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Titel
Stolpern ist nicht schlimm. Materialien zur Holocaust-Education


Autor(en)
Völkel, Bärbel
Reihe
Geschichte unterrichten
Erschienen
Schwalbach am Taunus 2015: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
111 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hannes Liebrandt, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität

Bärbel Völkels bereits 2015 erschienene Handreichung in der Reihe „Geschichte unterrichten“ soll einen Beitrag zum Fachterminus „Holocaust-Education“ leisten, der nicht unumstritten ist und auf ein Problem rekurriert, welches selbst mehr als 70 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft noch nicht gelöst werden kann: eine inhaltlich fundierte, differenzierte, multiperspektivische und didaktisch reflektierte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Auf diese Divergenz innerhalb der Disziplin weist auch Bärbel Völkel hin, wenn sie bezugnehmend auf den Nationalsozialismus von einem singulären, aber gleichzeitig auch universalen Phänomen spricht (S. 107). Grundsätzlich gilt dies auch für den Titel und somit für die Leitfrage der Handreichung. Die Stolpersteine, die Bärbel Völkel als Erinnerungsnarrativ nutzt und somit den Schülerinnen und Schülern als hauptsächliche Adressaten präsentiert (S. 108–109), sind keineswegs frei von Kritik, geschweige denn flächendeckende Realität in Deutschland und verweisen somit in besonderer Form auf die Indifferenz der Vergangenheitsbewältigung und somit der Holocaust Education.

Und dennoch stehen sie symbolisch für das Leitkonzept der Unterrichtsmaterialien, entlang der drei Referenzpunkte historischer Sinnbildung (Vergangenheitsdeutung, Gegenwartserfahrung, Zukunftserwartung) ein Geschichtsbewusstsein aufzubauen und somit die Relevanz historischer Ereignisse für die eigene Lebenswelt erfahrbar zu machen (S. 108).

Den thematischen Zuschnitt konturiert Bärbel Völkel klar, wenn sie davon spricht, den Weg einer „relativ solidarischen Gemeinschaft“ hin zu einer „Ausgrenzungsgesellschaft“ nachzeichnen zu wollen (S. 104). Die Handreichung ist somit grundsätzlich als Längsschnitt angelegt und thematisiert auch diskursive Elemente der Weimarer Republik, die die Nationalsozialisten schließlich in ihrem perfiden T4-Euthanasieprogramm umsetzten, ohne jedoch die völkischen Denkmuster des ausgehenden Kaiserreichs in ihrer Gesamtheit einzubetten. So möchte Bärbel Völkel richtigerweise den Eindruck vermeiden, Euthanasie und Rassepolitik seien singuläre Phänomene des nationalsozialistischen Deutschlands gewesen. Durch die Berücksichtigung der früheren Diskurse, aber auch der entsprechenden Nachwirkungen der Ideologien bis heute (Entschädigung der Opfer, Xenophobie, Homophobie) wird eine erweiterte Sicht auf die dargestellten Opfergruppen ermöglicht und somit der geschichtsdidaktische Anspruch nach Gegenwartsbezügen sowie multiperspektivischen Zugängen eingehalten. Hierin liegt die klare Stärke des Bandes.

Die Materialien richten sich an Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I und II und beginnen mit einer exponierten Schülerorientierung, indem zunächst eine eigenständige Verortung im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft erwartet wird. Unter dem Titel „Du sollst nicht mehr leben“ schließt eine genauere Betrachtung der Opfergruppen an, die jeweils durch Stolpersteine auf ausgewählte Opfer der Euthanasie, des Antisemitismus, der Homophobie und des Antiziganismus verweisen. Dieser personifizierende Ansatz zieht automatisch eine Emotionalisierung historischen Lernens nach sich; Bärbel Völkel verfällt jedoch erfreulicherweise nur stellenweise in die oftmals obligatorische empathische Ausdrucksweise anderer Handreichungen. Die Darstellungstexte werden durch Aufgabenstellungen ergänzt, die jedoch das ohnehin sehr textlastige Layout nochmals verstärken. Anstatt kurze und prägnante Arbeitsaufträge zu formulieren, die idealerweise unterschiedliche Anforderungsniveaus beinhalten, werden die Fragen durch teils unnötige, teils ausschweifende Bemerkungen überladen.

Im Anschluss an die Kurzportraits folgen sechs Themenfelder, die im Grunde auf die Kernthemen Euthanasie und Rassismus verweisen, jedoch auf den ersten Blick redundant oder zumindest schwer voneinander abgrenzbar wirken. Zwar greifen die einzelnen Themenfelder ineinander, doch kann die Einsicht in den sachlogischen Aufbau auf Schülerseite bezweifelt werden. Eine Verdichtung der Themen sowie eine deutlichere Kategorienzuschreibung durch den Verweis auf einschlägige Begriffe (z.B. Rassismus – Eugenik – Euthanasie) würden den Aufbau für Schülerinnen und Schüler nachvollziehbarer erscheinen. Dies gilt ebenso für das vorangestellte Inhaltsverzeichnis, welches durch verschiedene Kapitelüberschriften an Format gewonnen hätte.

