K. Braun u.a. (Hrsg.): Avantgarden der Biopolitik

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Titel
Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung«


Herausgeber
Braun, Karl; Linzner, Felix; Khairi-Taraki, John
Reihe
Jugendbewegung und Jugendkulturen – Jahrbuch (Band 13)
Erschienen
Göttingen 2017: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
275 S.
Preis
40,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Damir Skenderovic, Departement für Zeitgeschichte, Universität Fribourg

Körper und Körperlichkeit, Körperpraktiken und Körperpolitik um 1900 gehören seit einiger Zeit zu den beliebten Themen der Geschichtsforschung.1 Als analytisches Zentrum bietet sich der menschliche Körper an, um verschiedene gesellschaftliche Akteure und Räume zu untersuchen und soziale Verhältnisse und Beziehungen zu entschlüsseln. Insbesondere die Arbeiten zur Lebensreformbewegung heben hervor, wie sehr das Postulat „Rückkehr zur Natur“ mit Naturalisierungsstrategien verknüpft war, in denen der menschliche Körper zum zentralen biopolitischen Experimentierfeld wurde. Mit ihrer geradezu obsessiven Beschäftigung mit dem Körper trugen Lebensreformer/innen nicht nur zu einer „somatischen Kultur“2 bei, sondern entwickelten auch eine Reihe von Technologien, Rationalitäten und Praktiken der Selbstkontrolle und Selbstoptimierung. Ihre normativ verstandenen Körperkonzepte und Körperpraktiken prägten nachhaltig den Umgang mit Sexualität und Gesundheit, Nacktheit und Körperlichkeit und lieferten Macht- und Herrschaftstechniken zur Unterwerfung des (körperlichen) Subjekts.

Diese sich an Michel Foucault anlehnende Perspektive ist auch der Ausgangspunkt des vorliegenden Sammelbands, der auf die Archivtagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung von 2016 zurückgeht. Wie die Herausgeber Karl Braun, Felix Linzner und John Khairi-Taraki einleitend schreiben, zielt der Band darauf ab, biopolitische Vorstellungen und Diskurse bei der deutschen Jugendbewegung, verstanden als Teil der Lebensreformbewegung, zu untersuchen. In ihrem etwas engen Verständnis von Biopolitik geht es in erster Linie darum zu fragen, wie Jugendbewegte „biologische Ressourcen“ bewirtschaftet und zu einer „biologisch-körperliche[n] Aufrüstung“ mit dem Ziel der „Hebung der biologischen Qualität“ beigetragen haben (S. 16). Das Unbehagen an der Moderne, das sich in verschiedenen Bedrohungs- und Degenerationsängsten manifestierte, habe Teile der deutschen Jugendbewegung dazu bewogen, sich auf eine „biopolitisch motivierte Orientierungssuche“ (S. 15) zu machen. Dabei wird Körper in erster Linie als Kommunikationsobjekt von Biopolitik und weniger als biopolitische Praxis erachtet, so dass der Untersuchungsfokus des Bandes weitgehend auf Zeitschriften und Büchern, auf Autoren und einigen wenigen Autorinnen liegt.

