A. Messina: American Sociology and Holocaust Studies

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Titel
American Sociology and Holocaust Studies. The Alleged Silence and the Creation of the Sociological Delay


Autor(en)
Messina, Adele Valeria
Erschienen
Brighton, MA 2017: Academic Studies Press
Anzahl Seiten
XXXVIII, 459 S.
Preis
$ 109.00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Michael Becker, Friedrich-Schiller-Universität Jena

In den vergangenen zehn Jahren ist das Verhältnis von Soziologie und Nationalsozialismus wieder zum Gegenstand einer produktiven und bisweilen polemischen Debatte geworden. Dabei haben sich mehrere Diskussionsstränge herauskristallisiert. Galt die Aufmerksamkeit zunächst – wie zuvor bereits in den 1980er-Jahren – der Soziologie im Nationalsozialismus, so verlagerte sich die Debatte in der Folge zunehmend auf die Fachgeschichte nach 1945 und die Frage, warum der Nationalsozialismus als Forschungsgegenstand zu keinem Zeitpunkt im Kern der Disziplin verankert werden konnte. In jüngster Zeit rückten dann, insbesondere durch die Beiträge des Bielefelder Organisationssoziologen Stefan Kühl, vermehrt die möglichen Erträge einer soziologischen NS-Forschung in den Mittelpunkt. Schließlich, und mit den anderen Zugängen eng verwoben, wurde über das historische und gegenwärtige Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft reflektiert und dies vor dem Hintergrund, dass die Geschichtswissenschaft sich längst nicht nur der Gesellschaft des Nationalsozialismus als Forschungsgegenstand angenommen hat, sondern in ihren Analysen auch auf soziologische Theorien zurückgreift. Dabei ist die skizzierte Diskussion im Wesentlichen auf die deutschsprachige Forschung bezogen. Internationale Stimmen kommen kaum zu Wort und die Debatte hat den Atlantik bisher nicht überspringen können. Das ist nicht nur überraschend, weil mit Zygmunt Baumans „Modernity and the Holocaust“ der Schlüsseltext der Diskussion aus dem angelsächsischen Raum stammt. Es stellt vor allem deshalb ein Defizit dar, weil die Soziologie (wie die Geschichtswissenschaft) als transnationales wissenschaftliches Feld nachhaltig durch die Wirkungen des Nationalsozialismus geprägt wurde, vermittelt durch (erzwungene) Migration und Wissenstransfer sowie die Wissenschaftspolitiken der aufeinanderfolgenden politischen Regime.

Vor diesem Hintergrund verspricht die an der Universität Kalabrien entstandene Dissertation von Adele Valeria Messina den Blick auf das Feld der amerikanischen Soziologie zu erweitern. Messina durchschreitet in ihrer Arbeit die Disziplin von den 1930er-Jahren bis in die Gegenwart. Ihr Interesse gilt der Frage, ob es eine Verzögerung („delay“) soziologischer Holocaustforschung gegeben hat und, wenn ja, wie diese zu erklären sei. Dabei rekonstruiert Messina vier Phasen im Verhältnis von Soziologie und Holocaust: Zunächst die von 1945 bis in die 1960er-Jahre reichenden Nachkriegsjahre, wobei die genaue Begrenzung unklar bleibt und auch Rückgriffe auf die Zeit des Nationalsozialismus gemacht werden. Für diese Zeitspanne nimmt sie insbesondere die Arbeiten emigrierter Sozialwissenschaftler/innen, insbesondere von Vertretern der Kritischen Theorie sowie der wenigen Deutschland-Experten in der amerikanischen Soziologie in den Blick. Dabei bleiben die etwa von Franz Neumann und Herbert Marcuse während ihrer geheimdienstlichen Tätigkeiten verfassten Deutschland-Analysen unbeachtet. Darauf folgen die 1970er-Jahre, für die sie eine soziologische Hinwendung auf die Vernichtung der Juden konstatiert. Die dritte Phase 1980–1989 sieht sie durch die Entwicklung einer „Sociology of Genocide“ gekennzeichnet. Das letzte Kapitel schließlich steht unter der Überschrift „The Problems of the Holocaust after 1989“, wobei kein einendes Merkmal der hier diskutierten Arbeiten genannt wird, die sich inhaltlich von erinnerungskulturellen Studien bis zu soziologischen Analysen jüdischen Widerstands erstrecken.

