Cover
Titel
The Hamlet Fire. A Tragic Story of Cheap Food, Cheap Government, and Cheap Lives


Autor(en)
Simon, Bryant
Erschienen
New York 2017: The New Press
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
$ 26.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Möckel, Historisches Institut, Universität zu Köln

Am 3. September 1991 löste sich in der Imperial Foods Factory in Hamlet, North Carolina, ein notdürftig reparierter Hydraulikschlauch und entfachte einen Brand, dem insgesamt 25 ArbeiterInnen zum Opfer fielen. Bryant Simon nutzt dieses historisch eher periphere und in der amerikanischen Erinnerung kaum präsente Ereignis, um hieraus ein Gesamtbild der gesellschaftlichen Veränderungen in den USA der 1980er- und 1990er-Jahre zu entwickeln. Seine Ausgangsthese ist, dass es sich bei dem Unglück nicht allein um das rücksichtslose Handeln eines „rogue entrepreneurs“ gehandelt habe (obgleich uns ein solcher in der Person von Emmett Roe durchaus vorgeführt wird), sondern um ein Ereignis, das er als „wrongfully ordinary“ (14) versteht. In der Kleinstadt Hamlet, so Simon, ließen sich wie in einer Nussschale die Folgen eines neoliberalen Gesellschaftswandels beobachten, als dessen Kern er schon im Untertitel des Buches eine Kultur des Billigen („idea of cheap“) diagnostiziert.

Simons Buch ist kein historisches Fachbuch. Reflexionen über verwendete Schlüsselbegriffe und Kategorien sucht man ebenso vergebens wie methodologische Überlegungen oder eine kritische Diskussion der verwendeten Quellen, die eklektisch je nach Erkenntnisinteresse herangezogen werden. Im Zweifelsfall geht es dem Autor eher um erzählerische Dynamik als um analytische Differenzierung. Allerdings: dies dem Buch zum Vorwurf zu machen, hieße, einem Sachbuch vorzuhalten, dass es keine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit darstellt. Simons Buch ist stattdessen in erster Linie als eine historisch und soziologisch argumentierende Großreportage zu lesen, die sich in eine längere Reihe ähnlicher Gesellschaftsporträts einordnet, wie sie zuletzt z.B. mit George Packers „The Unwinding“ oder J.D. Vances „Hillbilly Elegy“ größere Aufmerksamkeit erhalten haben. Das Buch ruft darüber hinaus noch eine andere Assoziation hervor: Simons Ansatz, aus einem einzelnen Ereignis und dem dichten sozialen Netz der Kleinstadt Hamlet eine histoire totale zu entfalten, in der sich gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in einem Mikrokosmos verdichten, hat man ebenso überzeugend zuletzt eher im Fernsehen gesehen, wo die Serie „The Wire“ ein ähnlich umfassendes Gesellschaftsbild der Stadt Baltimore in den frühen 2000er-Jahren entworfen hat.

Das erste Kapitel beschreibt zunächst die Entwicklung der Stadt Hamlet von einer boomenden „railway town“ des 19. Jahrhunderts zu einem emblematischen Ort der Deindustrialisierung und den hiermit verbundenen Wegfall beinahe aller gut bezahlten und sicheren Arbeitsplätze. Das zweite Kapitel setzt bei diesem ökonomischen Niedergang an und analysiert, wie North Carolina und andere Staaten im Süden der USA seit den 1960er-Jahren versuchten, die Armut und ökonomische Rückständigkeit der eigenen Region zu einem positiven Standortfaktor zu machen, indem sie mit niedrigen Löhnen, geringen staatlichen Regulierungen und einer kaum existierenden gewerkschaftlichen Präsenz um potenzielle Investoren warben. Unternehmer wie Emmett Roe wussten solche Standortfaktoren zu schätzen: in einem lokalen Umfeld, in dem kaum andere Arbeitgeber existierten, konnten Löhne und Arbeitsbedingungen ohne Widerstand diktiert werden, während sich staatliche Stellen in allen Feldern von Arbeitnehmerrechten, Umweltschutz und Sicherheitsvorschriften in „benign neglect“ übten oder schlicht keine Möglichkeit der wirkungsvollen Kontrolle mehr besaßen. Dieser staatliche Handlungsverlust im Angesicht einer radikalen Machtasymmetrie zwischen Staat und Privatwirtschaft ist auch das Leitmotiv eines weiteren Kapitels mit dem Titel „Deregulation“ und bildet das originellste und für die Zeitgeschichte anschlussfähigste Narrativ des Buches: Es beschreibt im Detail, wie staatliche Deregulierungen nicht in einer Abschaffung oder Lockerung von Gesetzen aufging, sondern in einer grundlegenden Machtverschiebung zwischen staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren. Unternehmer wie Emmett Roe entwickelten das sichere Gespür, dass sie auf Beschwerden von Mitarbeitenden bloß mit der Drohung von Kündigung reagieren konnten und Briefe von staatlichen Stellen – selbst wenn es um die Begleichung von Steuerschulden ging – schlicht ignorieren oder den gesetzlich vorgeschriebenen Zutritt zur Fabrik verweigern konnten. Die zuständigen staatlichen Stellen wiederum insistierten im Zweifelsfall nicht, weil sie sowieso strukturell überfordert waren und zu strenge Kontrollen der selbstproklamierten Kultur der Unternehmerfreundlichkeit zuwidergelaufen wären. Wer sich für eine Geschichte neoliberaler Reformen interessiert, die nicht in einer bloßen Ideengeschichte aufgeht, sondern strukturelle Machtverschiebung in ihrer sozialen Praxis in den Blick nimmt, dem seien diese beiden Kapitel empfohlen.