Zwar erklärt Bärbel Völkel deutlich und nachvollziehbar, weshalb der Fokus in diesen Kapiteln auf Darstellungstexten und weniger auf der Quellenarbeit liegt, doch kann dieser Argumentation nur bedingt gefolgt werden. Auffallend ist doch der überproportionale Anteil an Texten (Darstellungstexte, Quellentexte, Arbeitsaufträge). Auch wenn die Auswahl hier keineswegs in Abrede gestellt wird, so kann das Material überfrachtet und demotivierend wirken. Bildquellen, die für die Themenfelder vielfältige didaktische Möglichkeiten bieten, werden meist nur zur Illustration verwendet. Die Hauptaufgabe der Schülerinnen und Schüler liegt im Rezipieren der Texte, genauer genommen der zahlreichen Darstellungstexte, die nur limitierte methodische Zugänge bieten. Diese sind schülergerecht formuliert – wenn auch aufgrund der inhaltlichen Dichte eher für Sekundarstufe II – beinhalten aber auch zahlreiche Fachtermini sowie Informationen, die zur grundlegenden Kompetenzentwicklung bei den Schülerinnen und Schülern beitragen können (S. 109).

Die nachfolgenden Materialien führen weiter über die zeitlichen Kategorien „Kontinuität und Wandel“ (S. 58–59). Den Schülerinnen und Schülern soll hiermit verdeutlich werden, dass Geschichte dynamisch und fortlaufend ist und dass trotz politischer Umwälzungen Ideologien überdauern können. Bärbel Völkel greift hier bewusst Klaus Bergmanns Verständnis von Gegenwartsbezügen auf und zeigt in den nachfolgenden Kapiteln Ursachenzusammenhänge, die erklären, weshalb Antisemitismus (S. 59f.), Antiziganismus (S. 63f.), Biopolitik (S. 70f.), Homophobie (S. 78f.), Rassismus (S. 84f.) sowie Vorurteile gegen angebliche „Asoziale“ (S. 90f.) noch heute gesellschaftliche Problemfelder darstellen. In diesen Kapiteln nehmen Komplexität und Tiefe deutlich zu, und Bärbel Völkel bietet hier wissenschaftsorientierte Stellungnahmen, Zitate, Fallanalysen, Rechtsfälle sowie Gesetztestexte als Arbeitsmaterialien an. Das grundlegende Problem bleibt jedoch: Diese insgesamt 40 Seiten umfassenden Materialseiten bestehen fast ausschließlich aus Texten. Die Bildquellenarbeit oder gar andere handlungsorientierte Zugänge fehlen fast vollständig. Die Begründung für die hauptsächliche Verwendung von Darstellungstexten liefert Bärbel Völkel selbst. So seien Schülerinnen und Schüler meist nicht in der Lage, „wie […] Historiker zu denken, zu lesen, zu arbeiten, zu reflektieren“ (S. 109). Sie erkennt in der Quellenarbeit gar eine „profunde[n] Komplexitätsreduktion“ (S. 110). Dies mag zutreffen, wenn Quellen kontinuierlich in gekürzter Form wiedergegeben werden und nur Textquellen als Referenzpunkte gelten. Bildquellen sind davon meist ausgenommen, und grundsätzlich stellt sich die Frage, ob das angebliche Defizit der Schülerinnen und Schüler bei der Quellenarbeit nicht auch das Ergebnis einer (unzulässigen) Vernachlässigung in solchen Handreichungen oder im Schulunterricht darstellt.

Den Abschluss des Arbeitsteils bilden zwei Kapitel „Willkommen zurück!“ (S. 97) und „Wo stehe ich jetzt?“ (S. 98). Hier soll idealerweise der Erkenntniszugewinn der Schülerinnen und Schüler durch die Skizze eigener Handlungsdispositionen verdeutlicht werden. Bärbel Völkel präsentiert die Zielgruppe hier als Akteure und Multiplikatoren der Gesellschaft und schärft das Problembewusstsein durch die ihnen zugetragene Verantwortung in einer heterogenen und pluralen Gemeinschaft.

Insgesamt bietet Bärbel Völkel mit ihrem Band ein reichhaltiges Angebot an Darstellungstexten zu Ausgrenzungsphänomenen während des Nationalsozialismus. Eine ganzheitliche Berücksichtigung der Materialien im Schulunterricht ist bereits aufgrund des Umfangs, aber vor allem aufgrund des textlastigen Layouts nicht zu empfehlen. Die dargestellten Querverweise und Anregungen können den Denkhorizont erweitern, je nach Klassen- und Schulsituation jedoch auch zu Irritationen und Überfrachtungen führen. Grundsätzlich müssen eine bedarfsgerechte Auswahl der Materialien erfolgen und gegebenenfalls zielgerichtete Arbeitsaufträge eigenständig formuliert werden. Wenn diese Aspekte berücksichtigt werden, können die Arbeitsmaterialien multiperspektivische und inhaltlich fundierte Zugänge eröffnen – sofern andere Medien der Geschichtsvermittlung und insbesondere weitere Quellen ebenso eingebettet werden. Sinnvolle Ergänzungen können beispielsweise die Materialien und Arbeitsblätter für den Schulunterricht sein, die meist über die jeweiligen Landeszentralen für politische Bildung kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Insbesondere zu Themen der Euthanasie können regionalgeschichtliche Aspekte und Besonderheiten in einer generellen Publikation wie derjenigen von Bärbel Völkel kaum dargestellt werden. Ebenso bieten zahlreiche Gedenkstätten und Dokumentationszentren und damit vormalige „Täterorte“ didaktisch reflektierte Materialien an, die punktuelle Schwerpunkte setzen und somit exemplarisches Lernen ermöglichen. Die Schwierigkeit liegt eher darin, eine entsprechende Auswahl zu treffen, weshalb die vorliegende Publikation zur ersten Orientierung sehr hilfreich sein kann.

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