Sexualität und Geschlecht, Sexualmoral und Sexualreform stehen im Mittelpunkt der ersten drei Beiträge. Obschon die Jugendbewegung rigiden, bürgerlichen Sexualvorstellungen unterworfen war und mit ihrer männerbündlerischen Ausrichtung die patriarchalische Gesellschaftsordnung besonders ausgeprägt widerspiegelte, zeigt sich, dass durchaus Brüche und Gegenläufigkeiten bestanden. So betont Vanessa Tirzah Hautmann in ihrem Beitrag zur Jugendzeitschrift „Der Anfang“, wie früh schon versucht wurde, der Jugend Fragen von Sexualität, Erotik und Geschlecht näher zu bringen. Nicht nur bemühte sich die Zeitschrift, eine Gegenöffentlichkeit zu die Sexualität tabuisierenden sozialen Orten wie Elternhaus, Schule und Universitäten zu bilden, sondern forderte auch Emanzipation und Gleichberechtigung im Umgang mit Sexualität und in Sexualbeziehungen. Gleichzeitig erschienen aber auch Artikel mit konservativen, sexistischen Inhalten, in denen sich die hochgradig hierarchisierten Geschlechterverhältnisse der damaligen männerzentrierten, bürgerlichen Gesellschaft abbildeten. Auch der Artikel von Karl Braun zum Sexualreformer Max Hodann, der in pazifistisch-sozialistischen Kreisen verkehrte, zeigt die Bedeutung gesellschaftskritischer Stimmen in der Jugendbewegung. Detailliert beschreibt Braun nicht nur Hodanns antinationalistische Interventionen, sondern auch seine sexualaufklärerischen Bestrebungen, die von der Sorge, es bestehe eine weiterverbreitete „Sexualnot“ unter Jugendlichen und Erwachsenen, getrieben waren. In den natalistischen Argumentationen zu bevölkerungspolitischen Fragen zeigte sich bei Hodann auch, wie weit Eugenik und Sozialhygiene in das linke politische Lager vorgedrungen waren. Sven Reiß schließlich geht der Bedeutungsgeschichte des Eros paidikos und seiner Funktion als erzieherisches Leitbild in Teilen der Jugendbewegung nach. Um 1900 ließ die breite Rezeption der hellenistischen Antike Jünglingskult und Jugenderos aufblühen, während zur selben Zeit repressive und pathologisierende Sichtweisen auf Homosexualität und bestimmte Sexualpraktiken dominierten. Am Beispiel des Werks des Wandervogels Hans Blüher, der homoerotische Elemente als wichtigen Bestandteil jugendbewegten Zusammenhalts hervorhob und dessen Schriften ab Ende der 1960er-Jahre eine Renaissance erlebten, verweist Reiß auf die lang anhaltende Bedeutung des Eros paidikos, aber auch damit verbundene Legitimationsstrategien sexuellen Missbrauchs, in denen die Frage nach Machtstrukturen und emotionaler Abhängigkeit gemeinschaftsbildender Funktonalität untergeordnet ist.

Die nächsten drei Beiträge befassen sich mit „völkischen Weltanschauungsagenten“ (Uwe Puschner), die in der Jugendbewegung eine zentrale Rolle spielten. Ihre biologistische, sich an rassentheoretischen Fantasien orientierende Konzeption und Huldigung des (männlichen) Körpers haben bekanntlich der nationalsozialistischen Biopolitik körperlicher Auslese und Ausmerzung den Weg geebnet. Uwe Puschner betont in seinem Artikel zu Gustav Simon und Richard Ungewitter, beides „Völkische der ersten Stunde“ (S. 77), dass sie sich um 1900 nicht nur der abstinenten und vegetarischen Lebensweise verschrieben, sondern auch völkische Ideologieelemente übernahmen. Ihre inner- und außerhalb der Lebensreformbewegung breit rezipierten Beiträge zur Ernährungsreform bzw. Freikörperkultur waren durchtränkt von einer „Rettungs- und Regenerationsutopie der arischen, deutschen oder (indo-)germanischen Rasse“ (S. 92). Felix Linzner befasst sich mit der zeitgenössischen Rezeption des jugendbewegten Kunsthandwerkers Friedrich Muck-Lamberty, dessen völkische Orientierung bereits Ulrich Linse in seinem 1983 erschienenen Buch „Barfüßige Propheten“ herausgestrichen hat. Mit seinen Auftritten, die ihn als religiösen Eiferer erscheinen ließen, der sich gegen bürgerliche Moralvorstellungen auflehnte, mit seinen Ansichten zu Geschlechterfragen und Ehereform und mit seiner zur Schau gestellten asketischen Lebensweise vermochte Muck-Lamberty, jugendbewegte, völkisch denkende Kreise zu faszinieren. Gemäß Linzner stieß er dabei Diskussionen an, in denen sich der Ruf nach „völkischer Aufzucht“ mit Vorstellungen von freier Liebe verband und die Schaffung „rassisch reiner Menschen“ als Grundlage der Volksgemeinschaft gesehen wurde. John Khairi-Taraki konzentriert sich auf Hermann Popert, der mit „Helmut Harringa“ den Erfolgsroman der deutschen Jugendbewegung geschrieben hat, und Hans Paasche, der mit der literarischen Figur des Lukanga Mukara weit über die Lebensreformbewegung hinaus bekannt wurde.3 Im Vergleich zu den anderen Beiträgen geht Khairi-Taraki stringenter mit der Frage um, welche Köperkonzepte und damit verbundene biopolitische Implikationen bei den von ihm untersuchten Autoren zum Tragen kamen, wenn sie zu Abstinenz und gesundem Leben aufriefen. So gelingt es ihm herauszuarbeiten, dass beide, obschon sie politisch keineswegs immer gleicher Meinung waren, nicht nur eine grundsätzlich zivilisationskritische Haltung einnahmen, sondern auch in ihren Forderungen nach Optimierung des Körpers stark in Dichotomien wie gesund und krank, männlich und weiblich dachten, mit denen sie die Tür zu körperbedingten Ausgrenzungen und Diskriminierungen öffneten.

