B. Herz: Zur historischen Proximetrie einer Wissenschaftsdisziplin

Titel
Zur historischen Proximetrie einer Wissenschaftsdisziplin. Sonderpädagogik und die Dialektik von Inklusion und Exklusion


Autor(en)
Herz, Birgit
Reihe
Perspektiven sonderpädagogischer Forschung
Erschienen
Bad Heilbrunn 2017: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
116 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Klemens Ketelhut, Heidelberg School of Education, Universität Heidelberg

Birgit Herz, Professorin für Pädagogik bei Verhaltensstörung an der Leibniz-Universität Hannover und langjährige Vorsitzende der Sektion Sonderpädagogik in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, stellt einen Text vor, der aus einer Studie anlässlich des 50jährigen Bestehens ebendieser Sektion entstanden ist. Der Zugang der Arbeit ist quellenbasiert und in einem weiteren Sinne als historiographisch zu bezeichnen. Die Autorin kennzeichnet ihren Text selbst als „kursorische Erinnerungen an spezifische Ereignisse, personale Verflechtungen, Institutionen oder Traditionen, die in Verbindung mit der Entwicklung der Institution Sonderpädagogik dargestellt werden“ (S. 10).

Der Text wechselt zwischen diachronen und am besten als systematisch zu bezeichnenden Darstellungen, ein Vorgehen, das dem gewählten Anliegen, einen als historisch zu verstehenden Zugang mit einem thematischen Schwerpunkt zu verschränken, gerecht wird. Die Entwicklungen innerhalb der Sektion werden so anhand des Verhältnisses zwischen Exklusion und Inklusion als einem genuinen disziplinären Spannungsfeld dargestellt. Der zugrundeliegende Ansatz, nicht eine stringent historische Erzählung zu konzipieren, sondern eher auch an bedeutsamen Wendepunkten und Veränderungen einzusetzen, ergibt ein vitales Bild der Entwicklung sowohl der Disziplin als auch der Sektion. Entsprechend nutzt die Autorin als Quellen Tagungsdokumentationen und Veröffentlichungen aus der Sonderpädagogik und ihr angrenzenden Disziplinen, weiterhin stützt sie sich auf einen strukturierten Austausch mit Fachkolleg/innen.

Birgit Herz strukturiert ihren Text in verschiedene Schritte. Zunächst werden die ersten drei Jahrzehnte der Sektion unter der Perspektive sozio-ökonomischer und kultureller Deutungsprozesse, insbesondere hinsichtlich bildungspolitischer Veränderungen in diesem Zeitabschnitt, vorgestellt. Darauf folgt als nächster Schritt die „Profilierung“ der Sonderpädagogik als Wissenschaftsdisziplin, die sowohl anhand von Kontroversen zwischen den Protagonist/innen, die vor allem zwischen den Polen Integration und Separation oszillierten, verstanden wird. In dieser Auseinandersetzung findet auch die Wahrnehmung von sozialen Ungleichheitslagen durch soziale Herkunft eine zunehmende Bedeutung. Eine besonders deutliche Kontroverse sieht die Autorin in der Auseinandersetzung zwischen einer „restaurativen“ (= das Sonderschulwesen legitimierenden) und einer „kritischen“ Sonderpädagogik, die sich wissenschaftlich Themen wie „Macht, Unterdrückung, Entfremdung, Anerkennung und Autonomie“ (S. 29) widmete – als Beispiel für diese kritische Perspektive wird der in den 1970er-Jahren etablierte sonderpädagogische Studiengang an der Universität Bremen genannt. Diese Kontroverse sieht sie bis heute als Teil der Disziplin, wenngleich mit anderen Vorzeichen.

Ein zentrales Thema im Kontext von Professionalisierung und Profilierung ist die jeweilige bildungspolitische Situation und deren Einfluss auf die im Fach verhandelten Gegenstände und Inhalte. Diese wird in einem leider sehr knappen Exkurs auch für zwei an die Sonderpädagogik angrenzenden Disziplinen, die Grundschulpädagogik und die allgemeine Erziehungswissenschaft, aufgerufen.

In einem Einschub – der diachronen Logik allerdings folgend – wird dann die Situation in der ehemaligen DDR und vor allem die nach der Wende vorgestellt und problematisiert. Hier werden auch zentrale Traditionslinien der Rehabilitationspädagogik der DDR rekonstruiert und anhand des Beispiels der Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten präzisiert. Diese Gruppe wurde, in sowjetrussischer Tradition – unter einem defektologischen Blickwinkel gesehen, und entsprechend können als zwei zentrale Reaktionen auf dieses als unerwünscht verstandene Verhalten pharmakologische Therapien und „Umerziehung“ als Maßnahmen gesehen werden. Gleichzeitig eruiert die Autorin hier ein Forschungsdesiderat: Es fehle, bis auf die Ausnahme der Pädagogik für Kinder und Jugendliche, die als „verhaltensgeschädigt“ beschrieben wurden, eine systematische Forschung über die Theorie- und Praxisentwicklung der Disziplin, sowohl in der DDR als auch in der Zeit nach der Wiedervereinigung.