Mit ihrer Untersuchung beansprucht Messina nicht weniger als „to rewrite the history of the sociology of the Holocaust and, at the same, sociology itself“ (S. 381). Trotz einer äußerst akribischen Forschungsarbeit ist sie mit diesem Anspruch gescheitert. Dafür ist zunächst der zu groß veranschlagte Untersuchungszeitraum verantwortlich. Die bestenfalls vage Charakterisierung der genannten Phasen deutet bereits darauf hin, dass hier äußerst disparate Ansätze, Werke und Diskussionszusammenhänge zusammengefasst werden. Das wäre schon bei exemplarischer Analyse ein gewagtes Unterfangen. Messina aber formuliert – und zwar als einzige methodologische Grundlage ihrer Untersuchung – den Anspruch, durch extensive Nutzung von Online-Datenbanken, den anglophonen Diskurs lückenlos abzubilden.

Damit kommt als zweites Problem eine terminologische Unklarheit hinzu. Messina übernimmt aus dem gegenwärtigen amerikanischen Diskurs die hegemoniale begriffliche Fokussierung auf den „Holocaust“, bezieht aber sämtliche Literatur mit ein, die dem Phänomen des Nationalsozialismus gewidmet ist. Diese Unklarheit sollte als Ausdruck einer markanten Verschiebung im akademischen Feld der letzten Jahrzehnte gelesen werden, namentlich der sukzessiven Herausbildung der Holocaust Studies als eigenständige Subdisziplin – verbunden, aber nicht identisch, mit derjenigen der Genocide Studies. Die institutionalisierte Ausdifferenzierung des Feldes allein sollte Anlass sein zu einer eingehenden soziologiehistorischen und wissenssoziologischen Reflexion der Forschungsfrage. Denn mit der Holocaust-Forschung ist ein transnationales und transdisziplinäres Forschungsfeld entstanden, das nach einer starken amerikanisch-israelischen Institutionalisierung mit dem Münchener Zentrum für Holocaust-Studien mittlerweile auch in das deutsche akademische Feld hineinreicht und die nationalgeschichtliche Untersuchung einer Einzeldisziplin fragwürdig macht. Eine solche Reflexion jedoch fehlt in Messinas Buch vollständig. Nicht nur bleibt eine theoretische Bestimmung von Status und Funktion der Soziologiegeschichte aus – ein Theorie- und Methodenkapitel sucht man, abgesehen von der Beschreibung der Datenbank-Analyse, vergeblich –, es werden auch kaum einschlägige empirische Arbeiten zur Entwicklung der amerikanischen Soziologie herangezogen.1

So verwundert es nicht, dass die auf den Begriff der Verzögerung soziologischer Holocaust-Forschung bezogene forschungsleitende These uneindeutig bleibt: „[…] this book tries to give the answer that the delay could be half true.“ (S. xxiii). Gemeint ist damit offenbar, dass es zwar stets soziologische Holocaust- (bzw. Nationalsozialismus-)Forschung gegeben habe, deren Rezeption aber durch eine Reihe von disziplininternen und -externen Faktoren verzögert wurde. Allerdings ist Verzögerung ein analytisch schwacher Leitbegriff. Er impliziert, dass die Herausbildung soziologischer Holocaust-Forschung unmittelbar zu erwarten war. Damit wird eine kontingente disziplinäre Entwicklung durch ein ex-post formuliertes Kriterium betrachtet.

Im Ergebnis vermag Messina sich weder für ein Erkenntnisinteresse noch für eine kohärente Darstellungsweise zu entscheiden. Es bleibt über das gesamte Buch hinweg unklar, ob sie – und diese Ansprüche werden wechselnd formuliert – eine soziologiegeschichtliche Analyse, einen Beitrag zur Erforschung der Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust oder aber eine Interpretation sozialer und (erinnerungs-)kultureller Veränderungen im Spiegel der Holocaust-Forschung leisten will. Dabei wird, und das erschwert die Lektüre zusätzlich, häufig nicht zwischen Quellen- und Darstellungssprache unterschieden: Forschungsergebnisse über den Holocaust werden mal als empirischer Fakt, mal als Referat wissenschaftlicher Studien wiedergegeben, ein Effekt, der durch ein mangelhaftes Lektorat des englischen Textes noch verstärkt wird.

