I. Klinke: Cryptic Concrete / Bunkerrepublik Deutschland

: Cryptic Concrete. A Subterranean Journey Into Cold War Germany. Oxford 2018 : Wiley-Blackwell, ISBN 978-1-119-26111-7 XIII, 175 S., mit SW-Abb. £ 24.99

: Bunkerrepublik Deutschland. Geo- und Biopolitik in der Architektur des Atomkriegs. Bielefeld 2019 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 978-3-8376-4454-8 253 S., mit SW-Abb. € 29,99

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jochen Molitor, Historisches Institut, Universität zu Köln

Die lange Zeit als theorieavers geltenden Geschichtswissenschaften haben in dieser Hinsicht längst aufgeholt. Bedanken können sie sich in diesem Zusammenhang auch bei anderen Fachgebieten, deren Ideen, Begriffe und Konzepte als Impulsgeber für einschlägige historische Studien verwendet wurden und werden. Umgekehrt betrachten andere Wissenschaftsdisziplinen die Geschichte gern als Steinbruch zur Unterfütterung oder Überprüfung eigener konzeptioneller Zugänge. Dieser Gruppe ist auch die vorliegende Studie des in Oxford lehrenden Humangeographen Ian Klinke zur „Architektur des Atomkriegs“ in der „Bunkerrepublik Deutschland“ zuzurechnen. Thematisch passt sie zum gegenwärtigen Trend: Gerade zum zeitweise völlig vergessenen (oder verdrängten) Zivilschutz als kulturelle und materielle Praxis des Kalten Kriegs sind in den letzten Jahren mehrere einschlägige Publikationen erschienen. Gegenüber solchen zwar nicht theorielosen, insgesamt aber doch eher konservativ-historischen Darstellungen1 setzt sich der Geograph Klinke mit seinem „Blickwinkel der kritischen Sozialtheorie“ (S. 10) ab. Punktuell stützt er sich auch auf Archivquellen, aber diese stehen nicht im Vordergrund.

Zu Beginn des Bandes, den er zunächst auf Englisch und jetzt auch auf Deutsch publiziert hat, zeichnet Klinke die aus seiner Sicht ebenso einflussreiche wie verheerende Verschränkung von Geo- und Biopolitik in den Schriften Friedrich Ratzels, Rudolf Kjelléns und Karl Haushofers nach. Als Resultat dieser Denkschule habe sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt die Vorstellung durchgesetzt, den Staat als Organismus zu betrachten, dessen Überleben durch die Aneignung von geographischem Raum – „Lebensraum“ – gesichert werden müsse. Trotz der schlüssig dargelegten Genese wirkt Klinkes Umgang mit dem schillernden Begriff „Biopolitik“ zeitweise unscharf, da er diesem einerseits in seinen zeitgenössischen Auslegungen nachspürt, ihn andererseits aber auch – unter Rückgriff auf Michel Foucault, Giorgio Agamben und Roberto Esposito – für die eigene Analyse verwendet.

Das im Zentrum der Darstellung stehende Gedankenexperiment wird im vierten und fünften Kapitel entwickelt. Ersteres („Lebensraum im thermonuklearen Zeitalter“) bezieht sich dabei vor allem auf den sogenannten Regierungsbunker im Ahrtal. Dieser während der 1960er-Jahre gebaute „Ausweichsitz“ sollte der Bundesregierung im Fall eines Atomkriegs zwischen NATO und Warschauer Pakt zumindest theoretisch die zeitweilige Fortführung ihrer Amtsgeschäfte ermöglichen. Gegenüber diesem defensiv ausgerichteten Bauwerk thematisiert das fünfte Kapitel („Räume der Vernichtung“) die während des Kalten Kriegs hierzulande zahlreich vorhandenen Atomraketenlager. Klinkes grundlegende These ist in beiden Fällen dieselbe: Die von Agamben so benannte „Politik des Todes“ (Thanatopolitik) der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager sei in der Bundesrepublik über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus bestehen geblieben, wenn auch in gewandelten Diskursformen und Praktiken. Sie sei als Zeichen dafür zu werten, „dass es den nach 1945 befriedeten Gesellschaften nie gelang, die Vernichtungsmentalität in Ideologie und Architektur zu überwinden“ (S. 199).

