G. Feindt u.a. (Hrsg.): Kulturelle Souveränität

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Titel
Kulturelle Souveränität. Politische Deutungs- und Handlungsmacht jenseits des Staates im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Feindt, Gregor; Gißibl, Bernhard; Paulmann, Johannes
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz – Beihefte 112
Erschienen
Göttingen 2017: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Gehrig, Department of Humanities, University of Roehampton

In Zeiten politischer Slogans wie „Take Back Control“ und „Make America Great Again“ ist die Frage politischer Souveränität wieder ins Zentrum politischer Debatten gerückt. Dabei sind die Diskussionen um den britischen Austritt aus der Europäischen Union und die Stärkung nationalistischer Positionen nach der Wahl Donald J. Trumps zum amerikanischen Präsidenten sowie der Kampf um die Unabhängigkeit Kataloniens – um nur einige aktuelle Beispiele zu nennen – auch Ausdruck kultureller Kämpfe und Neubestimmungsversuche nationaler Identität. Der von Gregor Feindt, Bernhard Gißibl und Johannes Paulmann herausgegebene Band nimmt in acht Beiträgen „kulturelle Souveränität“ zum Ausgangspunkt historischer Untersuchungen „politischer Deutungs- und Handlungsmacht jenseits des Staates“. Die versammelten Texte deuten auf ein historisches Phänomen hin, das der Londoner Historiker Jon Wilson, basierend auf seiner Arbeit zum Kolonialismus in Indien und zu britischer imperialer Souveränität, im Kontext des Brexit hervorgehoben hat: Rekurse auf die Verteidigung, Wiederherstellung oder Erlangung von Souveränität sind oftmals Zeichen gesellschaftlicher Verunsicherung in Krisenzeiten.1

Die Herausgeber definieren den Begriff „kulturelle Souveränität“ in ihrer Einleitung als heuristisches Konzept, das seinen „intellektuellen Reiz aus der auf den ersten Blick paradoxen Kopplung von Kultur und Souveränität“ gewinne (S. 31). Die zentrale Frage der Beiträge des aus Diskussionen am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) in Mainz entstandenen Bandes lautet (ebd.): „Was passiert, wenn man das fluide, prozesshafte und hybride Verständnis von Kultur der neueren kulturwissenschaftlichen Forschung in Bezug setzt zum häufig monolithisch verstandenen und mit klaren Grenzziehungen verbundenen Begriff der Souveränität?“ Das Konzept der Souveränität hat in der Tat seit Beginn seiner Karriere vor allem im Feld der politischen Theorie und Staatsrechtslehre eine Aura des Absoluten erlangt.2 Die Herausgeber formulieren dagegen ein flexibleres Verständnis von „kultureller Souveränität“; ihr Interesse gilt einem „Feld konkurrierender und widersprechender, aufeinander bezogener Ansprüche und Praktiken, das von der Auseinandersetzung um staatliche Befugnisse bis hin zur Forderung nach Selbstbestimmung und Entscheidungsmacht verschiedener sozialer Akteure reichen konnte“ (S. 32). Diesem Forschungsprogramm folgen die Beiträge in drei thematischen Sektionen.

