K. Wetterau: 68 – Täterkinder und Rebellen

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Titel
68 – Täterkinder und Rebellen. Familienroman einer Revolte


Autor(en)
Wetterau, Karin
Erschienen
Bielefeld 2017: Aisthesis Verlag
Anzahl Seiten
326 S., div. Abb.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlef Siegfried, Department of English, Germanics and Romance Studies, Universität Kopenhagen

In den vergangenen Jahren sind erneut die Vergangenheitsbindungen der „68er“ beleuchtet worden, wie sie schon in der Hitze des Gefechts der Revolte selbst und auch in den Jahren danach immer wieder thematisiert worden waren. Inzwischen gehen einzelne frühere Akteure der Studentenbewegung voran, wenn es darum geht, den Aufbruch in eine direkte Analogie zum Nationalsozialismus zu stellen, siehe Götz Alys Buch „Unser Kampf“ von 2008. Einzelne biografische Entwicklungen vom Links- zum Rechtsradikalismus scheinen derartige Analogien zu bestätigen, etwa das Engagement Horst Mahlers und Bernd Rabehls für die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD). Derartige Debatten und biografische Verläufe sind es, die die Autorin des hier vorzustellenden Buches um 2008 herum veranlasst haben, mit Hilfe eines kollektivbiografischen Ansatzes genauer nach verdeckten Verbindungslinien zwischen nationalsozialistischer Sozialisation, Kriegskindheit und radikalem politischen Engagement seit den späten 1960er-Jahren zu forschen. Motiv ist hier allerdings nicht Denunziation, sondern kritische Selbstbefragung.

Die Autorin ist selbst „68erin“, sie hält das rechtsradikale Engagement einzelner früherer Genossen für wahnwitzig und stellt sich auch gegen Alys oder Wolfgang Kraushaars Thesen, „die Rechtsradikalisierung Einzelner sei ein Indiz für den rechten Subtext im linken Diskurs und ein Beleg für die Janusköpfigkeit der politischen Extreme nach dem Motto ‚Rot gleich Braun’“, die sie „weit überzogen“ findet (S. 15f.). Stattdessen ist sie einer differenzierteren Wahrheit auf der Spur und setzt sich ernsthaft mit den Folgewirkungen familiärer NS-Bindungen, der Rolle der Nation in Ideologie und politischem Programm sowie autoritären Tendenzen im Umfeld des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) auseinander.

Für ihre Studie hat sie 19 ehemalige Aktivistinnen und Aktivisten aus dem West-Berliner SDS befragt – darunter viel Prominenz: Christian Semler, Tilman Fichter, Helke Sander, Susanne Schunter-Kleemann, Klaus Hartung –, ergänzt durch weitere Zeitzeugenaussagen etwa aus Heinz Budes Buch von 1997 und anderen Veröffentlichungen.1 Karin Wetterau hat Informanten befragt, die sie in ihren Jahren als aktive SDSlerin in West-Berlin kennengelernt hat, außerdem mit Mahler (er zog seine Beteiligung später zurück) und Rabehl zwei der „Rechtsabweichler“ sowie die Riege derer, die sich 1999 in einer Erklärung „Nationalisten waren wir nie!“ gegen sie gestellt hatten. Dadurch ist das Spektrum der Meinungen teilweise präformiert: Überrepräsentiert sind diejenigen, die sich in dieser Frage besonders engagiert geäußert haben, während die SDS-Normaldimension jenseits der Führungsriegen und der heute noch Bekannten unterbelichtet bleibt.

Bei Sigmund Freud leiht sich die Autorin den Begriff des „Familienromans“, um die im Ablösungsprozess von den Eltern von imaginären Versatzstücken durchformte Wahrnehmung der jeweils individuellen Familiengeschichten der Akteure von „1968“ in das Zentrum zu rücken. Das Spektrum der Anleihen auf der mittleren Abstraktionsebene erstreckt sich von Harald Welzer über Aleida Assmann und Sabine Bode bis hin zu Jürgen Reulecke – allesamt besonders interessiert an Sozialisationsphänomen wie Kriegskindheit oder Vaterlosigkeit, aber auch an exkulpierenden Familiennarrativen im Hinblick auf das Tun und Lassen der Älteren im „Dritten Reich“.

Das Gelände wird in sieben Schritten durchmustert, und zwar indem allgemeinere Entwicklungen mit den jeweils passenden Aussagen der Interviewpartner kontrastiert werden. Nach einem Aufriss zur erinnerungskulturellen Lage in den vergangenen zehn Jahren rekonstruiert Wetterau Strukturelemente der Kriegskindheit, um im dritten Kapitel – es ist mit über 100 Seiten das bei weitem längste des Buches – den „Nationalsozialismus als unbewältigte Familiengeschichte“ zu diskutieren. Das vierte Kapitel thematisiert eine „doppelte Vergegenwärtigung des Vergangenen“ – gemeint ist eine Gleichzeitigkeit, in die sie die Auseinandersetzung mit der historischen Realität des Nationalsozialismus und die Konfrontation mit Polizei und Justizapparat setzt. Die letzten drei Kapitel lassen die euphorische Hochzeit der Studentenbewegung Revue passieren, untersuchen zwei aus Sicht der Autorin problematische Themenfelder – die Rolle der Nation und einen „linken Antisemitismus“ – und skizzieren schließlich zwei als gegenläufig konstruierte Aspekte der Nachgeschichte aus den 1970er-Jahren, die K-Gruppen und die feministische Bewegung.