Die weiteren Kapitel sind eher konventionell und bieten für Experten des Feldes vermutlich relativ wenig Neues. In einer tour de force wird das in der Imperial Foods Factory produzierte Hühnerfleisch zunächst in die Genese eines „poultry capitalism“ in den USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeordnet. Das Kapitel zeichnet nach, wie Hühnerfleisch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem immer billigeren und effizienter produzierten Massenprodukt wurde, dabei aber zugleich die Standards von Tierhaltung, Produktionsbedingungen und Arbeitnehmerrechten radikal gesenkt wurden. Das darauffolgende Kapitel zeichnet die Ebene der Konsumption nach und beschreibt die Entstehung einer auf Hühnerfleisch basierenden Kultur billiger Nahrung. Auch das ist gut und eingängig erzählt. Die Verbindung zum eigentlichen Thema des Buches wird aber eher assoziativ hergestellt, indem auf das Übergewicht zahlreicher MitarbeiterInnen der Fabrik verwiesen wird, über deren Ess- und Alltagsverhalten Simon recht detaillierte – quellentechnisch aber kaum belegte – Spekulationen anstellt.

Das letzte Kapitel nimmt die Erinnerung und Aufarbeitung des Geschehens in den Blick. Hier ist die Perspektive nun relativ eng gewählt. Simon beschreibt detailliert die mediale Berichterstattung, die juristische Aufarbeitung und die lokalen Erinnerungsformen, die in den Jahren nach dem Feuer entstanden. Er betont vor allem, wie schnell sich Erinnerung und Aufarbeitung mit Vorwürfen eines versteckten oder offenen Rassismus verbanden und sich die lokale Erinnerungskultur entlang einer schon vorher unausgesprochen präsenten color line konstituierte. Einer für die historische Kontextualisierung des Ereignisses entscheidenden Frage wird vom Autor aber nicht nachgegangen: Der Frage nämlich, warum aus dem Brand in Hamlet letztlich kein Ereignis mit langfristigen Folgewirkungen wurde. Simon verweist zwar kurz auf die augenscheinlichen Analogien zwischen dem Brand in Hamlet im Jahr 1991 und dem Feuer in der Triangle Shirtwaist Factory im Jahr 1911, das in den folgenden Jahren zum Ausgangspunkt für wichtige Reformen in den USA wurde, die Frage aber, warum Hamlet trotz vieler Analogien nicht zu einem „fire that changed America“1 wurde, bleibt unbeantwortet – und das obwohl mit den in den 1990er-Jahren wiederaufgenommen Debatten über Sweatshops durchaus ein anschlussfähiger Diskurs existierte.

Das Buch enthält zahlreiche Anknüpfungspunkte für aktuelle zeithistorische Forschungen. Das gilt insbesondere für die „culture of cheap“ als Metapher für die gesellschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Gemeint sind hiermit nicht nur die $ 4,49 für 20 Chicken Nuggets, wie man sie auch im lokalen McDonalds von Hamlet kaufen kann, sondern vor allem die Ermöglichungsbedingungen dieser Preise, insbesondere in Bezug auf extrem geringe Löhne, eine dysfunktionale staatliche Regulierung und die auf die Gesamtgesellschaft abgewälzten ökologischen und sozialen Folgekosten. Ellen Ruppel Shell hat den Begriff im Jahr 2009 schon in ähnlicher Weise verwendet.2 Bryant Simons Ansatz, die von Shell proklamierte „age of cheap“ über die Sphäre des Konsums hinaus auszudehnen, ist aber neu und originell. Das gilt vor allem für seine Analyse dieser neuen Kultur als einer „inversion of fordism“, in der niedrige Löhne, die zum Teil unter dem Existenzminimum liegen, genau jene Konsumentennachfrage für billigere Nahrungsmittel und andere Produkte generieren, die die „cheap economy“ am Laufen halten.

Das Buch stellt eine willkommene Herausforderung für die aktuelle Zeitgeschichtsschreibung dar, die noch immer stark von dem Narrativ einer post-industriellen Gesellschaft geprägt ist, in der klassische Industriearbeit implizit als ein Phänomen wahrgenommen wird, das zu anderen Zeiten oder anderen Orten stattfindet. Für eine Zeitgeschichte, die einen kritischen Blick auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit „nach dem Boom“ entwickeln möchte, ist Simons Metapher einer „culture of cheap“ dabei womöglich in der Tat eine spannendere und intellektuell herausforderndere Perspektive als jene immer wieder betonte Beschleunigung eines „fast capitalism“, der sich als „keystroke capitalism“ angeblich nur noch in den virtuellen Räumen globaler Finanzmärkte abspiele.

Anmerkungen:
1 David von Drehle. Triangle. The Fire that Changed America, New York 2003.
2 Ellen Ruppel Shell, Cheap. The High Cost of Discount Culture, New York 2009.

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