Das Kapitel „Nationale Selbstentwürfe“ vereint Aufsätze zur Entstehung der „Katalonienfrage“ als Teil des Zerfalls spanischer imperialer Herrschaft im frühen 20. Jahrhundert, zu Minderheitenidentitäten am Beispiel jüdischer Gemeinschaften während des Ersten Weltkriegs und zu industriellen Utopien in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit. Im ersten Beitrag „Postimperiale Selbstbehauptung zwischen Nation und Region“ untersucht Jorge Luengo die „Katalonienfrage“, die 2017 mit für viele Beobachter überraschender Kraft erneut aufgebrochen ist, als Teil des Übergangs von imperialer zu nationalstaatlicher Souveränität. Inspiriert von anthropologischen Ansätzen hebt Luengo die Bedeutung kultureller Praktiken und Diskurse als Kern des Konflikts zwischen Katalonien und der spanischen Regierung seit dem Verlust des Kolonialreiches 1898 hervor. In der Krise des Umbaus des spanischen Kolonialreichs in einen Nationalstaat der „geteilten Souveränität“ kam es dabei nicht nur zur Ausprägung eines katalanischen, sondern auch eines kastilischen Nationalgefühls, das kulturelle Differenz zum Ausgangspunkt der Konflikte um spanische Souveränität und katalanische Autonomie machte. Über die spanischen Grenzen hinweg fanden Auseinandersetzungen um Selbstbestimmung innerhalb und außerhalb Europas alsbald im „Wilsonian Moment“ einen ersten Kulminationspunkt.3 Der Frage geteilter Loyalitätsbezüge als Element dieses Umbruchs zu Beginn des 20. Jahrhunderts geht Sarah Panter in ihrem Beitrag „Zwischen Nationalstaat und multiethnischem Empire“ nach. Ihr vergleichender Text zu Deutungskämpfen um „eine adäquate Definition des Jüdischseins“ in Deutschland, Österreich und Großbritannien nutzt das Konzept der „kulturellen Souveränität“ als „Sonde für konkurrierende, teils aber auch überlappende Mittel, Ziele und Zielprojektionen“ (S. 83f.). Panter hebt die zentrale Bedeutung von „mental maps“ für die Verhandlung von Souveränität im Bereich individueller religiöser und nationaler Identität und die Vielschichtigkeit jüdischer Selbstverständnisse sowie die Pluralität kultureller Souveränitätsvorstellungen in der fluiden Situation des Ersten Weltkriegs hervor. Gregor Feindt wendet sich im dritten Beitrag „Eine ‚ideale Industriestadt’ für ‚neue tschechische Menschen’“ der Industriekultur am Beispiel des Schuhkonzerns Bat’a und der Stadt Zlín zu. Der Autor fragt dabei weniger nach der „unternehmerischen[n] Dispositionsfreiheit des Konzerns“, sondern nach geteilten Souveränitäten und dem Anspruch des Unternehmens zur „Durchherrschung der Stadt“ in Analogie zum Staat (S. 110). Damit eröffnet das Kapitel über das engere Thema hinaus interessante Fragen nach historischen Entwicklungslinien von der Zwischenkriegszeit zu unserer gegenwärtigen Debatte über die Macht globaler Konzerne und deren Anspruch auf wirtschaftliche Handlungsfreiheit.

Die zweite Sektion „Religion und Selbstbehauptung“ beginnt mit einem Beitrag von Manfred Sing über „Pharaonische Hochkultur und islamischer Niedergang“, der kulturelle Souveränitätsvorstellungen im Kontext der Loslösung Ägyptens von den osmanischen und britischen Kolonialreichen untersucht. Sing hebt die internen Differenzen zwischen ägyptischen Intellektuellen hervor, die durch ein besseres Verständnis eines diagnostizierten „Niedergangs des Islams“ neue Kräfte zur Erringung kultureller und politischer Selbstbestimmung gesucht hätten. John Carter Woods’ Aufsatz wendet sich Ideen religiöser Intellektueller mit dem Ziel einer „christlichen Gesellschaft“ im Großbritannien der Jahre 1937–1949 zu. Die Arbeit des Oldham-Kreises, der im Mittelpunkt des Beitrags steht, kreiste um die Suche nach einer Modernisierung christlichen Glaubens in der geistigen Krise nach dem Ersten Weltkrieg. Woods betont dabei vor allem die historische Wandlung von Kulturdefinitionen und deren Einfluss auf Souveränitätsentwürfe. Der letzte Beitrag der Sektion, verfasst von Urszula Pękala, weitet die Perspektive auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und untersucht Ansprüche der katholischen Kirche in Polen auf religiöse Mitsprache in der Definition kultureller Souveränität. Im deutsch-polnischen Versöhnungsprozess seit 1965 sieht Pękala den durchaus erfolgreichen Versuch des polnischen Episkopats, kulturell-religiöse Souveränität zu demonstrieren (S. 223).

