H. Leidinger: Der Untergang der Habsburgermonarchie

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Titel
Der Untergang der Habsburgermonarchie.


Autor(en)
Leidinger, Hannes
Erschienen
Innsbruck 2017: Haymon
Anzahl Seiten
439 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Carlo Moos, Historisches Seminar, Neuzeit, Universität Zürich

Der Titel des Buches hält sich in einer neutralen Mitte: weder Vernichtung, Zerstörung oder Zerschlagung – also von aussen Bewirktes – noch Auflösung, Zerfall oder Zusammenbruch – das hiesse von innen Kommendes. Nein: „Untergang“ trifft in weitzufassender Spannweite, in die sich metaphorisch auch die Titanic einbeziehen liesse (die ihren Eisberg hätte vermeiden können), das Wesentliche eines Buches, das nach allen möglichen Richtungen agiert und vielschichtig argumentiert. Markenzeichen ist neben einer ausgedehnten Literaturbasis der Einbezug von repräsentativem Archivmaterial und die Einarbeitung zahlreicher eigener Studien des Verfassers (zum Teil gemeinsam mit Verena Moritz). Manche autobiographischen Zeugnisse erhöhen die Lesbarkeit des Textes.

Dessen Grossgliederung ist prima vista leicht verwirrlich, indem sich die drei Teile des Inhaltsverzeichnisses nicht auf das ganze Buch, sondern auf ein dreiteiliges Vorwort beziehen, wo unter anderem auf Musils Kakanien und „Ulrichs Welt“ rekurriert wird. Ansonsten ist die Einteilung in fünf grosse Kapitel, die sich in eine Vielzahl von Unterkapiteln gliedern, durchaus einleuchtend. Nur der konzise Schluss ist mit seinen sieben Kurz-Teilen leider etwas knapp geraten.

Die Kapitel folgen einer zwanglosen Chronologie, die zunächst (1) unter dem schönen Titel „Die Beständigkeit der Fragilität“ weit ausholend vom „Sacrum Imperium“ über die Reformära unter Maria Theresia und Joseph II. in die „Sattelzeit“ und von 1848 zum prekären Doppelstaat führt, sodann die Jahrhundertwende (2) mit ihren kulturellen Licht- und grossen ethnischen und sozialökonomischen Schattenseiten bis zum Vorabend des Weltkriegs und die bei Kriegsausbruch anhebenden Gewaltlösungen (3) analysiert, während die „Anatomie des Zusammenbruchs“ (4) beim Tod des alten Kaisers ansetzt und in ein hochkomplexes, aber insgesamt trauriges „Erbe“ (5) mit zahlreichen Nachwirkungen mündet.

Leidingers Buch ist zu vielseitig, als dass es hier in allen Einzelheiten gewürdigt werden könnte. Deshalb werden im Folgenden lediglich einige besonders bedenkenswerte Befunde herausgehoben.

Obwohl einfache Erklärungen unzulänglich sind, wie eine Überschrift auf Seite 128 treffend sagt, war die Habsburgermonarchie keineswegs dem Untergang geweiht. Vielmehr war ihr Überlebenspotential beträchtlich und hier trifft sich Hannes Leidinger zu Recht mit dem grossen Überblickswerk von Pieter M. Judson.1 Allerdings ging die „Flexibilität“ der Staatenbeziehungen (S. 140) vor dem Grossen Krieg zusehends verloren, was im Fall Österreich-Ungarns weitgehend selbstverschuldet war. Dessen fixe Idee des unerlässlichen „Befreiungsschlags“ (S. 151) führte auf der Basis gefährlicher „Fehlkalkulationen“ (S. 153) zur Auslösung eines Kriegs, der sich als gigantisch „erweiterter Selbstmord“ (S. 161) erweisen sollte.

Unmittelbar nach Kriegsbeginn setzten extreme Gewaltorgien gegen angebliche Verräter ein; sie werden unter anderem in den Kapiteln „Eskalation“ und „Exzess“ mit eindrücklichem Archivmaterial illustriert. Mit menschenverachtenden Internierungen wurden die Gewaltwellen unter katastrophalen Lagerbedingungen fortgeführt und es erwies sich allgemein ein erschreckender Umgang des kaiserlich und königlichen Militärs mit zivilen Betroffenen und gegenüber heimatlos gewordenen Flüchtlingen im eigenen Land, aber auch bei den rund zwei Millionen Kriegsgefangenen. All dies war nicht zuletzt eine der vielen sinistren Folgen der von März 1914 bis Ende Mai 1917 fehlenden parlamentarischen Kontrolle, die den exzessiv agierenden Bürokratismen freie Bahn liess.

Die ‚eigentliche’ Zäsur lässt sich weniger am Tod des alten Kaisers festmachen, als dass sie sich in der in dieser Zeit zur „Ernährungskatastrophe“ (S. 213) gewordenen Versorgungskrise und unter dem Eindruck der russischen Revolutionen 1917 in der zunehmenden Ablehnung seitens der Tschechen, Polen und Ruthenen zeigte. Der militärische Durchbruch von Flitsch-Tolmein entpuppte sich als „Pyrrhussieg“ (S. 237), weil es nicht nur in Italien, sondern vor allem im Osten, so in der Ukraine, zu überdehnten Okkupationsräumen kam, die sich nur mit rücksichtsloser Gewalt einigermassen kontrollieren liessen. Unter solchen Vorzeichen wurde der „Kollaps“ (S. 280) der Doppelmonarchie zu einem Vorgang, den kaum mehr jemand zu bedauern vermochte, während ihr zusehend unvermeidliches Ende für die im Verlauf des Jahres 1918 immer deutlicher feststehenden Sieger umso klarer wurde, je mehr sich die zentrifugalen Gegenkräfte in und ausserhalb der Monarchie formierten.

Die vielen Kontinuitäten nach dem Ende des Kriegs verfolgt der Verfasser im Kontext einer „langen Jahrhundertwende“ (S. 329) von 1870 bis 1930 mit einem konsequenten Blick auf die Gesamterbmasse des zerstückelten Habsburgerreiches und dessen hinterlassene „Grenzlandminderheiten“ und „Nachbarkleinstaaten“ (S. 307f.), aber ebenso auch auf die verschiedenen „halben Revolutionen“ (S. 323) in den Nachfolgestaaten, die politisch und territorial eine „tiefere Zäsur“ (S. 328) markierten als sozialökonomisch und kulturell, wobei sich der Horizont in den 1930er-Jahren angesichts der faschistischen und insbesondere nationalsozialistischen Grossraum-Ambitionen und Rassenprogrammen überall zusehends verdüsterte. Auch zu diesem Erbschaftsbereich werden zahlreiche individuelle Stimmen als eindrückliche „Wendeerlebnisse“ (S. 336) beigebracht.

Insgesamt wirkt Hannes Leidingers Buch in seiner Mehrdimensionalität durch die Fülle der vermittelten Informationen und die Prägnanz ihrer Beurteilungen in jeder Beziehung anregend. Zweifellos bereichert es eine im Zeitpunkt der Abfassung dieser Rezension Mitte 2018 im Hinblick auf das Geschehen zu Ende des Habsburgerreichs sich belebende Diskussion markant, für die es als wirkmächtiger Auftakt dienen kann.

Anmerkung:
1 Pieter M. Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740-1918. München 2017 (engl. Original 2016).

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