A. Keßelring: Die Organisation Gehlen und die Neuformierung des Militärs

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Titel
Die Organisation Gehlen und die Neuformierung des Militärs in der Bundesrepublik.


Autor(en)
Keßelring, Agilolf
Reihe
Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 6
Erschienen
Anzahl Seiten
508 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Schmeer, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Geheimdienste gelten – zumal in westlich-liberalen Gesellschaften – als dem kritischen Blick der Öffentlichkeit weitestgehend entzogene Institutionen der Intransparenz. Nirgendwo sonst scheinen die arcana imperii des Staates so wohlbehütet zu sein wie in diesen rätselhaften Apparaten. Intendierte wie unintendierte Begleiterscheinung dieser Aura der Impermeabilität ist ein ausgeprägter Hang zur Legendenbildung, der einerseits von den Diensten selbst ausgeht, andererseits aber auch regelmäßig von außen an sie herangetragen wird. Dies gilt in besonderer Weise für den Bundesnachrichtendienst (BND) bzw. seine mythenumrankte Vorgängerinstitution, die Organisation Gehlen, die auch heute noch zu allerlei Spekulationen bis hin zu ausgedehnten Verschwörungstheorien Anlass gibt. Gegen die vielfach verzerrenden oder verschleiernden Narrative anzuschreiben, die in großem Maße mit dem Gründungspräsidenten Reinhard Gehlen (1902–1979) verknüpft sind1, ist das wichtige Verdienst der 2011 eingesetzten „Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des BND 1945–1968“ (UHK), deren auf erstmals zugänglichen Quellen aus den Beständen des BND-Archivs basierende Forschungsergebnisse seit einiger Zeit publiziert werden.2

Der sechste Band der UHK-Schriftenreihe, die Studie des Militärhistorikers Agilolf Keßelring, wendet sich explizit gegen die von Gehlen selbst mitinitiierte verteidigungspolitische Gründungserzählung, dass mit der Aufstellung der Bundeswehr ausschließlich das 1950 eingerichtete Amt Blank betraut gewesen sei.3 Zwar haben Historiker/innen und kritische Journalist/innen bereits seit den 1970er-Jahren den Einfluss des Dienstes auf die bundesdeutschen Remilitarisierungsbestrebungen zumindest in Umrissen rekonstruieren können, doch ließen sich diese Verdachtsfälle mangels Zugriff auf die Akten des Geheimdienstes nicht hinreichend erhärten. Keßelring zeichnet nun erstmals akribisch und quellengesättigt die wichtige Rolle der Organisation Gehlen bei der Neuformierung des westdeutschen Militärs nach 1945 in ihren facettenreichen und mitunter widersprüchlichen Ausprägungen nach. Ihm geht es dabei einerseits um die Beantwortung der Frage, inwiefern der Gehlen-Dienst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als eine Art „‚Rettungsboot‘ für den deutschen Generalstab“ fungiert habe, mithin als „Kern eines späteren deutschen Nachrichtendienstes“ (S. 11). Darüber hinaus – und darin liegt eine besondere Stärke – richtet die Studie ihren Blick auf personelle Kontinuitäten und weitverzweigte persönliche Netzwerke der in bzw. als „Sonderverbindungen“ im Umfeld der Organisation Gehlen versammelten Generalstabsoffiziere von der Wehrmacht bis in die Bundeswehr hinein. Der Autor fragt dabei auch nach den von dieser Akteursgruppe maßgeblich angeleiteten „sicherheitspolitische[n], strategische[n] und operative[n] Weichenstellungen“ und Konzepten (S. 11f.), die bis weit in die 1960er-Jahre prägend waren.

Dazu spürt Keßelring zunächst dem über das Kriegsende hinaus fortwirkenden, von ihm so bezeichneten „System Gehlen“ nach. Darunter lassen sich die Rekrutierungslogiken der „Org.“ subsummieren, zum Teil bis in die Reichswehr zurückreichende personelle Netzwerke und eine spezifische Generalstabsmentalität, die der Autor als eine „Parallelwirklichkeit von Verbindungsstrukturen“ beschreibt, die vielfach geheim und „alternativ zu offiziell eingespielten Behördenstrukturen“ verlaufen seien (S. 76). Orchestriert und gefördert von amerikanischen Kontrollorganen (zunächst United States European Command [EUCOM], ab Sommer 1949 dann durch die CIA, namentlich den Geheimdienstoffizier James H. Critchfield) wurden ausgewählte, kooperationswillige ehemalige Generalstabsoffiziere aus der „Operational History (German) Section“ der „Historical Division“ der US-Armee ab 1947/48 sukzessive in die „Intelligence Group“ der sogenannten „Operation Rusty“, also in den Gehlen-Dienst integriert. Neben Nachrichtenoffizieren umfasste dieser ranghohe Personalpool auch ganz explizit mit der Operationsplanung vertraute Militärs wie den späteren Generalinspekteur der Bundeswehr, Adolf Heusinger, die bei der Planung und Durchführung der westdeutschen Wiederbewaffnung eine zentrale Rolle spielen sollten. Obschon die Organisation Gehlen vielfach in enger (und gleichsam asymmetrischer) Kooperation mit den Amerikanern agierte, verfolgten die vormaligen Generalstabsoffiziere auch eigene Agenden, die sich etwa in der Personalrekrutierung oder der Unterstützung des potentiellen Führungspersonals zukünftiger deutscher Streitkräfte manifestierten.

