S. Jenzer (u.a.): Psychiatrische Klinik Burghölzli

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Titel
Eingeschlossen. Alltag und Aufbruch in der psychiatrischen Klinik Burghölzli zur Zeit der Brandkatastrophe von 1971


Autor(en)
Jenzer, Sabine; Keller, Willi; Meier, Thomas
Erschienen
Zürich 2017: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
168 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Markus Furrer, Pädagogische Hochschule Zentralschweiz

Die Historikerin Sabine Jenzer und der Historiker Thomas Meier legen zusammen mit dem Fotografen und ehemaligen Psychiatriepfleger Willi Keller einen Band zur Psychiatriegeschichte vor, der auf breite mediale Resonanz gestossen ist.1 Anlass zur Publikation waren Fotografien von Willi Keller, die dieser 1970 vom Alltag in der Psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich mit Blick auf eine geplante Ausstellung gemacht hatte. Kurze Zeit später, im März 1971, brach ein verheerender Brand in der Klinik aus, bei dem 28 Patienten ihr Leben verloren. Die Fotoausstellung kam nach dieser Katastrophe nicht zustande und die Bilder gerieten in Vergessenheit. In der Zwischenzeit hat im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Geschichte der Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnamen in der Schweiz auch die Klinik- und Anstaltengeschichte grosse Aufmerksamkeit erfahren. So erteilten etwa verschiedene Schweizer Kantonsregierungen Forschungsgruppen den Auftrag, die Psychiatriegeschichte aufzuarbeiten. Im Fokus stehen insbesondere Medikamentenversuche an Patientinnen und Patienten.2 Vor diesem Hintergrund kam die Idee auf, die ausdrucksstarken Schwarz-Weiss-Fotografien, die sich im Zürcher Staatsarchiv befinden, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Das Buch zeichnet sich durch seine besonderen Zugänge aus, indem es Elemente einer kritischen und künstlerisch ausgezeichneten Fotoreportage mit historisch analytischen Beiträgen verbindet. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Im Zentrum und Mittelteil stehen die Fotografien von Willi Keller, der dazu auch die Bildlegenden verfasst hat. Sie dokumentieren den Alltag der Patienten und Psychiatriepfleger. Es handelt sich um männliche Patienten, die Keller fotografierte und zu denen er als Pfleger ein besonderes Verhältnis aufgebaut hatte, was sich auch in den Fotografien widerspiegelt. Der Brand brach in der Männerabteilung der Klinik aus, die damals noch strikt geschlechtersegregiert war. So versteht sich das Buch denn auch als Hommage an die 28 Männer, die in der Brandnacht ihr Leben verloren. Eine Namensliste der Opfer des Brandunglücks wurde damals nicht veröffentlicht, psychische Erkrankungen wurden noch vorwiegend tabuisiert.

Zwei historische Untersuchungen umrahmen den fotografischen Teil: Als Auftakt steht die Abhandlung der Brandkatastrophe vom 6. März 1971, die hohe politische und publizistische Wellen warf und juristisch zu klären war. Das Autorenteam der Studie beleuchtet vor allem die Zeit der Brandkatastrophe, als sich nicht nur das Burghölzli, sondern auch andere psychiatrische Kliniken und die Psychiatrie generell in einer Phase des Auf- und Umbruchs befanden. Mit Hilfe der Oral History werden Erinnerungen an das Brandunglück sowie an den Klinikalltag und die Arbeit in der Klinik wachgerufen. So werden, wie die Autoren vermerken, „Blicke hinter die Mauern des Burghölzli geworfen, die in keinem Jahresbericht aufscheinen und nicht in den Krankenakten ihren Niederschlag gefunden haben“ (S. 11).

Mit dem Einblick in den ungewohnten Psychiatriealltag schafft der Band Alterität und weckt so das Interesse an der Vergangenheit. Eindrücklich sind die Aufnahmen der Patienten und die kurzen Geschichten dazu, die Willi Keller als Bildlegenden formuliert. Im einleitenden Teil zum Brandunglück wird sichtbar gemacht, wie sich die Katastrophe ereignete und wie verhängnisvoll die zeitlichen Umstände und Verknüpfungen waren. Damals, wie auch heute, schockierte der Tod der eingeschlossenen Patienten und liess das Ereignis besonders dramatisch erscheinen: „Weil die meisten Fenster vergittert und viele Türen abgeschlossen sind, kann man bei uns ohne Schlüssel nichts machen“ (S. 42). Auch die Rettungskräfte standen vor vergitterten Fenstern. Die Türen mussten gesprengt werden, um Einlass zu erlangen. In der damaligen Debatte, die schnell Dimensionen einer parteipolitischen Auseinandersetzung annahm, kritisierten die Sozialdemokraten die bürgerliche Ratsmehrheit im Kantonsparlament, die sich gegen eine zusätzliche psychiatrische Klinik gestemmt hatte und damit eine Überfüllung des Burghölzli in Kauf genommen habe. Aus der aktuellen Optik wird deutlich, wie einfach, beengt und bescheiden die Patienten in der damaligen Klinik untergebracht waren.

