F. Lange: Praxisorientierung und Gemeinschaftskonzeption

Titel
Praxisorientierung und Gemeinschaftskonzeption. Hermann Mosler als Wegbereiter der westdeutschen Völkerrechtswissenschaft nach 1945


Autor(en)
Lange, Felix
Erschienen
Berlin 2017: Springer
Anzahl Seiten
XIV, 405 S., 3 Abb.
Preis
€ 94,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Dathe, Historisches Institut, Universität Potsdam

In der von Klassikern und Denkschulen geprägten Wissenschaft vom internationalen Recht begegnet man Hermann Mosler (1912–2001) „heute“ in der Regel über seine 1974 an der Académie de droit international in Den Haag gehaltene Vorlesung „The International Society as a Legal Community“ als Vordenker der internationalen (Rechts-)Gemeinschaft.1 Sein Lebensweg folgte Deutschlands Abkehr von dieser Gemeinschaft während des Nationalsozialismus und der späteren Rückkehr der Bundesrepublik in die internationale Ordnung.2

Hermann Mosler wurde 1937 über die Intervention im Völkerrecht promoviert und trat im selben Jahr als Assistent in das Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (KWI) unter der Leitung von Viktor Bruns ein. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg habilitierte sich Mosler bei Richard Thoma über „Wirtschaftskonzessionen bei Änderungen der Staatshoheit“. Im Rahmen seines Habilitationsvortrages widmete er sich 1949 der „Großmachtstellung im Völkerrecht“ und übernahm den Lehrstuhl für öffentliches Recht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Parallel zu diesen wissenschaftlichen Betätigungen wurde Mosler – 1945 mit Gutachten für die Verteidigung des Unternehmers Alfred Krupp in den Nürnberger Nachfolgeprozessen und 1950 als Berater der deutschen Delegation bei den Verhandlungen zum Schuman-Plan – praktisch tätig. Weitere rechtspraktische Erfahrungen sammelte er als Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes von 1951–1954, als erster deutscher Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, 1959–1981) und als (nach Walther Schücking) zweiter deutscher Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH, 1976–1985). Wichtige wissenschaftliche Stationen waren die Leitung des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (MPIL, 1954–1976), die Aufnahme in das Institut de Droit International (ab 1957) und die Ehrung, den Cours généraux an der Académie de droit international zu halten (Sommer 1974). Ausgewiesene Kenner wie Christian Tomuschat und Rudolf Bernhardt würdigten seine Arbeiten zum Völkerrecht als „einen herausragenden Beitrag zur wissenschaftlichen Durchdringung dieses Rechtsgebietes“.3

Felix Lange knüpft mit seiner von Georg Nolte in Berlin (HU) betreuten juristischen Dissertation an diese Feststellung an. Er erweitert sie aber noch um zwei Thesen, dass nämlich erstens Mosler die „westdeutsche Völkerrechtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg“ geprägt habe „wie kein Zweiter“ (S. 1) und man bei ihm zweitens „eine enge Verbindung zwischen praktischer Tätigkeit und Wissenschaft“ (S. 165) beobachten könne. Stilbildend für die deutsche Völkerrechtswissenschaft sei insbesondere die „praxisorientierte Methode“ Moslers gewesen, die versucht habe, konkrete, sich in der internationalen Rechtspraxis stellende Fragen zu beantworten und aktuelle Entwicklungen dieser Praxis und deren Wirkung auf die staatliche Ordnung zu deuten.

Lange geht es darum, das Werk – und die Tätigkeit Moslers, ließe sich ergänzen – durch eine „kontextualistische[n] Wissenschaftsgeschichte“ (S. 18) zu historisieren, um so „ein Informationsreservoir für den Entstehungszusammenhang heute populärer – aber auch umkämpfter – Ansätze“ (S. 18f.) zu schaffen. Hierfür greift er nicht nur auf die veröffentlichten Schriften Moslers zurück, sondern in großem Maße auch auf bisher unerschlossenes Archivmaterial, insbesondere auf Moslers Nachlass, der im Archiv der Max Planck Gesellschaft (MPG) in Berlin-Dahlem verwahrt wird. Seine Arbeit ist keine Biographie eines Wissenschaftlers und Richters, sondern die historische Erschließung und Kontextualisierung der Faktoren, die Moslers Hinwendung zur praxisorientierten Methode erklären können. Diese Form anwendungsorientierter völkerrechtlicher Forschung bestimmt eine Dimension, nach der Lange das Werk und die Tätigkeit Moslers erschließt; sie ist auch Inhalt des ersten und umfangreicheren Teils der Arbeit.

