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Titel
Ehre und Rache. Eine Gefühlsgeschichte des antiken Rechts


Autor(en)
Ruch, Philipp
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
437 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jennifer Juliane Stracke, Abteilung für Alte Geschichte, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Mit dem Werk „Ehre und Rache. Eine Gefühlsgeschichte des antiken Rechts“ legt der als politischer Aktivist bzw. als Aktionskünstler bekannte Philipp Ruch – er ist unter anderem Gründer des Zentrums für Politische Schönheit1 – seine Dissertation der breiten Öffentlichkeit vor.2 Der etwas sperrige Untertitel ist mit Bedacht gewählt, wie die Lektüre seiner Untersuchung zeigt.

Der Schwerpunkt der Annäherung an die Phänomene Ehre und Rache liegt nicht in der Begriffs- oder Entwicklungsgeschichte, sondern darin, den Umgang mit diesen Phänomenen innerhalb der Gesellschaft genauer zu betrachten und zu analysieren. Besonderes Augenmerk wird auf den Bereich des Rechts gelegt: welche Rolle spielt die antike Gesetzgebung hinsichtlich der Wahrnehmung von Ehre und Rache? Hierbei werden vorrangig griechischsprachige Quellen von der homerischen Zeit bis zur Klassik untersucht, doch berücksichtigt der Autor auch weitaus später anzusiedelnde Literatur und bringt dazu u.a. Beispiele aus jüngster Vergangenheit und Gegenwart, um epochenübergreifend vergleichen zu können.

Ruch unterteilt seine Arbeit in zwei Teile. Der erste beschäftigt sich mit der Ehre, der zweite mit der Rache. Beide Teile sind untergliedert; so enthält der erste Teil über die Ehre drei größere Oberkapitel. Es beginnt mit „I. Menschen ohne Ehre“ (S. 13-81), in dem die Einleitung und die methodischen Vorüberlegungen zu finden sind. Dabei werden sowohl die antiken Schriften als Rechtsquellen als auch allgemeinere und modernere Rechtsbegriffe thematisiert.

Es folgt das Kapitel „II. Der Gewinn der Ehre“ (S. 82–169), in dem es um Grundsätzliches zum Thema Ehre geht, bzw. Ehren, denn Ruch unterscheidet hier. Es werden sowohl Materialismus als auch Emotionen als verwandte Phänomene berücksichtigt. „III. Der Verlust der Ehre“ (S. 170–201) beschäftigt sich mit Entehrungen im Staats- und Völkerrecht. Fünf Arten des Ehrverlusts nennt Ruch: Verletzungen des Existenzrechts, des Hausfriedensrechts, des Bestattungsrechts, des Rechtes auf Eigentum und des Schutzes vor Körperstrafen fallen darunter.

Der zweite Teil, „Rache“, beinhaltet vier Unterkapitel. „IV. Zum Verhältnis von Ehre und Gewalt“ thematisiert die Definition von Gefühlen und dem Ehrbegriff und setzt diese in Zusammenhang mit der Rache in verschiedenen Schriftquellen. Dabei werden vor allem die Bereiche der Gefühlskontrolle sowie Rache als mögliches Ventil bzw. Zwang erläutert.

Weiterführend beschäftigt sich Ruch in dem Unterkapitel „V. Die Entwicklung des archaischen Racherechts“ (S. 287–332) mit der homerischen und der posthomerischen Zeit, die er hinsichtlich des gesellschaftlichen Umgangs mit Rachehandlungen untersucht.

Mit dem Unterkapitel „VI. Das zwischenstaatliche Racherecht“ (S. 333–377) wird das Konzept anschließend auf einer weiter gefassten Ebene untersucht, nicht mehr auf einzelne poleis bezogen.
Zuletzt folgt vor dem Schluss (S. 387–391) noch ein Ausblick (S. 378–386): hier kommt der Autor noch einmal dezidiert auf aktuellere Ereignisse der Zeitgeschichte zu sprechen. Mit einem relativ umfangreichen Literaturverzeichnis (S. 392–433), dem Abbildungsverzeichnis (S. 434–435) und dem Dank schließt die Monographie; auf ein Stichwortverzeichnis wurde verzichtet.

