C. Cornelißen u.a. (Hrsg.): Historikerkommissionen

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Titel
Historikerkommissionen und historische Konfliktbewältigung.


Herausgeber
Cornelißen, Christoph; Pezzino, Paolo
Erschienen
Berlin 2018: de Gruyter
Anzahl Seiten
VII, 359 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel vom Lehn, HistoriCity GbR, Potsdam

Historikerkommissionen haben sich zu maßgeblichen Institutionen im öffentlichen Umgang mit Geschichte entwickelt. Nicht nur Ministerien, auch Unternehmen, Stiftungen, Verbände oder Vereine beauftragen Gruppen professioneller Historiker, wenn es darum geht, sich mit Themen der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, die in einer breiteren Öffentlichkeit als brisant erachtet werden. Vor allem seit den 1990er-Jahren haben Historikerkommissionen an Bedeutung gewonnen – und dies ist kein Zufall. Erstens entstand nach der politischen Wende 1989/90 in den Ländern Mittel- und Osteuropas die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich mit den untergegangenen kommunistischen Diktaturen zu beschäftigen. Zweitens rückte aber auch in Westeuropa die Verantwortung für die Massenverbrechen des Nationalsozialismus und des Faschismus stärker als zuvor in den Fokus der Öffentlichkeit, da der gesellschaftliche Einfluss derjenigen Eliten und Bevölkerungsteile nachließ, die die Zeit vor 1945 aktiv mitgestaltet hatten. Die daraus folgenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Deutung der Vergangenheit erhöhten das Bedürfnis nach geschichtswissenschaftlicher Klärung.

Aufgrund dieser Entwicklungen ist es ein lohnender Ansatz, Historikerkommissionen selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen, „ihre Gründung, ihre Zusammensetzung, ihre Arbeitsweisen, ihre Ergebnisse sowie deren Nutzanwendung durch die Auftraggeber einer kritischen Analyse“ zu unterziehen (S. 10), wie Christoph Cornelißen und Paolo Pezzino das Ziel ihres Sammelbandes „Historikerkommissionen und historische Konfliktbewältigung“ definieren.

Leider kann der Band diesen Anspruch insgesamt nicht einlösen. Das ergibt sich schon aus der Anlage der Publikation, denn die meisten Autoren (es sind ausschließlich Männer) beschäftigen sich mit denjenigen Historikerkommissionen, in denen sie selbst Mitglied waren oder noch sind. So schreiben etwa Wolfgang Schieder und Mariano Gabriele als Vorsitzende der Deutsch-Italienischen Historikerkommission über deren Arbeit, oder es erforscht Christoph Cornelißen als Mitglied der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission ebendiese Gremien. Daraus können Leserinnen und Leser zweifellos interessante Einblicke in die Arbeit von Historikerkommissionen gewinnen. Jedoch kann man sicher nicht erwarten – wie viel Selbstreflexion man Historikern auch immer zubilligen mag –, dass sie ihre persönliche Arbeit und die ihrer aktuellen Kolleginnen und Kollegen zum Gegenstand einer kritischen wissenschaftlichen Untersuchung machen. Tatsächlich versuchen die meisten Autoren des Bandes dies auch gar nicht oder erwähnen allenfalls en passant, die Zusammenarbeit in der Historikerkommission habe „durchaus reibungslos“ funktioniert (Wolfgang Schieder, S. 29), oder man habe „die Vergangenheit nicht in simplifizierend-polemischer, sondern in kritischer Form“ aufgearbeitet (Raoul Pupo, S. 55).

Die Leistung des Sammelbandes liegt vielmehr darin, wichtige Probleme anzusprechen, die mit der Arbeit von Wissenschaftlern in Historikerkommissionen einhergehen. Zwar bieten die Kommissionen Geschichtswissenschaftlern ein Forum, mit dessen Hilfe sie Einfluss auf gesellschaftliche Erinnerungskulturen nehmen können, die nicht nur und oftmals nicht maßgeblich von ihnen geprägt werden. Aus dieser Einflussnahme kann jedoch gleichzeitig der öffentliche Anspruch entstehen, dass Historiker eine für alle gesellschaftlichen Gruppen akzeptable Interpretation der umstrittenen Vergangenheit entwickeln und dadurch zur allgemeinen Versöhnung beitragen – eine Erwartung, die die Kompetenzen von Geschichtswissenschaftlern übersteigt und ihnen auch weitgehend widerspricht. Zu Recht weisen die Herausgeber darauf hin, dass Historiker allenfalls „Fehlwahrnehmungen und Falschdarstellungen rivalisierender Gruppen korrigieren und stattdessen andere, geschichtswissenschaftlich verifizierte Deutungen offerieren“ können (Cornelißen/Pezzino, Einleitung, S. 2). Dabei gilt es innerhalb dessen, was geschichtswissenschaftlich vertretbar ist, auch immer unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Interpretationen historischer Zusammenhänge auszuhalten.