Hier spielte die aus heutiger Perspektive brisante Frage eine zentrale Rolle, inwiefern es gelingen könne, sowohl Akteure und Sympathisanten des militärischen Widerstands gegen Hitler als auch ehemalige Soldaten der Waffen-SS unter einer einheitlichen Spitze in die Wiederbewaffnungspläne zu integrieren. Dies war gleichermaßen eine Reaktion auf die Erfahrungen des „Zusammenbruchs“ 1918 als auch aus der (Kriegs-)Zeit des Nationalsozialismus (S. 115–121). Die Personalsuche habe einer „Quadratur des Kreises“ geglichen (S. 121), denn der zukünftige Generalstabschef der geplanten Bundeswehr musste schließlich auch noch gegenüber Politik und Besatzungsmächten durchgesetzt werden. Gegen den „Kandidaten“ der Briten, General Gerhard Graf von Schwerin, der als Adenauers „Sicherheitsberater“ maßgeblich an der Vorbereitung der für die Gründung der Bundeswehr zentralen Himmeroder Konferenz beteiligt war, wurden unter dem „Schattenminister der Verteidigung“ Eberhard Wildermuth (FDP) nun in einem spannungsreichen Ränkespiel die sogenannten „Heiligen Drei Könige“ als „militärische Spitze“ etabliert. Hinter dieser ironischen internen Bezeichnung verbargen sich Hans Speidel, Adolf Heusinger und Hermann Foertsch, die allesamt dem „System Gehlen“ entstammten und in der Folgezeit – zunächst im Verborgenen – maßgeblichen Einfluss auf den Wiederaufbau der westdeutschen Streitkräfte nahmen, was etwa die Frage der Einbindung in ein westliches Verteidigungsbündnis betraf (S. 115–171). Hier sei nur auf den „Besprechungsplan“ vom 5. Januar 1950 verwiesen, den Keßelring als eines der „Gründungsdokumente“ der Bundeswehr ausmacht.4

Neben dieser zentralen verteidigungspolitischen Einflussnahme rekonstruiert der Autor die Aktivitäten des Dienstes zur Beobachtung, Einbindung, Eindämmung oder Zerschlagung unterschiedlicher (radikaler) Strömungen innerhalb des „militärischen Umfelds“ (v.a. der Soldatenverbände) der frühen Bundesrepublik. Diese geheimen Tätigkeiten im Inland, die freilich nicht dem Aufgabenprofil eines Auslandsnachrichtendienstes entsprechen, benennt Keßelring folgerichtig als „Militär-Verfassungsschutz“ (S. 172), deren Auswirkungen auf den Staatsschutz der frühen Bundesrepublik „nicht gering zu achten“ seien (S. 468). Die Stoßrichtung sei dabei eine doppelte gewesen: Einerseits sollte – keineswegs selbstverständlich – der Einfluss ehemaliger überzeugter Nationalsozialisten eingedämmt, andererseits vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs aber auch die Gefahr „kommunistischer Infiltrierung“ (S. 470, dortige Hervorhebung) bekämpft werden. In einem aufschlussreichen Kapitel schildert Keßelring etwa die Überwachung der ehemaligen Waffen-SS und der HIAG (S. 192–206) sowie die „Zähmung des Stahlhelms“ (S. 223–229, dort auch in Anführungszeichen).