Zu diesen Aufsätzen zu den Themen „Sexualität“ und „völkisch“ gesellen sich noch drei Beiträge, die jeweils spezifische Schwerpunkte setzen. Christina Niem verweist auf das Interesse des Verlegers Eugen Diederichs an körperkulturellen Themen wie Tanz, Gymnastik und Kleidung, insbesondere auch für die neue Tanzbewegung um Émile Jaques-Dalcroze, Mary Wigman und Isadora Duncan, die mit ihrem „Ideal einer freien Bewegung des Körpers im Tanz“ (S. 135) für die internationale Entwicklung von Köperkultur und Bewegungskunst von nachhaltiger Bedeutung war. Meret Fehlmann befasst sich mit der Rezeption von Johann Jakob Bachofens „Das Mutterrecht“ (1861) in lebensreformerischen Kreisen, die zwar in der Neugestaltung von Geschlechterverhältnissen eine Voraussetzung für eine neue Gesellschaft sahen, aber auf Bachofens Werk unterschiedlich reagierten, wobei naturalisierende Auslegungen von Weiblichkeit und Mütterlichkeit mit entsprechender Normierung und Verfestigung von Geschlechterdifferenz dominierten. Im letzten, erhellenden Beitrag von Gabriele Guerra geht es um die Freie Schulgemeinde Wickersdorf (1906–1920), wo emanzipatorische, selbstbefreiende Grundsätze hochgehalten wurden, die sozialen Beziehungen aber stark auf Führer, Gefolgschaft und Gemeinschaft zentriert waren. Diese „totale Institution“ (Erving Goffman), in der eine Mischung von Freiheit und Obrigkeit, von Unterwerfung und Selbstentfaltung vorherrschte, verdeutliche, so Guerra, die „biopolitische Moderne“ (S. 163), in der Körper und Seele durch Praktiken der Disziplinierung und Befreiung bestimmt werden.

Insgesamt handelt es sich um einen lesenswerten Sammelband, der Erkenntnisse zur Nutzung des damals vorhandenen biopolitischen Deutungsarsenals durch die deutsche Lebensreform- und Jugendbewegung liefert und damit einen Beitrag zur deutschen Körpergeschichte leistet. Vermisst wird eine transnationale Perspektive, wie sie in der internationalen Körperforschung der letzten Jahre vermehrt zu finden ist, ein Defizit, das man von der historischen Forschung zur deutschen Lebensreformbewegung bereits kennt. Zudem wirkt die Komposition des Bandes etwas disparat und in einigen Aufsätzen geht der rote Faden des Bandes verloren. Die behandelten Akteure haben zweifellos zu der immer wieder neu vermessenen Verortung von Körper zwischen Natur und Kultur, zwischen Politik und Gesellschaft prominent beigetragen, doch inwieweit dies als Biopolitik zu verstehen ist und „biopolitischen Imperativen“ (Maren Möhring) folgt, bleibt zuweilen unklar.

Anmerkungen:
1 U.a. Daniel Siemens, Von Marmorleibern und Maschinenmenschen. Neue Literatur zur Körpergeschichte in Deutschland zwischen 1900 und 1936, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 639–682; siehe auch die seit 2013 erscheinende Zeitschrift „Body Politics – Zeitschrift für Körpergeschichte“, http://bodypolitics.de (28.01.2019).
2 Luc Boltanski, Die soziale Verwendung des Körpers, in: Dietmar Kamper / Volker Rittner (Hrsg.), Zur Geschichte des Körpers, München 1976, S. 138–183.
3 Hermann Popert, Helmut Harringa. Eine Geschichte aus unserer Zeit, Dresden 1910; Hans Paasche, Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, Hamburg 1921.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/