M. Barricelli u.a. (Hrsg.): Ideologie und Eigensinn

Cover
Titel
Ideologie und Eigensinn. Die Technischen Hochschulen in der Zeit des Nationalsozialismus


Herausgeber
Barricelli, Michele; Jung, Michael; Schmiechen-Ackermann, Detlef
Reihe
Schriften zur Didaktik der Demokratie 1
Erschienen
Göttingen 2017: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Schaarschmidt, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Schon früher als andere Institutionen begannen Universitäten ihre NS-Geschichte aufzuarbeiten, hatten sie mit den Historikern doch quasi schon die Aufarbeitungs-Spezialisten im Haus. Das verschaffte ihnen einen Vorsprung gegenüber Ministerien und anderen Großorganisationen, trug aber auch zu verzerrten Perspektiven und Blickverengungen bei. Fachdisziplinen, die Historikern leichter zugänglich waren als anderen, hatten bessere Chancen untersucht zu werden als Fächer, deren analytische Durchdringung spezielle Vorkenntnisse verlangte. In besonderer Weise gilt das für technische Disziplinen. Wie in anderen Wissenschaftsbereichen auch zogen sich die Fachvertreter nach 1945 mit dem Argument aus der Affäre, dass sie nur der reinen Wissenschaft gedient und keinerlei politische Intentionen verfolgt hätten. Das gelang ihnen besser als den Repräsentanten ideologienaher Fächer, da sie zumeist glaubhaft belegen konnten, vor 1933 und nach 1945 nichts anderes getan zu haben als in den Jahren der NS-Diktatur.

Es ist daher sehr verdienstvoll, dass sich der erste Band aus der Schriftenreihe des Hannoveraner Instituts für Didaktik der Demokratie der Rolle der Technischen Hochschulen in der NS-Diktatur widmet. Konzentrierte sich der 2010 von Noyan Dinçkal, Christof Dipper und Detlev Mares herausgegebene Band „Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Technische Hochschulen im ‚Dritten Reich‘“ auf die TH Darmstadt, so bildet die TH Hannover den Schwerpunkt des neuen Bandes. Seine 17 Beiträge decken das Spektrum von der Gleichschaltung und personellen „Säuberung“ der Technischen Hochschulen über ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg bis zu ihrer Entnazifizierung ab. Teils handelt es sich um Fallstudien zu einzelnen Hochschulen, teils um überblicksartige Beiträge.

In seinem einführenden Aufsatz erläutert Michael Grüttner die Relevanz des Themas. Obwohl eine zentralistische Steuerung des Wissenschaftsbetriebs nicht gelang, stellten sich die technischen Wissenschaften, ohne mit der Wimper zu zucken, in den Dienst der nationalsozialistischen Wehrwirtschaft und Kriegführung, die ihnen bis in die letzte Kriegsphase ungeahnte Ressourcen und einen enormen Bedeutungszuwachs bescherten. Im Hinblick auf das Personal überrascht allerdings weniger Grüttners Beobachtung, dass in den Technischen Hochschulen nicht so viele Wissenschaftler entlassen wurden wie in den Universitäten, als vielmehr der große personalpolitische Pragmatismus der politisch Verantwortlichen. Nachdem 1933 und 1935 die meisten – aus der Perspektive des Regimes – politisch unzuverlässigen und potentiell gegnerischen Hochschulangehörigen entlassen worden waren, standen fast allen anderen die Tore weit offen, um mit ihrem wissenschaftlichen Engagement die politisch geforderte Wiederaufrüstung voranzutreiben.

Die meisten Beiträge orientieren sich denn auch an der Frage nach der Mobilisierungsfähigkeit der Technischen Hochschulen im Nationalsozialismus. Helmut Maiers Aufsatz über die Rüstungsforschung kann man mit gutem Recht als das Herzstück des Bandes bezeichnen. Sein umfassender Einblick in das Instanzengeflecht von Forschung und Rüstungsbehörden erhellt die komplexen Zusammenhänge von Ressourcenlenkung und Innovationsfähigkeit. Wie Maier mit Blick auf die gesamte Rüstungsentwicklung ausführt, gelang den deutschen Forschern während des Krieges ein breiter Innovationsschub, der zwar nicht den Kriegsausgang beeinflusste, aber längerfristige Auswirkungen auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach 1945 hatte. Andere Beiträge des Bandes, die sich mit einzelnen Hochschulstandorten befassen, fragen nach Projekten und Akteuren der Rüstungsforschung. In vielen Fällen setzten diese ihre Karrieren nach dem Krieg fort, so auch der von Ruth Federspiel porträtierte Professor für Werkzeugmaschinen an der TH Hannover Werner Osenberg. Nachdem er eine wichtige Schaltstelle im Geflecht der Rüstungsforschung besetzt hatte, kehrte er Anfang der 1950er-Jahre wieder auf seinen Lehrstuhl zurück, den er dann bis zu seiner Emeritierung innehatte. Ähnlich aufschlussreich ist Melanie Hanels Beitrag über das militärische Engagement der TH Darmstadt.