Ein letztes Schlaglicht sei auf Keßelrings Analyse der frühen „Sicherheits- und Notwehrstrukturen“ (S. 477) der Bundesrepublik geworfen, also die maßgeblich in der Organisation Gehlen und unter Obhut der CIA entwickelten militärischen und nachrichtendienstlichen Notfallplanungen für den Kriegsfall. Aus der umfangreichen, skandalisierenden Presseberichterstattung bereits vertraut ist dabei der archivalische Zufallsfund über das „Unternehmen Versicherungen“: Dabei handelte es sich um Planungen für die Aushebung einer im Kriegsfall etwa 40.000 Mann umfassenden militärischen Truppe, die eine „Kaderorganisation“ darstellte für im Verteidigungsfall „ad hoc aufzustellende reguläre deutsche Streitkräfte“ (S. 255f.). Dieses Armeekorps war zunächst als „Soldatenselbsthilfe“ im Jahr 1948 als „Hausmacht“ Wildermuths gegründet und im Juli 1951 in die Organisation Gehlen eingegliedert sowie durch Albert Schnez übernommen worden, der später eine bemerkenswerte Karriere innerhalb der Bundeswehr bis hin zum Heeresinspekteur durchlief.5 Keßelring vermutet, dass es weitere solcher Organisationseinheiten gegeben haben müsse. Gleichermaßen anregend sind seine Ausführungen zu den „Stay-Behind“-Strukturen der Organisation Gehlen, die bis ins Jahr 1955 unter amerikanischer Kontrolle standen. Diese hätten ausschließlich einen „nachrichtendienstlichen Charakter“ aufgewiesen und im Kriegsfall als „Auge und Ohr für die U.S. Army fungiert“ (S. 472f.). Insgesamt bilden die Einblicke in die konzeptionelle wie organisatorische Binnenlogik des sogenannten „Storch-Netzes“ (bei sowjetischer Besatzung zurückbleibende Ein- oder Zwei-Mann-Teams), das Stützpunktnetz „Fox“ zur Versorgung und Unterstützung der „Störche“ als auch das Programm „Wiesel“ (Vergrabung von Ausrüstungsgegenständen) einen instruktiven Einblick in die nachrichtendienstlichen Verteidigungspläne und -praktiken der Organisation Gehlen, die weiterhin einer detaillierteren zeithistorischen Aufarbeitung harren (S. 268–312).

Agilolf Keßelring hat mit seiner Studie einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Vorgeschichte der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik geleistet und dabei gleichzeitig zur Vermessung der westdeutschen Geheimdienstgeschichte beigetragen, einer nach wie vor nur fragmentarisch kartographierten terra incognita. Ein großes Verdienst seiner Arbeit ist darüber hinaus die Erschließung bislang unbekannter Einzelquellen, die für zukünftige militärgeschichtliche Forschungen gewiss einen reichen Fundus darstellen. Allerdings leidet das Buch unter einigen Längen und Redundanzen sowie einem bisweilen etwas zu episodenhaft geratenen Erzählstil, der stark vom vorgefundenen Quellenmaterial geprägt zu sein scheint. Der Mut zu mehr Stringenz hätte das Lesevergnügen deutlich gesteigert. Trotz dieser kleineren Einwände sei die Studie allen militärhistorisch interessierten Leser/innen mit Nachdruck empfohlen, die einen erweiterten Blick auf die personellen Netzwerke, (soldatischen) Mentalitäten und verteidigungspolitischen wie nachrichtendienstlichen Konzepte hinter der westdeutschen Wiederbewaffnung werfen wollen. Zugleich macht Keßelrings Buch große Lust auf weitere Forschungen zu diesem Gebiet, das man künftig gewiss auch mit stärker kulturhistorisch geprägten Zugängen erschließen könnte. Ferner bleibt aufgrund des bisher verwehrten Aktenzugangs etwa die Rolle der britischen und französischen Geheimdienste in diesem spannenden „Game of Spies“ der unmittelbaren Nachkriegszeit weitestgehend unterbelichtet. Es ist zu hoffen, dass auch diese Quellenbestände bald offengelegt werden.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa als wichtiger Bezugspunkt für das interne Selbstverständnis des BND die Autobiografie Gehlens: Reinhard Gehlen, Der Dienst. Erinnerungen 1942–1971, Mainz 1971; vgl. dazu auch die verdienstvolle, gleichsam demaskierende zweibändige Gehlen-Biografie von Rolf-Dieter Müller, Reinhard Gehlen. Geheimdienstchef im Hintergrund der Bonner Republik. Die Biografie, 2 Bde., Berlin 2017, die inzwischen ebenfalls in der Schriftenreihe der UHK erschienen ist.
2 Website der Kommission: <http://www.uhk-bnd.de> (25.05.2018); Buchreihe: <http://www.christoph-links-verlag.de/index.cfm?view=4&kat_id=281=281> (25.05.2018). Bislang sind acht Bände erschienen, sechs weitere sind für 2018/19 noch geplant.
3 Vgl. Gehlen, Der Dienst, S. 215.
4 Siehe dazu auch Agilolf Keßelring / Thorsten Loch, Der „Besprechungsplan“ vom 5. Januar 1950 – Gründungsdokument der Bundeswehr? Eine Dokumentation zu den Anfängen westdeutscher Sicherheitspolitik, in: Historisch-Politische Mitteilungen 22 (2015), S. 199–229.
5 Vgl. dazu etwa die Artikel von Klaus Wiegrefe, Adenauer und die Geheimarmee, in: Spiegel, 12.5.2014, S. 47–49, <http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-126954483.html> (25.05.2018), und Sven Felix Kellerhoff, So geheim war Adenauers Geheimarmee wirklich, in: Welt Online, 13.5.2014, <https://www.welt.de/geschichte/article127957850/> (25.05.2018).

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