W. Schmähl: Alterssicherungspolitik in Deutschland

Cover
Titel
Alterssicherungspolitik in Deutschland. Vorgeschichte und Entwicklung von 1945 bis 1998


Autor(en)
Schmähl, Winfried
Erschienen
Tübingen 2018: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XXXI, 1.151 S.
Preis
€ 159,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Wieters, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Es ist gleichzeitig eine dankbare und eine undankbare Aufgabe, Winfried Schmähls grundlegendes Werk Alterssicherungspolitik in Deutschland zu rezensieren. Auf seinen 1.151 Seiten bietet das Buch einen extrem fundierten, geradezu furchteinflößend strukturierten Überblick zu Institutionen, kollektiven und individuellen Akteuren, Konflikten und Entwicklungstendenzen im Feld der deutschen Alterssicherung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu welcher Institution, Zeitspanne, Region oder Sachfrage auch immer: In Schmähls Werk lässt sich mindestens ein Absatz mit schlüssigen Hinweisen und punktgenauen Problembeschreibungen finden. Dies betrifft zudem nicht nur die vielfältigen staatlichen Player in diesem Feld, sondern ebenso die „drei Säulen“ der Alterssicherung als solche: Der Wirtschaftswissenschaftler Schmähl lenkt den Blick sowohl auf Kontinuität und Wandel verschiedener staatlichen Sozialversicherungen und Versorgungswerke als auch auf betriebliche und berufsständische Alterssicherung sowie auf private Lebensversicherungsarrangements.

Gerade letzteres ist durchaus eine Besonderheit, die es herauszuheben gilt, denn private Akteure und Lebensversicherungsunternehmen, bzw. deren Einfluss auf den Komplex der Alterssicherungspolitik insgesamt, werden nach wie vor häufig systematisch ausgeblendet. Auch betriebliche Altersvorsorge wird oft aus pragmatischen Gründen in Arbeiten über das deutsche Rentensystem oder über Sicherheit und die Bewältigung von Lebensrisiken im Alter ausgeklammert. Private und betriebliche Vorsorgearrangements gehörten jedoch, wie Schmähl sehr überzeugend zeigen kann, nicht erst seit 1945 zu den „verschiedenen Schichten des deutschen Alterssicherungssystems“ dazu (S. 6). Durch die breite und institutionenübergreifende Anlage seiner Studie gelingt es dem Autor, eine wirkliche Lücke zu schließen – umso mehr, als er belegen kann, wie vielfältig die drei zentralen „Schichten“ seit jeher miteinander verschränkt und aufeinander bezogen sind.

Ähnliches gilt auch für den Komplex der Rück- bzw. Wechselwirkungen politisch-institutionellen Wandels auf Vorsorge-Entscheidungen der BürgerInnen. Auch hier setzt Schmähl sinnvolle Impulse und verweist immer wieder auf die Perspektive der Vorsorgenden und BezieherInnen von Sicherungsleistungen, bzw. auf die Wechselwirkungen zwischen rechtlich-institutionellem Wandel und individuellen Vorsorge-Entscheidungen. Dass dies nicht immer so in die Tiefe geht, wie es vielleicht wünschenswert wäre, verwundert ob der Größe der von Schmähl selbst gewählten Aufgabe kaum. Letztlich zeigt das leichte Auseinanderdriften von Anspruch und praktischer Umsetzung in diesem Punkt vor allem, dass auch nach Schmähls Buch noch nicht annähernd alles Wichtige über das Thema Alterssicherung gesagt ist.

Darüber hinaus ist es Schmähls Verdienst, den Fokus nicht nur auf die Bundesrepublik zu richten, sondern auch auf entsprechende bzw. konkurrierende Entwicklungen in SBZ und DDR. Dass sich dabei gewisse Asymmetrien zugunsten der Entwicklung in der Bundesrepublik ergeben, hat mit der Menge an verfügbarer Forschungsliteratur zu tun, aber auch damit, dass Schmähl sich den westdeutschen Debatten und Dynamiken deutlich quellennäher widmet. Es gelingt ihm durchaus, den Eindruck zu vermeiden, dass die DDR nur als Appendix behandelt wird; dennoch steht die bundesdeutsche Alterssicherungspolitik deutlich im Vordergrund. Zudem interessiert sich der Autor nicht wirklich für etwaige Verflechtungsperspektiven deutsch-deutscher Alterssicherungspolitiken (auch wenn er immer wieder auf den prüfenden Blick über die Grenze, vor allem seitens der DDR, verweist). Vielmehr leistet er auch hier einen systematischen Beitrag, indem er zusammenträgt, wie sich Alterssicherungsinstitutionen in beiden deutschen Staaten vor und während der politischen Teilung entwickelten und welche Implikationen und sehr handfesten Folgen diese Systemunterschiede auch noch lange nach der Wiedervereinigung zeitigten.

