Cover
Titel
Die Rote Armee Fraktion. Eine Geschichte terroristischer Gewalt


Autor(en)
Terhoeven, Petra
Reihe
C.H. Beck Wissen 2878
Erschienen
München 2017: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 9,95
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Kevin Lenk, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Wenige Bücher wagen gleich zum Auftakt den Sprung in die scheinbare Paradoxie. Petra Terhoevens in der Reihe Beck-Wissen erschienener Überblicksband zur Geschichte und Nachgeschichte der RAF allerdings schon. Die Göttinger Inhaberin des Lehrstuhls für Europäische Kultur- und Zeitgeschichte, die in diesem Themengebiet auch ihre Habilitation verfasst hat, eröffnet ihr pünktlich zum 40. Jubiläum des „Deutschen Herbstes“ erschienenes Buch mit Walter Laqueurs irritierter Feststellung über die Rote Armee Fraktion: „Selten ist so viel über so wenige geschrieben worden“. (S. 7) Terhoeven nimmt den Leser daraufhin auf einen Sprint durch die Geschichte der RAF mit, jedoch – und hier endet das Paradoxe ihres erneuten Anlaufes – nicht als eine weitere Nacherzählung, sondern mit dem Anspruch, die RAF in ihren historischen Zusammenhängen zu verstehen. Motiviert ist sie vor allem dadurch, dass vieles, was gerade jubiläumsbedingt über die Wenigen geschrieben wurde, historische Tiefenschärfe vermissen lasse.

Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, gelte es besonders den Hintergrund des regen publizistischen Nachlebens der RAF zu verstehen. Den sieht Terhoeven vor allem in der historischen Situiertheit des deutschen Linksterrorismus in drei nach wie vor kontroversen Komplexen: Erstens sei die Geschichte der RAF Teil der Nachgeschichte des Nationalsozialismus; sowohl die Gewalttäter als auch staatliche wie mediale Akteure deuteten das blutige Geschehen vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands, die „sich wie ein Wahrnehmungsfilter vor die Wirklichkeit schob“ (S. 8). Zweitens war Deutschlands bekannteste linksterroristische Formation ein Ausläufer der weltweiten 68er-Bewegungen mit ihren internationalistischen Ansprüchen sowie ihren transnationalen Vernetzungen und Transfers. Drittens verortet Terhoeven die RAF in der längeren Geschichte des Terrorismus. Die RAF partizipiere in der Geschichte der modernen politischen Gewalt an vielen bis heute wirksamen Kontinuitäten terroristischen Agierens, stelle jedoch spätestens seit dem 11. September 2001 ein endgültig entferntes Kapitel ihrer Geschichte dar.

Im Anschluss an die thesengeleitete Eröffnung nimmt Terhoeven den Leser über sechs Kapitel mit durch die Geschichte der drei „Generationen“ der RAF. Die ersten beiden Kapitel behandeln den Weg einiger sich selbst als avantgardistisch verstehender West-Berliner Linker hin zur Gewalt sowie den Weg des, abgesehen von Ulrike Meinhof, in der Szene eigentlich randständigen „Führungsquartetts“ der RAF in die terroristische Klandestinität sowie ihre Theorie und Praxis. Terhoeven betont dabei die radikalisierenden interpersonalen Dynamiken von Isolation, Konkurrenz und gegenseitiger Ermöglichung, die Baader, Ensslin, Mahler und Meinhof letztendlich zur Gewalt brachten. Im West-Berlin nach 1968 überboten sich vor dem Hintergrund der ambivalenten Sprache der Gewalt der antiautoritären Revolte einige Radikale – namentlich sammelten sich diese um Dieter Kunzelmann und Andreas Baader –, wobei letzterer gemeinsam mit Gudrun Ensslin dann durch die Frankfurter Kaufhausbrandstiftung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Nach der Flucht der beiden nach Italien und Baaders erneuter Verhaftung stießen noch Mahler und Meinhof dazu. Die vier entwickelten miteinander eine Dynamik, in der jeder Beteiligte den anderen eine avantgardistisch-revolutionäre Identität ermöglichen sollte. Daraus ging eine Gruppe hervor, die in ihren Texten nicht mit einem utopischen Programm, sondern mit einem voluntaristisch-gewaltsamen Normenkatalog und collagenhaften Theorienanleihen firmierten. Diese sollten aber letztendlich nur den simplen Fakt übertünchen, dass eine fetischisierte Tötungs- und Todesbereitschaft als Form moralischer Überlegenheit den Markenkern der Terrorgruppe darstellte. Anschließend stehen die staatlichen und gesellschaftlichen Reaktionen auf den Linksterrorismus sowie die Transformation der RAF in eine Selbstviktimisierungsformation im Rahmen ihrer Hungerstreiks im Zentrum des dritten Kapitels.

Während das vierte Kapitel die Eskalation der Gewalt und entsprechender gesellschaftlicher Reaktionen vor dem Hintergrund der Morde des Jahres 1977 nachzeichnet, befasst sich das fünfte Kapitel mit dem Übergang von der „zweiten Generation“ der RAF zur bis heute kaum fassbaren dritten. Im ersten Teil beleuchtet es den Ausstieg einiger RAF-Mitglieder und ihr Untertauchen in der DDR, im zweiten Teil erzählt es die Geschichte der dritten Generation entlang der von ihnen begangenen Anschläge. Im letzten Kapitel thematisiert Terhoeven das – oftmals problematische, weil täterfixierte – Nachleben der RAF in der öffentlichen und künstlerischen Erinnerung, wobei sie sensibel die schwierige öffentliche Position der Hinterbliebenen der RAF-Opfer nachzeichnet.