Bei der vorliegenden Dissertation handelt es sich um eine Arbeit in politischer Ideengeschichte. Studiert hat der Autor Politische Philosophie. Dies ist bei der Lektüre im Hinterkopf zu behalten. Viele seiner Ansätze ergeben sich daraus, dass er mitunter wenig auf alte Lehrmeinungen gibt, stattdessen nach anderen Wegen sucht, um sich seinem Thema zu nähern.

Eine Stärke des Buches ist daher, dass Philipp Ruch sich nicht scheut, eine starke These zu vertreten. Er verfolgt das Ziel, mit seiner Dissertation vor allem Ideen, Forschungsansätze und Theorien vorzustellen, die es zuvor nicht gegeben habe. Der Autor stellt die gängige Lehrmeinung in Frage, um sich unter Betrachtung neuer Gesichtspunkte erneut den Quellen zuzuwenden. Die Vorstellung, dass das Recht dazu diente, Rache und Gewalt einzudämmen, sieht er als überholt an. Mit seiner These vertritt er genau die gegenteilige Meinung: das Recht führt überhaupt erst zur Rache, fördert Emotionen, die in diese Richtung gehen, und verpflichtet nahezu dazu. Um seine These zu belegen, greift er auf ein umfangreiches Korpus an Quellen zurück, von denen aber offenbar nur Übersetzungen genutzt wurden.

Eingeflochten werden in seine Quelleninterpretation moderne Theorien und Forschungsansätze aus Philosophie, Soziologie und dem juristischen Fachgebiet. Ruch denkt politisch. Dies wird auch bei der Lektüre der Monographie deutlich. Er setzt sich aber auch dezidiert mit den gängigen althistorischen Forschungsmeinungen auseinander und versucht diese zu widerlegen. Zu eng erscheint ihm das gängige Raster, zu festgefahren der Diskurs über Ehre und Rache.

Ruch beleuchtet Ehre, Rache, Emotionen und die Entwicklung des Rechts. Letzteres diene nach allgemeiner Ansicht der Eingrenzung von Rache und Gewalt. Dieser Annahme widerspricht der Autor: Das sich entwickelnde Recht verstärke erst Emotionen, zwinge zur Rache. Er beginnt mit der in der seiner Ansicht nach in der Forschung vertretenen These, dass „Ehre nicht ist“ (S. 31); Ehre sei nach gängiger Auffassung etwas, dessen reale Existenz bezweifelt werde. Hier nennt er beispielsweise Mandeville, Montaigne und Bowman. Er macht zudem deutlich, dass er die bisherigen Versuche der Forschung, sich dem Thema Ehre zu widmen, für nicht angemessen hält. Dabei spart er nicht mit deutlicher Kritik, die mitunter sehr hart ausfällt. Christel Brüggenbrock etwa bringe eines der Leitparadigmen zur Ehre genau auf den Punkt, jedoch mehr unfreiwillig (Seite 37). Ute Frevert unterstellt er „Materialvergessenheit“ (S. 39), Kwame Appiahs Forschungsaussagen scheinen ihn entweder zu belustigen oder nahezu zu empören: „[…] Die Ursache für den horror infamia [sic!] erblickt Appiah allen Ernstes im Verlust eines ‚Imagefaktors‘“ (S. 42). Ruch begründet seine Kritik zwar, doch kann dies wenig von dem zum Teil unangemessen scharfen Ton nehmen. Dies ist leider eine Schwachstelle in der an sich sehr gut recherchierten Arbeit.

Ruchs eigener Ansatz soll „[…] die Macht der Ehre aus den Rechtsfolgen erklären“ (S. 43). Seine eigene Argumentation legt der Autor deutlich vor: Die Gesetze dienten mehr der Verpflichtung der Bürger zur Blutrache, nicht ihrer Eingrenzung (S. 304). Das griechische Recht habe die Rache gestärkt (S. 320), Blutrache sei nicht Option, sondern Zwang gewesen: Ruch nennt dies die „Tragik des Müssens“ (S. 321). Der Autor leugnet die „Existenz emotionaler Rache“ nicht (S. 322), führt sie aber auf das Gesetz zurück: „Gesetze machen Gefühle“ (S. 322, 391). So schließt er letztendlich auch sein Fazit. Das antike Recht „bringt die Gefühle um Ehre und Rache erst hervor, die es nach heutiger Ansicht eigentlich bändigen soll“ (S. 390).