Obwohl Klinke am Ende seiner Darstellung versichert, dass er keinesfalls einer „Gleichsetzung des nationalsozialistischen Genozids mit dem glücklicherweise nur hypothetischen Genozid des Kalten Krieges“ (S. 202) das Wort reden wolle: Die Identifikation konzeptioneller Überschneidungen von Auschwitz und dem Regierungsbunker bzw. den Raketenlagern bildet den Kern seiner Darstellung. Letztere stellten demnach „invertierte Lager“ dar (S. 38): Räume, in denen Vernichtung nicht eingehegt, sondern ausgeschlossen werden sollte, aber ein Fixpunkt des Denkens blieb. Die Massenvernichtung finde einmal im Rauminneren statt, einmal (imaginiert) im Raumäußeren, und die Idee des „Volks ohne Raum“ aus der Zwischenkriegszeit habe sich in der Architektur des Kalten Kriegs zum „Raum ohne Volk“ verkehrt (S. 130). Es sei bereits an dieser Stelle angemerkt, dass solche Gedankenspiele aus Sicht des Historikers problematisch wirken; Klinke hingegen bezeichnet unverblümt selbst die Dekontaminationsduschen des von ihm so genannten „Führungsbunkers“ (S. 43) als invertierte Variante der „todbringenden Duschattrappen im nationalsozialistischen Vernichtungslager“ (S. 128).

Einen letzten inhaltlichen Impuls setzt das sechste Kapitel („Kriegsspiel“), welches sich insbesondere der NATO-Übung „Fallex 66“ und damit der „ludischen Geopolitik“ (S. 166) des Kalten Kriegs widmet. Klinke wechselt an dieser Stelle von den Theoretikern der Biopolitik zu den psychoanalytischen Überlegungen Sigmund Freuds und vergleicht die meist linear gestalteten, wenige Handlungsoptionen zulassenden Übungen mit einem kindlichen „Fort-Da-Spiel“, welches durch den aktiv herbeigeführten, aber zeitlich begrenzten Verlust eines Elternteils Kontrolle über die Vorstellung realen Verlusts zu erlangen sucht. Der Autor schreibt in diesem Zusammenhang: „In gewissem Sinne genoss die bundesrepublikanische Elite die verbotenen Früchte der Geo- und Biopolitik. […] Vom Bunker aus konnten sie so […] ihre eigenen Städte und Dörfer aus Sicht der alliierten Bomber betrachten […]“ (S. 184). Für das Denken und den Sprachgebrauch der NATO sei insgesamt ein erstaunliches „Beharren auf der Möglichkeit einer postapokalyptischen Welt“ charakteristisch gewesen (S. 185), eine „Illusion von Kontrolle“ (S. 184).

Die aktuelle Offenheit der Geschichtswissenschaften hinsichtlich theoretischer Impulse ist sicher zu begrüßen. Klinkes wohlgemerkt nicht genuin geschichtswissenschaftliche Darstellung verdeutlicht hingegen, was geschehen kann, wenn die Dominanz theoretischer Überlegungen das Vetorecht der Quellen ersetzt. Aktuelle Forschungen, die den Zivilschutz sowie insgesamt die Kultur des Kalten Kriegs als einen komplexen Prozess der Aushandlung divergierender Interessen staatlicher und nicht-staatlicher, militärischer und ziviler Akteure begreifen, werden in ihren Grundaussagen kaum ernstgenommen. Von Agamben übernimmt Klinke darüber hinaus eine verkürzte Begrifflichkeit, die den Ausnahmezustand lediglich als machtstrategisches Instrument begreift. Weder Schutzräumen noch Raketenstützpunkten mag Klinke einen Sinn im Rahmen der Abschreckungslogik oder gar eine auch nur intendierte friedenssichernde Wirkung zugestehen. Der historische Kontext des Systemkonflikts (aber auch der entstehenden „Risikogesellschaft“) und die Tatsache, dass zahlreiche Akteure in Ost und West die ideologische Gegenseite als existenzielle Bedrohung empfanden, rückt im Sog der Theorie in den Hintergrund; die Möglichkeit eines Dritten Weltkriegs, welche auf je unterschiedliche Art Entscheidungsdruck auf die Akteure ausübte, entpuppt sich bei Klinke als „Todestrieb“ (S. 185f.) einer Elite, der die eigene Bevölkerung gleichgültig gewesen sei: „[…] der Schutz der Bevölkerung war tatsächlich nicht mehr als ein Feigenblatt für den Schutz nackter Staatsmacht, deren Beamte, Schreibmaschinen und Aktenschränke“ (S. 130). Solche und andere Formulierungen erinnern frappierend an die Rhetorik der Friedensbewegungen der frühen 1980er-Jahre. Vom „nuklearen“ (z.B. S. 38) und „atomaren Holocaust“ (z.B. S. 34) ist mehrfach die Rede, während die Friedensbewegungen selbst für ihren „politisch progressiven Kampf“ (S. 204) gelobt werden. Trotz aller theoretischen Unterfütterung droht Klinkes Werk somit die Frontlinien des Kalten Kriegs mehr zu reproduzieren als zu hinterfragen.