In einem Epilog bilanziert Terhoeven die Geschichte der RAF. Dass sich aus der weit fortgeschrittenen zeithistorischen Aufarbeitung der RAF Lernprozesse ableiten ließen, lehnt sie ab und betont die prinzipielle historische Kontingenz der damaligen Gewalteskalation. Sie rückt stattdessen interpersonale, mediale und situative Faktoren in den Vordergrund. Letztendlich sei die RAF eben keine programmatisch durchdachte Formation, sondern der gescheiterte Versuch junger Menschen gewesen, mit dem Gewehr eine alternative Identität außerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu finden.

Terhoevens Überblicksband beeindruckt immer wieder dadurch, mit welcher Präzision die Autorin den Leser auf lediglich 124 Seiten durch die fast drei Jahrzehnte umspannende Geschichte der Roten Armee Fraktion führt, ohne je die historischen Tiefendimensionen und Dynamiken der RAF und ihrer Gewalt aus den Augen zu verlieren. Klar und thesengeleitet leuchtet sie nicht nur die verschiedenen Facetten und Verzweigungen des Themenkomplexes aus, sie dekonstruiert auch die gängigsten Mythen der RAF, kritisiert den oftmals bedenklichen künstlerischen und popkulturellen Umgang mit ihrer Geschichte genauso wie die unerhörte Praxis deutscher Geheimdienste, eine Erforschung ihrer eigenen Rolle nach wie vor zu verunmöglichen. Darüber hinaus thematisiert Terhoeven das Ignorieren und Instrumentalisieren der Opfer der RAF und ihrer Angehörigen von staatlicher und parteipolitischer Seite, wie sie ebenfalls die kaltschnäuzige Blindheit weiter Teile der zeitgenössischen radikalen Linken für deren Leid anspricht. Dabei wird passend wie präzise betont, dass eine Geschichte der Opfer der RAF „eine Geschichte vielfacher, sich überlagernder Instrumentalisierungen“ (S. 108) sein dürfte. Die sei dann keine Alternative zu bisher täterzentrierten Erzählungen. Vielmehr gelte es, die Geschichte der Opfer „in die bekannte Geschichte des Terrorismus zu integrieren, um sie selbst dadurch zu verändern“ (S. 109).

Der Band profitiert besonders davon, dass Terhoeven die Ergebnisse und Thesen ihrer Habilitation einfließen lässt. Immer wieder betont sie die transnationalen Verzweigungen und Dynamiken der linken Gewaltformationen in Deutschland, Italien und Frankreich. Dadurch fügt sie der gängigen Geschichte linker Gewalt eine erhellende Dimension hinzu. Besonders stark sind auch jene Momente, wo die Autorin persönliche und gruppeninterne Binnendynamiken der Eskalation der Gewalt ausleuchtet. Dabei gelingt es ihr, Gruppen- und Binnendynamiken der Eskalation als jene kontingente historische Prozesse auszuweisen, die sie waren. Gerade hier liefert Terhoevens Überblicksband auch ein gutes Argument für eine sozial- und kulturwissenschaftlich verortete historische Konfliktforschung: Eskalationen, etwa terroristischer Gewalt, sind eben keine unausweichlichen Ergebnisse psychischer Dispositionen. Sie sind komplexe und historisch offene Prozesse von Transfers und Ausschließungen, Konkurrenz und Kooperation.

Einen Vorbehalt gilt es dennoch zu formulieren. Im Anschluss an die jüngere Terrorismusforschung hätte Terhoeven noch eine vierte historische Verortung des Phänomens RAF in der Geschichte deutscher Staatlichkeit vornehmen können: Zwar spricht sie die im europäischen Vergleich noch milde ausfallenden staatlichen (Über-)Reaktionen und die Deliberalisierung des Strafrechts an. Sie hätte die Perspektive aber noch insofern erweitern können, dass im Falle der RAF ein liberaler Rechtsstaat nicht nur das Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit und damit zusammenhängende Rechtsgüter abwägen musste. Vielmehr musste (Rechts-)Staatlichkeit selbst nach einer Phase der Liberalisierung sowie vor dem Hintergrund der irritierenden politischen Gewalt und anderer zeitgenössischer Krisenphänomene immer wieder neu verhandelt und hergestellt werden.1 Diese Anmerkung ist dann aber zugegebenermaßen Kritik auf hohem Niveau, wenn man bedenkt, wie viel Erhellendes und Kritisches Terhoeven so kondensiert geschrieben hat.

Anmerkung:
1 Paradigmatisch für diese Forschungsrichtung: Gabriele Metzler, Konfrontation und Kommunikation. Demokratischer Staat und linke Gewalt in der Bundesrepublik und den USA in den 1970er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 249–277, und Anne Kwaschik, Folter in der Republik? Gewalt, rechtsstaatliche Ordnung und „emotionale Navigation“ in der Auseinandersetzung liberaler Demokratien mit dem Terrorismus, in: Claudia Jarzebowski / Anne Kwaschik (Hrsg.), Performing Emotions. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Verhältnis von Politik und Emotion in der Frühen Neuzeit und in der Moderne, Göttingen 2013, S. 283–305.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/