Cover
Titel
War beyond Words. Languages of Remembrance from the Great War to the Present


Autor(en)
Winter, Jay
Erschienen
Anzahl Seiten
XXII, 234 S., 80 Abb.
Preis
£ 24.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Wahl, Institut für Geschichte der Medizin, Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

Jay Winter, Charles J. Stille Professor of History Emeritus an der Yale University, ist innerhalb der Geschichtswissenschaft eine der wichtigsten Figuren der seit rund drei Jahrzehnten boomenden interdisziplinären Memory Studies. Neben Aleida und Jan Assmann hat er maßgebend zu den heute gängigen Begriffen und Definitionen und damit zu der generellen Etablierung des Feldes beigetragen. So hat er nicht nur der Geschichtswissenschaft, sondern auch der westlichen Erinnerungskultur1 einen entscheidenden Baustein zum Umgang mit psychischen und physischen Leiderfahrungen von Soldaten, Familien und Gesellschaften vor allem infolge des Ersten Weltkrieges geliefert.2

In seinem kürzlich erschienenen Buch „War beyond Words“ führt Winter seine zahlreichen Studien zu Erinnerungspraktiken fort, zieht eine Bilanz und untermauert die Hauptthese „language frames memory“ (S. 2), indem er die seit 1914 entstandenen Medien des Gedenkens an Kriege und deren Opfer bearbeitet. Im ersten Teil des Buches („Vectors of Memory“) bespricht er Gemälde und Skulpturen als wichtige Träger und Mahnmale des Gedenkens, das Fotografieren und Filmen als moderne Praktiken der Erinnerung im 20. Jahrhundert sowie das Schreiben als Medium der Sprache im kulturellen Kontext des Gedenkens. Im zweiten Teil („Frameworks of Memory“) betrachtet er die Auswirkungen der kulturellen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen auf die Erinnerung anhand der unterschiedlichen Bewertungen von Märtyrertum, der Architektur und Layouts von Monumenten, schließlich des Schweigens der Staaten oder betroffenen Individuen und Gruppen über „Shell Shock“.

Mehrmals unterstreicht Winter die Wirkungsmacht von „language“ als (non)kommunikatives Medium für Erinnerungen, welche immer eine retrospektive Konstruktion und niemals eine unmittelbare Wirklichkeit darstellen. Anhand der einflussreichen Werke von Otto Dix, Pablo Picasso und Anselm Kiefer erläutert er die Entwicklung der Darstellung und nonverbalen Vermittlung von Krieg und kommt in seiner vergleichenden Analyse zu dem Schluss, dass die künstlerische Reaktion auf die Shoah im Gegensatz zu den künstlerischen Antworten auf das Massensterben in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges eine „strategy of effacement“ (S. 22) gewesen sei. Winter argumentiert, dass Kiefer, Gerhard Richter und andere Künstler die Dimensionen und das „Unvorstellbare“ des Nazi-Terrors mit der Reduktion auf ein Gesicht nicht hätten erfassen können und sich daher für unscharfe oder symbolische Repräsentationen entschieden hätten.

Die Möglichkeit des Fotografierens durch „einfache Soldaten“ seit dem Ersten Weltkrieg glich einer Revolution. Winter beschreibt, wie die für jedermann erschwingliche Taschenkamera von Kodak und der daraufhin einsetzende „dark tourism“ (S. 42) eine neue Dimension der Darstellung des Krieges eröffneten. Über die Wahl von Motiven, wie das Beladen eines Wagens mit den Gefallenen der vorangegangenen Schlacht (S. 44ff.), aber auch anhand der Auswahl und Nutzung von fremden Fotos zur eigenen Lebensnarration nach dem Krieg kann Winter in diesem Kapitel wichtige Einblicke in die noch immer zu wenig genutzte Quellengattung der Soldatenfotografie geben.

Aber auch das Medium Film brachte neue Möglichkeiten der Darstellung und Verbreitung des Kriegsgeschehens. Winter unterteilt die Entwicklung des Filmes in drei Etappen: die Stummfilm-Phase (ca. 1900–1930), die realistische und heroische Phase (1933–1970) sowie die Phase asymmetrischer Kriege (seit 1970). Mit der Analyse ausgewählter, die Epochen prägender Filme zeigt Winter die sich unterschiedlich herauskristallisierenden Kriegsdarstellungen, welche er unter den Leitbegriffen „cinema of indirection or metaphor“ und „cinema of spectacle or metonym“ gegenüberstellt (S. 76). In diesem Zusammenhang erläutert er, wie der Ton die Repräsentation des Krieges für Filme erschwert hat, welche dadurch eher der Tendenz zum Voyeurismus erliegen. Stummfilme hingegen regten die Phantasie der Zuschauer an: „Stop the sound and terror is one of the elements of the story that rushes to the surface.“ (S. 89) Trotz dieser – teils auch subjektiven – Anmerkung beschränkt sich Winter darauf, die Entscheidungen der Filmproduzenten nachzuvollziehen, welche künstlerischen und technischen Mittel sie für die Darstellung von Krieg gewählt haben – und mit welcher Intention. Eine umfassende Rezeptionsgeschichte des Genres Kriegsfilm zu schreiben bleibt jedoch die Aufgabe einer neuen Generation von HistorikerInnen der Memory Studies.