Das Problem lässt sich an einem der soziologiehistorisch interessantesten Abschnitte deutlich machen. So trägt Messina im ersten Kapitel über die „Postwar Years“ im Wesentlichen bereits bekannte und in den letzten Jahren zum Teil aus Archiven und Nachlässen rekonstruierte Aspekte zusammen: So etwa Talcott Parsons Wendung von der intensiven Analyse des Nationalsozialismus zur Erforschung des russischen Gegners im Kalten Krieg oder die immer noch lesenswerten Schriften seines Schülers Edward Y. Hartshorne. Ebenfalls in den letzten Jahren wiederentdeckt wurden die Arbeiten von Everett C. Hughes, der sich bereits vor dem Nationalsozialismus intensiv mit der deutschen Situation befasst hatte und der 1948 erneut nach Frankfurt kam. Hughes ist der einzige Fachvertreter, dessen Nachlass Messina konsultiert hat. Sie arbeitet zunächst gewinnbringend heraus, dass Hughes in seinem klassischen Aufsatz „Good People and Dirty Work“ bereits zentrale Aspekte etwa der Neutralisierung der Moral in der nationalsozialistischen Tötungsarbeit beschrieben hatte, die sich auch in Hannah Arendts Eichmann-Buch wiederfinden (S. 80ff.). Messina fragt sodann, warum der 1948 geschriebene Aufsatz erst 1962 publiziert wurde und behauptet, dass der Text nicht nur dem hegemonialen Positivismus zuwiderlief, sondern zudem zur Entstehungszeit ein tabuisiertes Thema, nämlich die „Jewish question“ (S. 81) ansprach. Dazu kommt eine generelle Charakterisierung der Situation im aufziehenden Kalten Krieg: „In the postwar years, political institutions […] and the same academic realm preferred […] theories that did not put in discussion what happened […], avoiding in this way a possible change of the status quo or of what was wrong in society.“ (S. 382).

In solchen groben Pinselstrichen lässt sich das Bild der Disziplin aber nicht zeichnen. In der amerikanischen Soziologie, die in der Tat im Mainstream ausgesprochen präsentistisch ausgerichtet war, standen vielmehr andere Fragen im Vordergrund: So wurden aus der eben zurückliegenden Epoche vor allem die Erfahrung des Krieges und das Problem des Militärs thematisiert, etwa in Samuel Stouffers epochemachender Arbeit „The American Soldier“. Eine andere zentrale Frage war das race-Problem, zu dem auch Hughes intensiv gearbeitet hatte und das soziologische Forschung und Öffentlichkeit weit stärker prägte, als der damals noch nicht unter dem Begriff Holocaust bekannte Völkermord an den Juden. Der Faschismus wurde zugleich vornehmlich als psychologisches Problem diskutiert. Hier hätte es einer theoriegeleiteten Feldanalyse bedurft, um die – hier passt der Begriff – Verzögerung von Hughes’ Aufsatz einzuordnen. Auch zeigt sich, dass Messina sich zu sehr auf die Datenbanken verlässt, denn sie übersieht, dass neben Hughes in dieser Zeit noch zahlreiche weitere amerikanische Soziologen Deutschland bereist und darüber – publizierte und unpublizierte – Reflexionen verfasst haben. Diese Arbeiten ergeben zusammengenommen ein präzises Bild postnazistischer Mentalität und damit einen genuinen Beitrag zur Erforschung der Folgen des Nationalsozialismus. In der Folge verlegt sich Messina mehr und mehr darauf, markante zeitgeschichtliche Entwicklungen als Erklärung für die Entstehung oder Rezeption wissenschaftlicher Arbeiten heranzuziehen. So behauptet sie etwa für die späte Anerkennung Hughes’, diese sei „a direct result of the Six-Day War and other political events changing civil and cultural world scenarios.“ (S. 83). Das bleibt nicht nur unbelegt und unbelegbar, sondern ist im Hinblick auf die relative Entwicklungsautonomie wissenschaftlicher Felder eine im höchsten Maße unplausible Behauptung.

Die Lektüre der bisweilen ausufernden Wiedergaben soziologischer Holocaust-Forschung, die das Buch über weite Strecken prägen, wird durch solche Spekulationen nicht erleichtert. Das ist bedauerlich, denn die Rekonstruktion von knapp sieben Jahrzehnten soziologischer Annäherungen an den Holocaust ist eigentlich ein ambitioniertes und soziologiehistorisch willkommenes Unterfangen.

Anmerkung:
1 Eine hervorragende Übersicht über den Forschungsstand bietet noch immer Craig Calhoun (Hrsg.), Sociology in America. A History, Chicago 2007.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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