Die Bilanz der Beiträge über die Akteure an den Technischen Hochschulen fällt indes gemischt aus. Aufschlussreich sind Michael Jungs Beobachtungen, dass der Lehrkörper der Technischen Hochschulen a) noch weitaus stärker in der NSDAP engagiert war als andere Berufsgruppen wie Ärzte und Lehrer, und b), dass die Wissenschaftler der Partei und ihren Unterorganisationen aus Überzeugung beitraten und angehörten. Man hätte nur gerne mehr darüber gewusst, wie sich das aktive Eintreten für die Partei – jenseits der Mitgliedschaft in verschiedenen NS-Gremien – auswirkte und was es für das professionelle Engagement bedeutete.

Es ist sicherlich eine sinnvolle thematische Erweiterung, nicht nur nach den Karrieren der Hochschullehrer, sondern auch nach dem politischen Engagement der Studenten und Studentinnen zu fragen. Warum dieser Aspekt im Band gleich mit fünf Beiträgen vertreten ist, fragt sich der Leser spätestens dann, wenn sich zwei davon nicht mit Technischen Hochschulen beschäftigen und ein weiterer im nichtssagenden Klein-Klein verliert. Während Adrian Mitter in seinem Beitrag über deutsche, polnische und ukrainische Studenten an der TH Danzig interessante neue Fragen aufwirft, gelingt es den anderen Beiträgen nicht so recht, ihre Erkenntnisse für die Beantwortung der Frage nach der Mobilisierungsfähigkeit der Technischen Hochschulen fruchtbar zu machen. Sicherlich waren viele Studierende der Technischen Hochschulen nach 1933/34 von der NS-Hochschulpolitik enttäuscht, aber war es nicht genau diese Studentengeneration, für die die Förderprogramme der Rüstungsforschung ungeahnte berufliche Perspektiven eröffneten?

Auf relativ dünnes Eis begibt sich Annette Schröder, wenn sie die Einstellungen der folgenden Studentengeneration zu ermitteln versucht und zu dem Schluss kommt, dass „im Alltag vor allem die formalen und strukturellen Anforderungen des NS-Staates durchaus auch kritisch betrachtet, umgangen, ignoriert und umgedeutet wurden“ (S. 146). Was sie als „beständiges Umdeuten der nationalsozialistischen Anordnungen und Verbote“ und die „Übernahme von Führungspositionen, die sie dann nach ihren Vorstellungen ausfüllten“, beschreibt, lässt sich auch so deuten, dass sich die von klein auf im NS-System sozialisierten Studenten eigensinnig in den „volksgemeinschaftliche[n] Lebensraum“ der Hochschule einschrieben, an ihm partizipierten und sich in seinem Rahmen engagierten. Auch ihnen boten sich gute Aussichten auf eine wissenschaftliche Karriere, verbunden mit dem Nebeneffekt, als Experten von Kriegsdienst freigestellt zu werden.

Unter den der Entnazifizierung gewidmeten Beiträgen ist vor allem der von Isabel Schmidt zur TH Darmstadt hervorzuheben, der exemplarisch die restriktive Wiedereinstellung von in der NS-Zeit entlassenen Wissenschaftlern beschreibt und diese Praxis mit der Selbstdarstellung als „Anti-Nazi-Hochschule“ kontrastiert (S. 289). Sowohl in diesem als auch in den anderen Teilen des Bandes hätte man sich eine stärkere Auswahl der Beiträge gewünscht. So wären die Aufsätze über die Universitäten Rostock, Jena und Göttingen in einem Band über Technische Hochschulen eigentlich entbehrlich gewesen. Und was motivierte die Herausgeber, Bernd Sösemanns Beitrag über Victor Klemperer unter der Rubrik „Einführende Perspektiven“ in den Band aufzunehmen? Zwar lehrte Klemperer an einer Technischen Hochschule, aber als Romanist gehörte er in Dresden der eher randständigen Kulturwissenschaftlichen Abteilung an, aus deren Perspektive wir so gut wie nichts über die Entwicklung in den technischen Disziplinen unter den Bedingungen der NS-Diktatur erfahren. Eine stärkere Konzentration auf die von Michael Grüttner in seiner Einführung entwickelten Kernthemen wäre dem Band gut bekommen, der aber auch so wichtige Impulse für die zukünftige Erforschung der NS-Wissenschaftsgeschichte gibt.

Kommentare

Von H-Soz-Kult, Redaktion17.01.2018

Eine erste Fassung der Rezension enthielt über Michael Jungs Beitrag in dem Sammelband den Satz: "Dass es sich bei der Karriere Willi Willings vom Berliner Gaudozentenführer zum HSSPF im Generalgouvernement um einen Irrtum handelt, ergibt sich schon aus dem Abgleich mit dem Aufsatz von Carina Baganz im selben Band."

Da dieser Satz inhaltlich nicht korrekt ist, hat die Redaktion von H-Soz-Kult ihn auf Wunsch des Rezensenten entfernt.


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