Nach einem pointierten Einführungskapitel skizziert Lange in Kapitel 2 (S. 27–71) den intellektuellen Hintergrund, von dem aus Hermann Mosler seine Hinwendung zur Praxis und zur praxisbezogenen Forschung vorgenommen hat. Dazu gehören die Rechtstheorie der Wiener Schule (Hans Kelsen, Alfred Verdross), pazifistische Ansätze (Hans Wehberg, Walther Schücking) und staatszentrierte Überlegungen (Erich Kaufmann, Heinrich Triepel). Schon in der Weimarer Zeit wurden diese Unternehmungen rechtspraktisch ergänzt und institutionalisiert – nämlich in der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht (DGVR, 1917–1933), in dem von Viktor Bruns gegründeten KWI und auch im Institut für Auswärtige Politik. Diese Institutionen waren nach Lange die Folge einer Verrechtlichung der europäischen Politik und eines Bedarfs an praxisnaher Politikberatung (S. 32–34). Nach dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten veränderte sich die deutsche Völkerrechtslandschaft bekanntlich personell und institutionell. In Detlev Vagts Überblick über individuelle Strategien von Juristen während des Dritten Reichs würde Mosler wohl wie Viktor Bruns zu denen gehören, „who stayed and carried on without an inward commitment to the regime“.4 Die historische Einordnung schließt mit einem Überblick über die Hinwendung deutscher Völkerrechtler nach 1945 zu mehr empirischer und weniger philosophischer Arbeit. Michael Stolleis folgend sieht Lange eine Dominanz der anwendungsorientierten Völkerrechtswissenschaft in Deutschland insbesondere in der Zeit von 1960–1990; in den Jahren zwischen 1945–1960 scheint sich diese Ausrichtung jedoch erst vage anzudeuten (S. 52–54). Es war Hermann Mosler, der sich in dieser Zeit intensiv der praxisorientierten Methode zuwandte. Darum schließt Lange das geschichtliche Überblickskapitel mit einer Darstellung seines Lebensweges nach 1945 ab. In den darauf folgenden Kapiteln geht Lange detailliert auf fünf Bedingungsfaktoren ein, die zu Moslers Hinwendung zur Rechtspraxis führten.

In Kapitel 3 (S. 73–93) beleuchtet er näher die Sozialisation Moslers am KWI, dessen Aufgabe es in Weimarer Zeit war, „eine exakte Kenntnis des ausländischen Rechts auf Grund des ausländischen Gesetzgebungs-, Denkschriften- und Parlamentsaktenmaterials [zu] vermitteln“5, was für Mosler eine „naturwissenschaftliche“ Annäherung an den Forschungsgegenstand Völkerrecht darstellte (S. 74). Er sah dieses Verfahren als geeignet an, um eine funktionierende Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Persönlichkeiten an einem Forschungsinstitut zu etablieren. Von dieser Ansicht sollte er auch als Leiter des aus dem KWI hervorgegangen MPIL nicht abweichen (S. 87–93).

In Kapitel 4 (S. 95–130) geht Lange näher auf die Erfahrungen Moslers aus der Zeit des Nationalsozialismus und dessen „Ablehnung der theoretisierenden NS-Rechtswissenschaft nach 1945“ ein. Er interpretiert Moslers – von völkischem Gedankengut freie – Schriften dieser Zeit als Versuch, das Regime auf das Völkerrecht festzulegen (S. 106–107). Dass Mosler überhaupt während des Krieges publizieren durfte, sei darauf zurückzuführen, dass er „als Referent bei der Beratungsstelle für Völkerrecht der Amtsgruppe Ausl./Abwehr dringend gebraucht“ (S. 108) wurde. Er forschte während des Krieges zum französischen und belgischen Recht. Gerade die Fixierung am KWI auf die juristisch-logische, sachliche Beschreibung des geltenden Rechts sei der Grund gewesen, dass sich die am Institut versammelten Forschenden nicht in der Weise dem Nationalsozialismus angebiedert hätten, wie theoretisierende Autoren (etwa Carl Schmitt, Gustav Adolf Walz, Norbert Gürke oder Werner Best, S. 129).

Weitere Hintergründe, die Hermann Moslers Anwendung der praxisorientierten Methode erklären können, betrachtet Lange in den Kapiteln 5 „Völkerrecht als Mittel gegen die alliierte Besatzungspolitik“ (S. 131–166) und 6 „Völkerrecht als Hilfsinstrument der Westintegration“ (S. 167–204). Moslers völkerrechtliche Expertise wurde von Regierung und Unternehmen angefragt, um deren Interessen gegenüber den Besatzungsmächten zu vertreten. Mosler selbst bemerkte zu seiner Arbeit, dass Deutschland das „Vertrauen der westlichen Welt nur durch eine relativ unpolitisch[e], juristisch[e] Herangehensweise“ (S. 204) an das internationale Recht gewinnen könne.

Moslers spätere Tätigkeiten als Richter am EGMR und IGH, denen sich Lange in Kapitel 7 (S. 205–233) zuwendet, bestärkten ihn weiter in seinem anwendungsbezogenen Vorgehen. Die Wahl Moslers zum Richter am IGH markiert 1975 die Rückkehr der deutschen – dann mehrheitlich anwendungsorientierten – Völkerrechtswissenschaft in die internationale (Rechts-)Gemeinschaft (S. 214–216).