Mit Hilfe des methodisch nicht ganz unproblematischen Google Ngram Viewer etabliert Winter eine statistische Analyse zur Nutzung von Wörtern wie „Dienst“, „Ehre“, „Ruhm“ oder „Tapferkeit“ (bzw. von entsprechenden englischen und französischen Begriffen) in der englischen, französischen und deutschen Literatur zwischen den Jahren 1800 und 2000. So nähert er sich dem Schreiben über Krieg in unterschiedlichen westeuropäischen Ländern. Er beschreibt Sprache sowie die Konnotationen und Nutzungen von bestimmten Wörtern als „national resource“ (S. 113), da diese im jeweiligen nationalen Kontext durch Geschichte, Erinnerungen, Musik und andere Komponenten ihren Bedeutungsgehalt entwickelt haben. Ein solcher, die Historische Semantik mit der Linguistik verknüpfender Ansatz und generell die Offenheit Winters, „über den Tellerrand“ seiner eigenen Disziplin zu schauen, ist die Stärke dieses Buches.

Im zweiten Teil verfolgt der Autor seine Hauptthese „language frames memory“ zunächst anhand der unterschiedlichen Bedeutungen von „Märtyrer“ und „Märtyrertum“ in der englischen, französischen, hebräischen und deutschen Sprache. Dabei bemüht er sich nicht nur um einen Vergleich zwischen West- und Osteuropa, sondern deutet oftmals auch Unterschiede zwischen den Religionen und Erdteilen an. Vor allem zeigt er auf, wie der Holocaust seit den 1980er-Jahren die westeuropäische Erinnerungskultur bestimmt und den Begriff des „Märtyrers“ zumindest in Westeuropa unmöglich gemacht hat. Hier vergleicht Winter die unterschiedliche gesellschaftliche Aufarbeitung der Shoah und des Völkermordes an den Armeniern. Er formuliert die Hoffnung, dass auch in der Türkei langsam die Sprache des Märtyrertums durch eine Sprache der Menschenrechte ersetzt und die Opfer des Genozids anerkannt werden mögen. Inwieweit diese Hoffnung realistisch ist, muss sich noch erweisen.

In seinem Kapitel über die Gestaltung von Monumenten analysiert Winter anhand der Skulpturen von Käthe Kollwitz und diversen Gedenkorten die Akzentverschiebung von der vertikalen hin zur horizontalen Achse. Auch wenn nicht alle Künstlerinnen und Künstler dieser Tendenz folgten, macht Winter die wichtige Beobachtung, dass nach 1914 der Hoffnung und dem Stolz (vertikale Achse) das Trauern und der Verlust (horizontale Achse) entgegengesetzt wurden. Häufiger als zuvor musste der Besucher, um ein Monument zu betrachten, seinen Blick nach unten richten – wodurch automatisch eine Trauergeste ermöglicht und hervorgerufen wurde. Laut Winter war die Ursache dieses Paradigmenwechsels, dass „some [artists], like Kollwitz, gave up any notion that loss of life in war had a meaning, in the sense of yielding some good through sacrifice“ (S. 145). Damit hat er einen der wichtigsten Aspekte in der jedoch nicht geradlinigen Entwicklung der Erinnerungskultur in (West-)Europa nach dem Ersten, besonders aber nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieben: „to turn away from war“ (S. 171).

Dem Phänomen „Shell Shock“ (im Deutschen etwa: Granatschock, Kriegstrauma) und dem Schweigen darüber ist eines der wichtigsten Kapitel in Winters Buch gewidmet. Hier baut er auf seinen älteren Arbeiten zu „Frameworks of Silence“ auf, mit der Differenzierung in kategorisches und kommunikatives, oder politisches und strategisches Schweigen.3 „Shell Shock“ ist für diese Untersuchung wahrscheinlich das beste Beispiel. Die Strategien der Betroffenen – Selbstverleugnung, bewusste Änderung der Lebensgeschichte und Auslassung von Ereignissen, die oft den zeitgenössischen Männlichkeitskonzepten widersprachen – sind genauso wichtig wie die Tatsache, dass der Staat, das medizinische Personal und die Gesellschaft das Problem der psychischen Kriegsopfer im militärischen und zivilen Bereich bis in die 1980er-Jahre missachtet haben. Winter resümiert: „[…] silence is not an empty space, but under certain circumstances, a powerful mode of conveying meaning“ – „silence is a language“ (S. 202). Diese Erkenntnis hat sich auch in der heutigen Denkmal- und Museumslandschaft immer mehr durchgesetzt.

Jay Winters neues Buch ist nicht nur gut geschrieben oder eine bloße Zusammenfassung seiner langjährigen Forschungsarbeit in diesem Feld, sondern geht weit darüber hinaus. Mit der Einbeziehung verschiedener Medien wie Film, Architektur und Kunst und trotz der Tatsache, dass Winter für diese Bereiche (wie er selbst zugibt) kein Experte ist, entwickelt er einen interdisziplinären Zugang, der die Praxis der Erinnerungskultur für das 20. Jahrhundert facettenreich ausleuchtet. Die Auslassung von „Sound“ in seinen Varianten, das Fehlen des Theaters und die generell beschränkte Auswahl von Beispielen in diesem Buch bedeutet keinen Mangel, sondern lässt Freiraum für künftige Forschungsarbeiten. Den Grundstein für Reflexionen über Krieg als individuelle, aber auch als soziale, kulturelle und politische Erfahrung hat Winter mit seinem Lebenswerk gelegt – und Memory Studies als wichtigen Zweig der Kultur- und Begriffsgeschichte etablieren geholfen.

Anmerkungen:
1 Winter war Chefhistoriker bei der Produktion der PBS/BBC-Serie „The Great War and the Shaping of the 20th Century“ (1996), die unter anderem zwei Emmy Awards gewann.
2 Siehe neben vielen anderen Publikationen v.a. Jay Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995 (und öfter).
3 Ders., Thinking About Silence, in: Efrat Ben-Ze’ev / Ruth Ginio / Jay Winter (Hrsg.), Shadows of War. A Social History of Silence in the Twentieth Century, Cambridge 2010, S. 3–31, hier S. 9.