Zu den wichtigsten Resultaten der Studie gehört die Erkenntnis, dass die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht im Zentrum der Revolte stand, sondern „zur Vorgeschichte von 68“ (S. 23) gehörte. Im Gespräch mit ihren früheren Genossinnen und Genossen findet die Autorin heraus, dass diese bei allen Verdiensten um die NS-Bearbeitung nach 1968 „im Privaten“ an der Konstruktion eines „Familienalbums“ mitgewirkt haben, das „viele Unschärfen“ enthält (S. 85). In den hier zusammengetragenen Erzählungen über die Familiengeschichten zeigt sich, dass die Einen es genau wissen wollten und schon in den 1960er-Jahren hartnäckig nach der Vergangenheit von Vätern oder Großvätern fragten – bei manchen kam es zum Bruch, der ein Leben lang andauerte –, andere hingegen die Auseinandersetzung scheuten. Wieder andere erkannten eine Adaption von „Sekundärtugenden“ wie „Härte“ oder „Zähigkeit“ (S. 110) bei sich selbst, die sie theoretisch zu verstehen suchten, indem sie sich etwa mit den Strukturen der bürgerlichen Familie beschäftigten. Oder sie versuchten, derartige Kontinuitäten gemeinschaftlich in Kommunen zu eliminieren. Handelt es sich dabei um „Verdrängungen“, die die konkrete Auseinandersetzung vermeiden sollten? „Gerade die Diskrepanz zwischen verstörendem Wissen um die NS-Verbrechen und dem emotionalen Bedürfnis der Nachgeborenen nach Zugehörigkeit und Loyalität erzeugt unterschwellig die Ambivalenz von Fixierung und Fluchtreflex, die in der Konzentration auf ‚ganz andere Themen’ vorübergehend einen Ausweg findet.“ – so die Autorin (S. 115). Hier wird es psychologisch spekulativ, wie so manches Mal in den Analysen, aber das ausgebreitete Material, bei dem Wetterau ausführlich auch ihren Umgang mit der eigenen Familiengeschichte preisgibt, ist schon überaus spannend.

Überhaupt könnte aus wissenschaftlicher Perspektive einiges kritisiert werden. Karin Wetterau ist selbstkritisch und ernsthaft um Verständnis bemüht, aber ihre Reise verliert oft den Faden des „Familienromans“ und mäandert in die unterschiedlichsten Richtungen, nicht selten monologisch. Diskussionen begrifflicher Grundlagen finden kaum statt – der in den letzten Jahren intensiv einer kritischen Betrachtung unterzogene und hier viel gebrauchte Terminus der „Generation“ etwa wird nicht weiter reflektiert. Zeitzeugenaussagen werden mitunter sehr kritisch seziert, oftmals aber auch affirmativ als Realbeschreibungen oder analytisch triftig hingenommen, wobei die Sympathien unterschiedlich verteilt sind. Während Rabehl, dem Wetterau übermäßig viel Aufmerksamkeit widmet, als cholerischer Widerling erscheint, werden Rüdiger Safranskis oftmals kühne, aber durch griffige Formulierungen vordergründig beeindruckende Thesen als Wahrheiten genommen. So gibt sich die Autorin in einer Reflexion über den Begriff der „Revolution“ mit dessen Einfall zufrieden, es handele sich dabei um „eine religiöse Kategorie“, die auf ein „innere[s] Erweckungserlebnis“ des Einzelnen hinauslaufe (S. 207).

Doch mit wissenschaftlichen Kriterien allein wird man diesem Buch nicht gerecht. Denn es handelt sich im Kern um die Reflexion einer Autorin über das eigene Tun und Lassen, eingebettet in die zeitgeschichtliche Rolle ihrer „Generation“ und abgefedert durch Aussagen der auf ihrer Seite beteiligten Zeitgenossen. Ihr Wert auch für die historische Forschung besteht darin, dieser auto- und kollektivbiografischen Spuren- und Identitätssuche beizuwohnen und zu verfolgen, wie sich die Akteure im Blick von heute einen Reim auf Zusammenhänge machen, die die meisten von ihnen als problematisch betrachten. Insofern kann man es als ein analytisches Buch über „1968“ lesen, aber mehr noch als eine Quelle zur erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Dimension von „1968“ aus der Sicht früherer Akteure. Diese zweite Lesart macht auch deutlich, dass es heute, 50 Jahre nach „1968“, in deren Reihen viele Stimmen gibt, denen schlichte Selbstdenunziation nicht genügt, sondern die sich um eine differenzierte Auseinandersetzung mit besonders schwierigen Aspekten des eigenen Tuns bemühen. Das ist nach Götz Alys einseitiger Interpretation und der Scheinevidenz von Mahlers und Rabehls Lebenswegen zweifellos ein Fortschritt.

Anmerkung:
1 Heinz Bude, Das Altern einer Generation, Frankfurt am Main 1997.

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