Abgesehen von der Feststellung gedanklicher und personeller Kontinuitäten zwischen NS-Diktatur und Bundesrepublik betont Ian Klinke im Fazit seines Werks, dass die Schutzräume und Raketensilos des Kalten Kriegs nicht verdrängt, sondern als architektonische Mahnungen eines vorstellbaren Endes der Geschichte ernstgenommen werden sollten. Dieser Appell ist sicher zu unterstützen, gerade in Anbetracht des Verhaltens der Bundesregierung, die „ihren“ Ahrweiler Bunker wohl gern ohne jegliche Musealisierung (und ohne Medienecho) stillgelegt hätte.2 War die „alte“ Bundesrepublik aber tatsächlich eine „Bunkerrepublik“? Unstrittig ist, dass gerade die neutralen Staaten den mit Abstand höchsten Schutzraumplatzdeckungsgrad (Verhältnis verfügbare Schutzraumplätze / Gesamtbevölkerung) aufzuweisen hatten. Während diese Quote in Westdeutschland stets auf ca. 3 Prozent geschätzt wurde, liegt sie etwa in der ca. 8,6 Millionen Plätze bereitstellenden Schweiz (Stand 2012) bei über 100 Prozent.3 Vor dem Hintergrund derartiger Befunde relativiert sich nicht allein der Titel von Klinkes Darstellung, sondern auch manche seiner Thesen erscheinen kaum haltbar.

Anmerkungen:
1 Beispielhaft erwähnt seien an dieser Stelle die grundlegende Arbeit von Nicholas Steneck, Everybody Has a Chance. Civil Defense and the Creation of Cold War West German Identity, 1950–1968, phil. Diss. Columbus, Ohio 2005, http://rave.ohiolink.edu/etdc/view?acc_num=osu1124210518 (14.06.2019); ein programmatischer Aufsatz von Frank Biess, „Jeder hat eine Chance“. Die Zivilschutzkampagnen der 1960er Jahre und die Angstgeschichte der Bundesrepublik, in: Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Dierk Walter (Hrsg.), Angst im Kalten Krieg, Hamburg 2009, S. 61–93; sowie die vergleichend angelegte Studie von Martin Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen. Zivil- und Katastrophenschutz in der Bundesrepublik und Großbritannien nach 1945, Paderborn 2017.
2 Vgl. Stephanie Jacobs / Stefan Paul-Jacobs, „Am 22. Oktober 1966 beginnt der Dritte Weltkrieg“. Der Regierungsbunker bei Marienthal an der Ahr als Denkmal des Kalten Krieges, in: Inge Marszolek / Mark Buggeln (Hrsg.), Bunker. Kriegsort, Zuflucht, Erinnerungsraum, Frankfurt am Main 2008, S. 89–101.
3 Heinz Herzig, Jeder Einwohnerin und jedem Einwohner einen Schutzplatz, in: Bevölkerungsschutz 5 (2012), Heft 12, S. 7–9, hier S. 9, http://doi.org/10.5169/seals-357937 (14.06.2019). Vgl. auch Silvia Berger Ziauddin, Superpower Underground. Switzerland’s Rise to Global Bunker Expertise in the Atomic Age, in: Technology and Culture 58 (2017), S. 921–954.