Die Entwicklung der deutschen Völkerrechtswissenschaft zu weniger Theorie und mehr Praxisbezogenheit sei, so die Einschätzung von Lange, jedoch nicht zwangsläufig gewesen (S. 52, 336). Aus diesem Grund stellt er die alternativen, aber weniger einflussreichen Ansätze von Wilhelm Grewe (historisch-politisch), Wilhelm Wengler (rechtstheoretisch-rechtssoziologisch) und Ulrich Scheuner (philosophisch-historisch) im Kapitel 8 (S. 235–264) vor. Dieses Kapitel ist für die Ausrichtung der Arbeit Langes nicht entscheidend, hilft dem Leser allerdings, Moslers Vorgehen einzuordnen.

Den Leitgedanken, wissensgeschichtliche Hintergründe zu erschließen, verfolgt Lange auch im Teil 2 der Arbeit, in dem er sich – über die Kapitel 9–11 (S. 265–330) – der Gemeinschaftskonzeption Moslers widmet. Diese Konzeption bündelt die theoretischen Hypothesen Moslers, die in einer Art „Bottom-Up Verfahren“6 aus seiner rechtspraxisorientierten Forschungsarbeit hervorgegangen sind. Sehr behutsam und vorsichtig ließ Mosler seine Beobachtungen und Erfahrungen aus der Praxis in seine Konzeption der internationalen Gemeinschaft einfließen (S. 265–291). Er verknüpfte sie mit der, wie Lange aufzeigt, ihm wohlbekannten westlichen völkerrechtlichen Diskussion der 1950er- und 1960er-Jahre, die geprägt war von der Konfrontation zweier Supermächte, und seinem katholisch-universalistischen Weltbild (S. 293–310). Bei der Ausarbeitung seiner eingangs erwähnten Vorlesung an der Académie de droit international griff er vornehmlich auf die Arbeiten von Viktor Bruns, James L. Brierly, Charles de Visscher, Pierre-Marie Dupuy, Erich Kaufmann, Theodor Schieder und Alfred Verdross zurück (S. 266).

Der Ansatz, den praxisorientierten Tätigkeiten im ersten Teil der Arbeit mehr Platz einzuräumen, ist insgesamt richtig gewählt, auch wenn man sich den überaus starken zweiten Teil – vor allem die Kontextualisierung von „The International Society as a Legal Community“ – ausführlicher gewünscht hätte. Denn gerade die Art und Weise, wie Mosler Praxis und Theorie zusammenbrachte, offenbart, dass – wie Christian Tomuschat 1993, unter Rückgriff auf Moslers Verfassungsbegriff (S. 346) ausführte –, die „international community […] not an invention by academic scholars“7 ist.

Einziger Wermutstropfen an der gelungenen und an Informationen reichen Arbeit von Lange ist, dass er die Anhaltspunkte für seine „kontextualistische Wissenschaftsgeschichte“ in der deutschen Historiographiegeschichte sucht. Dies ist legitim, da „deren methodische Diskussion“, wie Lange bemerkt, „weiter zurückgeht als die der noch jungen Völkerrechtswissenschaftsgeschichte“ (S. 19). Freilich ist auch Lange mit der jüngeren methodologischen und biographischen Literatur zu „Völkerrechtsgeschichten“ (und wie man sie erzählt) vertraut (S. 9–14). Vielleicht hätten sich auch darin ausreichend Hilfskonstruktionen für seine Wissensgeschichte gefunden.

Anmerkungen:
1 Stellvertretend für viele: Bardo Fassbender, The United Nations Charter as the Constitution of the International Community, Leiden 2009, S. 27f., 41–50.
2 Siehe Rudolf Bernhardt, Die Rückkehr Deutschlands in die internationale Gemeinschaft: Hermann Moslers Beitrag als Wissenschaftler und internationaler Richter, in: Der Staat 4 (2003), S. 583–599.
3 Ebd., S. 590.
4 Detlev F. Vagts, International Law in the Third Reich, AJIL 3 (1990), S. 661–704, 683.
5 Friedrich Glum, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Ihre Forschungsaufgaben, ihre Institute und ihre Organisation, in: Ludolph Brauer / Albrecht Mendelssohn Bartholdy / Adolf Meyer (Hrsg.), Forschungsinstitute. Ihre Geschichte, Organisation und Ziele, 2 Bde., Hamburg 1930, Bd. 1, S. 359–373, 366f.
6 Anne Peters, Die Zukunft der Völkerrechtswissenschaft: Wider den epistemischen Nationalismus, in: ZaöRV 67 (2007), S. 721–776, 738–740.
7 Christian Tomuschat, Obligations for States without and against their will, in: Collected Courses of the Hague Academy of International Law 241 (1993), S. 236.

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