L. Atzmon u.a. (Hrsg.): Encountering Things

Cover
Titel
Encountering Things. Design and Theories of Things


Herausgeber
Atzmon, Leslie; Boradkar, Prasad
Erschienen
London 2017: Bloomsbury
Anzahl Seiten
XV, 218 S., 28 Farb- und 37 SW-Abb.
Preis
£ 22.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Ludwig, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

„Encountering Things“ – der Titel verspricht explorative Offenheit und hat zugleich etwas Vages. „To encounter“ umfasst mit „begegnen“, „auf etwas stoßen“, „etwas ausgesetzt sein“ ein breites Bedeutungsfeld, bei dem immer auch Zufall und Überraschung mitspielen. Die Herausgeber beziehen das Wort indes auf die Mensch-Ding-Beziehungen und konkreter auf den „designer-user-environment context“ (S. 2), den sie, Designer als Zielpublikum im Blick (S. 6), mit Fallstudien ausdeuten wollen. Dabei eröffnet der Sammelband ein weites Feld, das von Maschinenmenschen bis zu Kupferkesseln, von Nadeln bis zu Musikanlagen reicht, in dessen Zentrum jedoch Ausdeutungen von Theorien der materiellen Kultur stehen.

Was die 15 versammelten Beiträge eint, ist eine Anwendung der Theorien von Bruno Latour (dessen Charakterisierung der Dinge als Akteure bzw. Aktanten1 bereits viel diskutiert wurde), von Arjun Appadurai und dessen Theorie der „biography of objects“2 sowie des im deutschsprachigen Raum weniger bekannten Literatur- und Kulturwissenschaftlers Bill Brown, der der Frage nachgegangen ist, wie Aufmerksamkeit für Dinge entsteht.3 Auf diese Ansätze beziehen sich die Beiträge in unterschiedlicher Akzentuierung.

Mit der Inwertsetzung von Dingen befasst sich der Kunstkritiker Peter Hall, der ausgehend von der ersten „Design-Ausstellung“ „Machine Art“ im New Yorker MoMA 1934 beschreibt, wie Gebrauchsgegenstände durch ihre Präsentation in den Rang von Kunstwerken gehoben und, als solche erkannt, als „Design-Objekte“ konsumiert werden. Mittels einer Kombination von Kunst- und Neuigkeitswert erfahren sich die konsumierenden Besitzer selbst als Vorreiter des modernen Lebensstils (S. 37). Aufmerksamkeit für Dinge wird hier im Rekurs auf Bill Brown thematisiert, doch ließe sich der Beitrag ebenso mit Blick auf die Funktionsmechanismen der modernen Konsumgesellschaft lesen. Um solche Mechanismen geht es auch in Jan Hadlaws Untersuchung des amerikanischen Telefonapparats der Jahre 1920–1939, der im Titel seines Beitrags als „contested technological thing“ (S. 133) bezeichnet wird. Das derzeit häufig gebrauchte Adjektiv „contested“ trifft allerdings den historischen Hintergrund nicht ganz: Der damalige amerikanische Telefonapparat, entwickelt von Ingenieuren der Bell Company, zeichnete sich durch einen stabförmigen Hörer aus, während in einen gesonderten, am Gerätekasten angebrachten Trichter gesprochen werden musste. Über 20 Jahre veränderte Bell dieses Grundprinzip nicht, obwohl das Publikum eine elaboriertere Form wünschte, am liebsten ein sogenanntes „French phone“ mit integriertem Sprech- und Hör-„Knochen“. Immerhin handelte es sich beim Telefon um ein statusprägendes Objekt, das auch gern vorgezeigt wurde. Hadlaw beschreibt die anhaltende Weigerung Bells, vom eingeführten technischen Prinzip abzugehen, als Dominanz des ingenieurtechnischen Denkens, das aufgrund der Monopolstellung der Firma durchgesetzt werden konnte. Dieser eigentlich klare historische Vorgang wird nun in Bezug auf Appadurais Theorie der Dingbiographie interpretiert, was deutlich macht, dass theoretische Zugriffe auch überdehnt werden können.

Prasad Boradkar und Lyle Owerko untersuchen in ihrem Beitrag das Aufkommen, die Gestaltung und die Nutzung großvolumiger Radio-Kassetten-Recorder in der New Yorker Bronx während der 1980er-Jahre. Bei diesen Geräten sei es einerseits auf eine möglichst entwickelte und multifunktionale Technik in demonstrativem Gewand angekommen, andererseits auf schiere Lautstärke, denn ihr Gebrauch war an die Öffentlichkeit gerichtet. Die (männlichen) Besitzer solcher „boomboxes“ wollten Aufmerksamkeit erregen, Bewunderer um sich scharen und sich gegebenenfalls auch gegen Rivalen durchsetzen. Die Stärke des Geräts übertrug sich auf seine Besitzer (S. 59) und verschaffte ihnen „street credibility“.