Dass Ehre und Rache erst aus den Gesetzen evoziert werden, ist angesichts der Verbreitung dieser Phänomene als Hauptursache fraglich. Gesetze und Rechtsvorstellungen müssen nicht zwangsläufig der Einhegung von Rache dienen, bestimmen aber auf jeden Fall deren Anwendungsbereiche und Grenzen. Ist es also nicht vielmehr die Funktion von Gesetzen (Rache-)Gefühle zu kanalisieren?

Besonders bedenklich ist zudem, dass Ruch auf den zentralen Aspekt der Hybris erst spät zu sprechen kommt (ab S. 333); zudem vermeidet er eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem nicht unumstrittenen Begriff. Hybris ist nicht eindeutig, dies zeigt die Bandbreite an Interpretationsansätzen in der neueren Forschung. Zudem existierte eine eigene Klage im Falle von Hybris (graphe hybreos), was besonders hinsichtlich der Problematik Ehre/Rache und ihrer Motivation interessant ist. Hybris wurde als so gewichtig angesehen, dass man hier Handlungsbedarf sah – vor allem in ihrer gesetzlichen Ahndung und Einschränkung. Sie wurde gefürchtet, stasis als eine ihrer möglichen Konsequenzen betrachtet, sodass sich hier durchaus argumentieren lässt: die Klage sollte ein Ausarten der Gewalt einschränken, Grenzen setzen.3 Dieser Umstand spricht dafür, dass eine grundsätzliche Ablehnung bisheriger Thesen in dem vom Autor vorgenommenen Umfang schwierig ist.

Ruchs Buch provoziert, aber das soll es auch. Der Autor bleibt er selbst, auch in seiner Dissertation. Er hat ohne Frage viel recherchiert, sich den Quellen völlig neu und unvoreingenommen gewidmet. Eine steile These zu vertreten und gängige Lehrmeinungen in Frage zu stellen ist grundsätzlich etwas, das in der Wissenschaft zum Fortschritt beitragen kann – ohne Querdenker wäre so manche Forschungsarbeit keinen Schritt nach vorn gekommen. Eine etwas konkretere Eingrenzung des Quellenmaterials wäre wünschenswert gewesen; zudem schießt er an der einen oder anderen Stelle über das Ziel hinaus.4 Dennoch liefert Philipp Ruch einen interessanten, wenn auch nicht immer stichhaltigen Beitrag zur Forschungskontroverse um Ehre, Rache und Recht im archaischen und klassischen Griechenland.

Anmerkungen:
1 Siehe https://www.politicalbeauty.de/ (13.09.2018).
2 Mit den Phänomenen setzt sich der Autor nicht das erste Mal auseinander: Die Ehre im Leib. Raum und Körper als Kampfzonen politischer Superiorität, in: Ulrike Feist / Markus Rath (Hrsg.), Et in imagine ego. Facetten von Bildakt und Verkörperung, Berlin 2012, S. 199–220; sowie Rachedesign. Vom äußeren Fremdzwang zum inneren Gefühl, in: Yana Milev (Hrsg.), Design Kulturen. Der erweiterte Designbegriff im Entwurfsfeld der Kulturwissenschaft, München 2013, S. 113–126.
3 vgl. zur stasis-Gefahr: N. R. E. Fisher, Hybris, status and slavery, in: Anton Powell (Hrsg.), The Greek world, London 1995, S. 44–84, hier S. 46; vgl. allg. ders., Hybris, revenge and stasis in the Greek city-states, in: Hans v. Wees (Hrsg.), War and violence in ancient Greece, Swansea 2000, S. 181–215.
4 Schwierig ist Ruchs Interpretation des verweigerten Bestattungsrechts: er erkennt zwar hier folgerichtig den Ehrverlust, den diese Handlung darstellt. Darüber hinaus aber benennt er das Vorgehen als damnatio memoriae (S. 178), was an dieser Stelle kritisch zu betrachten ist. Es handelt sich um ein vornehmlich römisches Phänomen und bezieht sich in der Regel auf die Auslöschung der öffentlichen Erinnerung an eine Person, das heißt der Fokus liegt mehr auf dem Namen oder Bildnissen dieser Person auf öffentlichen Bauwerken oder Inschriften, weniger auf seinem Leichnam.