Dennoch können verschiedene theoretische Einflussfaktoren auf die Sonderpädagogik ausgemacht werden, die zum einen auf die innere Differenzierung des Faches, aber auch auf eine Öffnung der sie interessierenden Gegenstände und damit eine Bewegung hin zu Auseinandersetzungen, die nicht nur die Sonderschule als Zentrum haben, verweisen. Hier stellt Birgit Herz vier systematisch unterschiedlich gelagerte Forschungsschwerpunkte und ihre Bedeutung für die disziplinäre Weiterentwicklung vor, was gleichzeitig auch bedeutet, dass nun die bisherige Erzählweise zugunsten von Rückgriffen verlassen wird. Neben der Frauen- und Geschlechterforschung, den Disability-Studies und den durch die Rezeption von Peter Singers „Praktischer Ethik“ entstandenen Diskussionen spielt der Arbeitskreis „Sonderpädagogik und Dritte Welt“ eine entscheidende Rolle. Es ist bemerkenswert, dass sich in mindestens drei dieser Bereiche Perspektiven sozialer Bewegungen wiederfinden lassen, deren politische Programmatiken so pädagogisch bearbeitet werden sollten. Damit wird hier eine generell für das Fach Erziehungswissenschaft zentrale Figur aufgerufen, nämlich die Auseinandersetzung nach dem Einfluss sozialer Bewegungen und dem Grad der Offenheit der Disziplin, diese zu adaptieren und in die eigene Bearbeitungslogik zu integrieren.

Im Folgenden wird der als zentral verstandene Antagonismus von Exklusion und Inklusion noch einmal historisch und systematisch konturiert und in zweifacher Hinsicht gelesen: zum einen als thematisch kontinuierliche Kontroverse innerhalb des Faches und zum anderen als Struktur des Verhältnisses zwischen der Sonderpädagogik und dem Wissenschaftsbetrieb. Besonders das Thema „Lebenslage Armut und Bildungsbenachteiligung“ wird hier in den Blick genommen und als ein genuin sonderpädagogisch zu bearbeitendes verstanden. Gleichzeitig weist die Autorin auf die dialektische Struktur der Inklusion als potenziell an eine neoliberale Agenda anschlussfähig hin. Abgeschlossen wird der Text mit einer Darstellung der Position der Sektion Sonderpädagogik innerhalb der DGfE, die dahingehend kritisch interpretiert wird.

Dieser kurze Text, mit dem Birgit Herz die Geschichte einer Disziplin als Geschichte ihrer Kontroversen, ihrer Ambivalenzen und ihrer Konflikte erzählt, hat vor allem das Manko, dass er zu kurz geraten ist. Zu kurz, weil viele der angeschnittenen Auseinandersetzungen mehr Platz in der Darstellung verdient hätten. Zwar ist die Ausführlichkeit die Ermessenssache der Autor/in, aber sicher interessiert sich nicht nur der Rezensent für eine ausführlichere historiographische und genealogische Darstellung. Die Quellen und Darstellungen sind in einem beeindruckenden Literaturverzeichnis gesammelt und geben einen Hinweis darauf, dass hier noch einiges zu bearbeiten ist. Insbesondere von Bedeutung erscheint, dass die Sonderpädagogik, ähnlich wie die allgemeine Erziehungswissenschaft, stark von sozialen Bewegungen beeinflusst wurde. Dieser Zusammenhang wird benannt, aber weder inhaltlich noch anhand von personellen oder organisationalen Verflechtungen genauer bearbeitet, womit ein zentraler Erkenntnisgewinn verschenkt scheint. Die auf den ersten Blick etwas verwirrende Anordnung der Kapitel – der zwischenzeitliche Wechsel von einer diachronen Erzählung zu zwar historisch eingeordneten aber dann doch eher systematischen Auseinandersetzungen – folgt der Logik der Anlage des Textes. Die Entwicklung der Disziplin als Geschichte von Spannungsverhältnissen und Antagonismen zu entwickeln, zeigt sich als fruchtbares Vorgehen. Das Bändchen kann sowohl den an Bildungsgeschichte, den an Disziplinentwicklung und den mit Inklusion arbeitenden Leser/innen empfohlen werden.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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