In der Öffentlichkeit drängt sich oftmals allerdings der Eindruck auf, dass Historikerkommissionen nur für eine zulässige Interpretation der Vergangenheit stehen, wie Axel Schildt in seinem abschließenden Kommentar erläutert. Obwohl sich Historikerkommissionen aus mehreren Mitgliedern zusammensetzen, die oft aus verschiedenen Nationen kommen, legen sie selten unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, Methoden und Interpretationen offen. Vielmehr lautet das Ziel einer Historikerkommission meistens, eine möglichst homogene Einschätzung abzugeben, die durch die finale gemeinsame Erklärung zusätzliches Gewicht erhalten soll. Es gibt daher die Gefahr, dass in der öffentlichen Wahrnehmung „mit dem Abschlussbericht das Zertifikat einer Überprüfung steht, wie wir es von technischen Kontrollen [...] kennen“ (Schildt, S. 316). Zum Eindruck höchster Autorität mag in der Öffentlichkeit zudem beitragen, dass die Kommissionsmitglieder meist nicht durch ein fachliches Verfahren ausgewählt, sondern durch die Auftraggeber aufgrund ihrer öffentlichen Prominenz oder ihrer Führungsposition in akademischen Gremien ernannt werden.

Damit Historikerkommissionen ernstgenommen werden und ihre Berufung nicht als Marketing-Maßnahme der jeweiligen Auftraggeber erscheint, ist Forschungsfreiheit eine notwendige Bedingung. Wie sich (unverbindliche) Regeln für diese Forschungsfreiheit etabliert haben, zeigt Tim Schanetzky in seinem Beitrag zu Historikerkommissionen im Auftrag großer Unternehmen. Allerdings lenkt der Autor den Blick ebenso darauf, dass schon die Themensetzung Forschungsentwicklungen beeinflussen kann: Unternehmen oder andere Auftraggeber haben ein legitimes Interesse daran, ihre eigene Geschichte wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Hierdurch können Projekte entstehen, die auch für die Geschichtswissenschaft selbst Relevanz besitzen, aber in etlichen Fällen, etwa zur Geschichte von Einzelunternehmen im Nationalsozialismus, lassen sich kaum noch neue Fragen und Methoden entwickeln. Stattdessen werden bekannte Wege beschritten und Erkenntnisse bestätigt, die schon bei früheren Untersuchungen gewonnen wurden. Dies läuft den Interessen von Historikern zuwider, soweit sie der universitären Geschichtswissenschaft angehören, denn ihr vorrangiges Ziel ist es, mit neuen Fragen und Methoden zu neuartigen Erkenntnissen zu gelangen.

Neben diesen grundsätzlichen Reflexionen zur Arbeit von Historikerkommissionen bietet der Sammelband einen Überblick zu inhaltlichen Ergebnissen und Vorschlägen verschiedener Kommissionen. Ein Fokus liegt dabei auf Deutschland und Italien, was sich daraus ergibt, dass der Band auf einer Tagung in der römischen Accademia dei Lincei vom Oktober 2014 beruht. Zwar werden auch Historikerkommissionen thematisiert, die andere Länder betreffen (Polen, Ukraine, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Schweiz), diese Beiträge sind jedoch ausschließlich von den westeuropäischen Mitgliedern jener Gremien verfasst. Wie bei Sammelbänden üblich, unterscheiden sich die Stoßrichtungen der einzelnen Beiträge. In den Aufsätzen zu Deutschland und Italien stehen meistens die inhaltliche Arbeit und die Forschungssituation zu den in der jeweiligen Kommission behandelten Themen im Mittelpunkt. In den übrigen Beiträgen werden eher die Entwicklung der Historikerkommissionen und deren öffentliche Wahrnehmung aus der Sicht der jeweiligen Kommissionsmitglieder dargestellt. Einen interessanten Sonderfall bildet die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission, die nicht von öffentlichen Auftraggebern eingesetzt wurde, um gesellschaftlich umstrittene Themen zu untersuchen, sondern aus einer Kooperation der beiden Historikerverbände entstand, um Studien zur gemeinsamen Geschichte anzuregen und zu fördern.

Der vorliegende Sammelband erforscht also in den einzelnen Beiträgen nicht die Rolle von Historikerkommissionen, aber er bietet einen Einstieg in das Thema, indem er einen Überblick gibt und wichtige Fragen für eine künftige Historisierung der Historikerkommissionen aufwirft.