceros ‚Exil‘ in Brundisium entstandenen Schriften offenlegten, dass „Cicero must have been contemplating his ideal statesman“, obwohl „specific references to De re publica or the rector-ideal are absent“ (S. 112). Wie in Kapitel 3, behält Zarecki also auch hier seine Methode, überall das rector-Ideal zu suchen und zu finden, bei. Zwei Beispiele aus Pro Marcello, in denen Zarecki Bezüge zum rector-ideal zu sehen glaubt, mögen diese Kritik verdeutlichen. So etwa schreibt Zarecki auf S. 116 – nachdem er noch einmal erklärt, dass sapientia „at the heart of the rector-ideal“ ist: „Cicero refers to Caesar’s sapientia as paene divina (Marc. 1), an echo of the wording used in Rep. 1,45.” Schaut man sich das erklärte Echo in Rep. 1,45 aber genau an, stellt sich heraus, dass hier eine Person (vir) als divinus paene bezeichnet wird. Ähnlich problematisch ist der von Zarecki hergestellte Bezug zwischen Marc. 27 und Rep. 6,12: Wenn Cicero in seiner Rede vor Caesar die Formulierung rem publicam constituas gebraucht, ist das für Zarecki ein klarer Bezug zum somnium Scipionis, weil Cicero die Wendung dort ebenfalls verwendet. Durch die vom rector-Ideal ausgehende deduktive Interpretationsmethode scheint Zarecki in den Sog des von ihm entworfenen heuristischen Instruments zu geraten; man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der geschulte Altphilologe insbesondere bei den in Kapitel 3 und 4 dargelegten Beispielen unbedingt intertextuelle Bezüge zu seinem idealen Staatsmann sehen möchte.

Das fünfte Kapitel widmet sich der letzten Phase von Ciceros politischem Wirken, welche in die Zeit nach Caesars Ermordung fällt. Wie in den in Kapitel 4 behandelten Schriften sieht Zarecki auch in den in dieser Periode abgefassten Schriften ein fortgesetztes Festhalten am rector-Ideal. Während Ciceros philosophische Werke De senectute, De amicitia und De officiis die Theorie des rector-Ideals präsentierten, werde in den Philippicae orationes durch die Schilderung von Antonius als direktem Gegenbild zum rector die Applikation des rector-Ideals manifest. Die scharfsinnig herausgearbeiteten politischen Bezüge in De senectute und De amicitia gehören zu den besten Analyseabschnitten der Arbeit überhaupt. Dagegen wäre in Bezug auf De officiis eine eingehendere Interpretation wünschenswert gewesen; zu fragen wäre hier nämlich, warum in Ciceros wichtigster philosophischer Schrift das rector-Ideal keine Erwähnung findet und hier stattdessen vom vir bonus die Rede ist.

Trotz der angeführten Kritik handelt es sich bei der von Zarecki vorgelegten Arbeit um ein alles in allem lesenswertes Buch, bei dem besonders der gut verständliche, erfrischend klare Stil und die stringente Argumentation hervorzuheben sind. Wer sich neben Zareckis spezieller Interpretation zum rector gleichzeitig auch über die letzte Phase von Ciceros politischer Biographie wie auch der finalen Phase der späten römischen Republik (aus ciceronischer Perspektive) informieren möchte, ist hier gut aufgehoben. Zudem liegt hiermit erstmals seit den 1950er-Jahren wieder eine Abhandlung zu Ciceros rector in Buchlänge vor, und erstmals überhaupt eine englischsprachige Monographie zu dem Thema.4 Ob sich Zareckis These, dass das in DRP ausgearbeitete rector-Ideal „played a central role in Cicero’s life, writings, and politics in the years between 52 and 43” (S. 160), allerdings durchsetzen kann, müssen die nächsten Jahrzehnte zeigen. Bezugnehmend auf das oben vorangestellte Diktum Symes lässt sich auf jeden Fall konstatieren: DRP ist jetzt „a book about which [certainly more] has been written.“

Anmerkungen:
1 Ronald Syme, The Roman revolution, Oxford 1939, S. 144 (Fußnote 1).
2 Darunter versteht Zarecki die beiden in einem Abstand von 70 Jahren erschienenen Arbeiten Richard Heinze, Ciceros Staat als politische Tendenzschrift, Hermes 59 (1924), S. 73–94 und Jonathan G.F. Powell, The rector rei publicae of Cicero’s De Republica, SCI 13 (1994), S. 19–29, deren Interpretation des rector Zarecki als „[t]he most widely accepted explanation“ (S. 78) bezeichnet.
3 Vgl. Heinze, Tendenzschrift, S. 94: „Er hat das ganze Werk nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst geschrieben, um sich eine Richtschnur seines politischen Verhaltens festzulegen, und […] in den kommenden Jahren sich selbst an den Forderungen des eignen Werks geprüft, als an einem Gesetz seines Handelns.“
4 In den 1950er-Jahren erschienen gleich zwei Monographien zu dem Thema: Ettore Lepore, Il principe ciceroniano e gli ideali politici della tarda repubblica, Neapel 1954 sowie (auf Dänisch) Per Krarup, Rector rei publicae: bidrag til fortolkningen af Ciceros De re publica, Kopenhagen 1956.

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