Die letzte Sektion „Kultur als internationale Ressource“ lenkt den Blick auf die Mediendiplomatie der beiden deutschen Staaten und auf das Kulturprogramm der UNESCO im Kalten Krieg. Bernhard Gißibls Aufsatz „Deutsch-deutsche Nachrichtenwelten“ fragt nach der Rolle staatlicher Medien im Rahmen der Konflikte um die Teilung Deutschlands sowie rivalisierender west- und ostdeutscher Ansprüche, die Souveränität Deutschlands international zu repräsentieren. Gißibl argumentiert, dass Medienorganisationen wie die Deutsche Presseagentur (dpa) und der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) selbst „als Institution und außenpolitischer Akteur ernst zu nehmen“ seien (S. 234). Damit wirft der Beitrag im engeren Sinne ein erhellendes Licht auf die Geschichte von Nachrichtenagenturen im Kalten Krieg, wobei der Verfasser die stringente Liberalisierung der westdeutschen Massenmedien im internationalen Rahmen in Frage stellt. Im weiteren Sinne beleuchtet der Beitrag Vorläufer unserer derzeitigen Debatte um „fake news“, journalistische Unabhängigkeit und die internationale Propagierung politisch motivierter Souveränitätsverständnisse durch Medien im Internetzeitalter. Der abschließende Aufsatz von Andrea Rehling mit dem Titel „Materielles Kultur- und Naturerbe als Objekt und Ressource kultureller Souveränitätsansprüche“ verfolgt Rechtspluralismen im internationalen Raum, bezogen auf das 1972 gestartete UNESCO-Welterbe-Programm. Rehling verortet dieses Programm im Kontext der UN-Menschenrechtskonvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966. Das Spannungsverhältnis zwischen staatlichen Souveränitätsansprüchen und Privateigentum, das bei Fragen des Kulturerbes immer wieder im Vordergrund steht, deutet nochmals auf die Pluralisierung und Ausdifferenzierung von Souveränitäts- und Selbstbestimmungskonzepten im Laufe des 20. Jahrhundert hin – ausgehend von Kollektivideen wie Nation, Staat, Ethnizität und Religion zu einer stärkeren Berücksichtigung individueller Souveränitätsrechte. Rehling arbeitet heraus, wie das internationalistisch und universell konzeptualisierte Welterbe-Programm Teil der Konflikte um internationale kulturelle Dominanz wurde und „seit 2000 zu einem Symbol vermeintlich westlicher Hoheitsansprüche über kulturelle Identitäten und kulturelle Souveränitätsrechte geworden ist“ (S. 282).

Der Sammelband bietet gewinnbringende Perspektiven auf die Vielfalt kultureller Souveränitätsentwürfe im 20. Jahrhundert. Die einzelnen Texte liefern dezidiert unterschiedliche Zugänge zum Thema. Wie im Falle von Sammelbänden üblich, wären sicher noch viele ergänzende Beiträge oder anders ausgewählte Fallbeispiele denkbar gewesen. Da sich die Einleitung der Herausgeber auf verschiedene disziplinäre Zugänge zum Konzept der Souveränität konzentriert und der Band dennoch einen ausdrücklich historischen Zugang in der Untersuchung „kultureller Souveränität“ verfolgt, wäre ein Epilog wünschenswert gewesen, der die Transformationen von Souveränitätsentwürfen im 20. Jahrhundert in ein epochenübergreifendes Panorama eingeordnet, weitergehend nach Gegenwartsbezügen gefragt und die einzelnen Kapitel noch enger zusammengebunden hätte. Dies hätte es möglicherweise auch erlaubt, Souveränitätsentwürfe „jenseits des Staates“ – so im Untertitel des Bandes – mit der Pluralität staatlicher Souveränitätsentwürfe zu kombinieren. Denn die Fallstudien zeigen gerade, dass beides noch stärker im Zusammenhang zu betrachten wäre. Der Band schlägt nichtsdestotrotz wichtige Schneisen in die Geschichte und politische Instrumentalisierung von Souveränitätskonzepten und Rhetoriken der Selbstbestimmung, die mit dem Niedergang europäischer Kolonialreiche und dem rasanten Aufstieg souveräner Nationalstaaten ihre weltweite Ausbreitung fanden. Ein besseres Verständnis individueller, ethnischer, religiöser, kultureller und politischer Souveränitätsentwürfe und deren historischer Entwicklung ist in unseren unruhigen Zeiten sicher wünschenswert. Hierfür gibt der Sammelband einen interessanten und wichtigen Impuls.

Anmerkungen:
1 Jon Wilson, Total sovereignty is a dangerous myth which has led many British leaders to ruin, in: The Telegraph (online), 10.06.2016, http://www.telegraph.co.uk/news/2016/06/10/total-sovereignty-is-a-dangerous-myth-which-has-led-many-british/ (05.01.2018).
2 Jens Bartelson, On the Indivisibility of Sovereignty, in: Republics of Letters 2 (2011), Issue 2, S. 85–94, http://arcade.stanford.edu/rofl/indivisibility-sovereignty (05.01.2018).
3 Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 2007.