Schmähl diskutiert die sogenannte „Rentenüberleitung“ intensiv und konstatiert, dass dies letztlich vor allem die Umgestaltung und Anpassung ostdeutscher Sicherungsinstitutionen an westdeutsche Standards auf „unzureichender Informationsbasis“ (S. 951) beinhaltet habe. Während vorhandene positive Elemente der DDR-Sozialpolitik trotz des Drängens unterschiedlicher (auch einiger westdeutscher) Akteure nicht übernommen wurden, stieg das Rentenniveau in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung durch die Rentenanpassung unter dem Strich deutlich an. Kritischer beurteilt Schmähl hingegen die Tatsache, dass die „Kosten“ der deutschen Einheit in der Summe „in erheblichem Maße über lohnbezogene Sozialversicherungsbeiträge“ gedeckt worden seien (S. 954). Er kommt außerdem zu dem durchaus interessanten Schluss, dass diese Debatte um „versicherungsfremde Leistungen“ in der Folge auch Diskussionen über die Höhe der Lohnnebenkosten anheizte, was schließlich sozialpolitischen Konzeptionen, die den Wandel hin zu kapitalfundierter privater Vorsorge forderten, starken Aufwind beschert habe.

Internationale Entwicklungen, etwa die Ratifizierung und Umsetzung internationaler Konventionen, gemeinsame Benchmarking-Prozesse als Folge der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen, transnationale Verflechtungen privater Akteure und Unternehmen, oder auch die Effekte des europäischen Integrationsprozesses auf das deutsche Rentensystem (und umgekehrt) werden zwar kurz erwähnt (Kapitel 11), sind jedoch insgesamt deutlich unterrepräsentiert. Dies ist einerseits problematisch, haben aktuelle Forschungsarbeiten doch überzeugend aufgezeigt, dass auch das Feld der „deutschen“ Alterssicherungspolitik kaum ohne internationale und transnationale Bezüge auskommt.1 Andererseits hätte eine systematische Berücksichtigung dieser Dimension den ohnehin schon großen Rahmen der Studie sicher vollauf gesprengt. Mehr ist nicht immer mehr, und auch im Jahr 2019 lässt sich durchaus begründen, warum eine Studie, die primär auf das deutsche Alterssicherungssystem fokussiert, nach wie vor einen eigenen Wert besitzt.

Dass die Lektüre eines Werkes, dessen Inhaltsverzeichnis sich schon über 14 (!) Seiten erstreckt und das sich maßgeblich an politischen Zäsuren und institutionellen Settings orientiert, nicht immer die reine und unverstellte Freude ist, mag nicht unbedingt verwundern. Der Wirtschaftswissenschaftler Schmähl ist auch ein guter Historiker, hat sich jedoch eine gewisse Begeisterung für Absätze und Untergliederungspunkte, Tabellen und Schaubilder bewahrt. Wer ein thesenreiches, prägnant geschriebenes Überblickswerk erwartet, wird entsprechend enttäuscht werden (auch wenn bereits der Titel des Buches Anlass für ein gewisses Erwartungsmanagement bieten sollte).

Schmähls „Alterswerk“ (wenn man das so sagen darf) ist im allerbesten Sinne solide; mit knapp 1,7 Kilogramm ist Alterssicherungspolitik in Deutschland ein echter Backstein, aus dem in jedem Absatz die Kompetenz und die Gewissenhaftigkeit eines ganzen Forscherlebens sprechen. Es handelt sich in gewisser Weise um ein überdimensioniertes Handbuch, das sich zwar durchaus von vorne bis hinten lesen lässt, dessen Stärken aber vor allem in der recht einzigartigen Mischung aus hochstrukturiertem Überblicks- und detailreichem, quellennahem Nachschlagewerk liegen.

Die Daten und Grafiken des Bandes lassen sich gut für die universitäre Lehre nutzen, da Strukturelemente des deutsch-deutschen Systems prägnant zusammengefasst werden. Einzelne Abschnitte sind außerdem sehr dazu geeignet, fundierte Hintergrundinformationen zur Seminarlektüre oder für Diskussionen unter den SeminarteilnehmerInnen zu liefern.

Die Systematik des Buches (samt seines durch zahlreiche Absätze etwas fragmentierten Stils) hat ihre Tücken – etwa hinsichtlich der Leserfreundlichkeit oder, wie erwähnt, in Bezug auf große Thesen und prägnante Narrative. Dennoch dürften zentrale Passagen des Werkes – vielleicht gerade aufgrund dieser Systematik – sowohl für ForscherInnen verschiedenster Disziplinen als auch für (Wirtschafts-)JournalistInnen und interessierte Laien gleichermaßen relevant und nützlich sein.

Man muss keine Prophetin sein, um zu prognostizieren, dass Winfried Schmähls Buch, ebenso wie der angekündigte Folgeband für die Zeit nach 1998, ein Standardwerk in jeder deutschen Forschungsbibliothek werden wird. Das wäre es auch mit 500 Seiten geworden, aber in diesem Fall gilt vielleicht trotz allem, dass „mehr“ manchmal eben auch einfach „mehr“ ist.

Anmerkung:
1 Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge 1998; Sandrine Kott / Joëlle Droux (Hrsg.), Globalizing Social Rights. The International Labour Organization and beyond, Basingstoke 2013; Christoph Conrad, Pour une histoire des politiques sociales après le tournant transnational, in: Axelle Brodiez-Dolino / Bruno Dumons (Hrsg.), La protection sociale en Europe au XXe siècle, Rennes 2014, S. 75-98.