Dieser Spur geht auch der dritte Teil zum „Alltag und Wandel im Burghölzli um 1970“ nach. Die Anlage beherbergte in dieser Zeit um die 530 Personen. Überfüllte Mehrbettzimmer waren an der Tagesordnung. Für Privatpatienten gab es Einzelzimmer. Dort habe eine andere Stimmung geherrscht, „ruhig und vornehm und rücksichtsvoll“, und die Caféteria sei mit Stilmöbeln ausgestattet gewesen (S. 118). Im Ablösungsprozess befanden sich auch die sogenannten grossen Kuren, mittels derer Patienten bis anhin ruhig gestellt worden waren und die durch Medikamenteneinnahme abgelöst werden konnten.3 Neueintretende gelangten je nach ärztlicher Einschätzung in die „unruhige“ oder „ruhige“ Aufnahmestation. In ersterer seien die Tische und Stühle angeschraubt gewesen und die Zellen hätten „armselig“ gewirkt (S. 115). Deplorable Zustände herrschten vor allem im sanitären Bereich. In den Interviews mit ehemaligem Pflegepersonal sowie Ärztinnen und Ärzten kommt die Alltagssituation detailliert zur Sprache. Die Themen reichen von der Infrastruktur über „Gerüche, Geräusche, Farben und Stimmungen“ aus der Erinnerung der Befragten bis hin zum Alltag des Personals, dem Umgang mit Gewalt, den Therapien oder auch der zeitgenössischen „antipsychiatrischen Kritik“. Die Untersuchung liefert hier mustergültige Vorlagen und Beispiele, wie mittels Oral History solche Themen erschlossen werden können. Die letzten beiden Kapitel widmen sich der Umbruchzeit um 1970 und der Entwicklung hin zur Gegenwart.

Der Band zum „Alltag und Aufbruch in der psychiatrischen Klinik Burghölzli“ verbindet eine gelungene Synthese mit einer eindrucksvollen Fotoreportage, die vor dem Brand mit ganz anderen Absichten angegangen worden war und uns über vier Jahrzehnte später in eine Zeit des Umbruchs der Psychiatrie zurückführt. Mittels historischer Analysen werden die Brandkatastrophe rekonstruiert und damit gleichzeitig gesellschaftliche und politische Prozesse sichtbar gemacht. Auch die Erinnerungen von Personen aus dem Pflege- und Ärzteteam im dritten Teil führen zurück in das Psychiatriewesen der frühen 1970er-Jahre. Der Autorengruppe gelingt mit ihrer sorgfältig gefertigten und konzeptionell höchst innovativen Recherche, den Alltag in der Klinik von Patienten wie auch dem Pflegepersonal und der Ärzteschaft zu rekonstruieren und die Psychiatrie in einer Zeit des Umbruchs zu erfassen. Mittels eines Ausblicks in die Gegenwart zeichnen sie schliesslich auch Kontinuitäten nach.

Anmerkungen:
1 U.a.: Dorothee Vögeli, Hinter verschlossenen Türen erstickt. 1971 sterben bei einem Brand 28 Patienten – ein Buch beleuchtet den damaligen Klinikalltag, in: Neue Zürcher Zeitung, 14.11.2017, S. 19; Rolf App, Die Eingeschlossenen von Zürich, in: Neue Luzerner Zeitung, 30.11.2017, online: http://www.luzernerzeitung.ch/nachrichten/kultur/die-eingeschlossenen-von-zuerich;art9643,1149766 (03.12.2017); siehe hierzu auch die Medienmitteilung des Staatsarchivs Zürich: Kanton Zürich, Medienmitteilung / Bilder einer vergessenen Brandkatastrophe / https://www.zh.ch/internet/de/aktuell/news/medienmitteilungen/2017/bilder-einer-vergessenen-brandkatastrophe.html (03.12.2017).
2 Siehe etwa: Gregor Spuhler, Gerettet – zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie und Wiedergutmachung, Zürich 2011; Eric J. Engstrom, Rezension zu: Marietta Meier, Spannungsherde. Psychochirurgie nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2015, in: H-Soz-Kult, 28.06.2017, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25233 (03.12.2017).
3 Ein Korrekturhinweis: Das auf S. 137 genannte Antidepressivum heisst Tofranil, nicht Dopamin.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/