Im Gegensatz zu dieser maskulinen Variante amerikanischer Popularkultur steht die Praxis des Umgangs mit Nadeln im Shinto-buddhistisch geprägten Japan. Christine M.E. Guth beschreibt anhand der rituellen Begräbnisübergabe zerbrochener Nadeln in der „hari kuyō“-Zeremonie einen Übergang in den Zustand dauerhafter Erhaltung der Relikte. Während ursprünglich sowohl Akupunktur- wie Nähnadeln gemeint waren, geht es nun vor allem um die mit den Nadeln verbundene Arbeit der Nutzerinnen, an die ebenso erinnert werden soll wie an die qualifizierte Arbeit der Hersteller. In dieser seit dem 17. Jahrhundert bekannten Praxis dokumentiert sich eine respektvolle Haltung gegenüber Dingen und weiblicher bzw. generell menschlicher Arbeit, die in Enzyklopädien als „zivilisiertes Wissen“ (S. 67) vermittelt wurde.

Über die anhand der „boomboxes“ erläuterte Mensch-Ding-Beziehung hinaus verweist der Beitrag zum japanischen Umgang mit Nadeln gleichzeitig auf eine produktionsbezogene Perspektive. Diese nimmt erneut Boradkar in einem Beitrag über indische Kupferschmiede auf, deren handwerkliche Hämmertechnik er detailliert beschreibt. Im Anschluss an die Theorie der „châine opératoire“4 interessiert ihn der Umgang der Produzenten mit dem Material, das beim Prozess der Bearbeitung in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät. Fragen der Materialität seien, so Boradkar, bislang in Untersuchungen über die materielle Kultur wenig analysiert und eher auf einer Ebene von Bedeutungen diskutiert worden (S. 192). In seiner Untersuchung der Arbeit der Kupferschmiede zeigt er dagegen, wie das Material Handlungsweisen erzwingt.

Wenn Boradkar hier zwischen „materiality“ als Kategorie und „materials“ als Untersuchungsgegenstand unterscheidet, kann dies auch als eine grundsätzliche Qualität des besprochenen Bandes verstanden werden: Über den Umweg des Englischen wird erkennbar, wie interdisziplinär und theoretisch fundiert die Debatte über materielle Kultur inzwischen geführt wird. Dies gilt nicht nur für die inzwischen intensive Diskussion über Latours „Agency“-Konzept, sondern auch für die Nutzung der Begriffe „Ding“ und „Objekt“. Während im Deutschen – grosso modo – mit „Ding“ etwas Allgemeines, eher Unspezifisches, mit „Objekt“ dagegen etwas Konkretes, Lokalisier- und Definierbares gemeint ist, erweisen sich die Begriffe im Englischen, in diesem Band besonders in den Beiträgen von Giorgio De Michelis und Cameron Tonkinwise, als analytisches Mittel zur Unterscheidung zwischen der Potentialität des Dings und der Gebrauchsdimension des Objekts. De Michelis bezeichnet Dinge auch als „wild entities“ (S. 124), was deren potentiell offenen Charakter hervorhebt und Gebrauch wie Bedeutung als verhandelbar, veränderlich und kommunikativ, das heißt als kulturellen Prozess kennzeichnet.5 Mit dem Begriff der „objectification“ hingegen wird der mit menschlicher Arbeit (Design, Produktion) verbundene Übergang von Ding zu Objekt charakterisiert (Tonkinwise, S. 50ff.) oder, wie es an dieser Stelle auch heißt, eine Unterscheidung in „intrinsic meaning“ und „contextual meaning“ getroffen (S. 51).

Diese fundierte Diskussion über die Verortung der materiellen Kultur(en) in Mensch-Ding-Beziehungen und damit in der Gesellschaft macht den Band äußerst lesenswert, auch wenn einige Beiträge den theoretischen Anspruch nicht erfüllen können. Die einleitend apostrophierte Verortung im Design-Diskurs erweist sich nach der Lektüre als deutlich erweitert, indem „Design“ wahlweise als Dingaufmerksamkeit, als Teil einer objektbezogenen Handlungskette oder als Auseinandersetzung mit der materiellen „Agency“ der Dinge interpretiert wird.

Anmerkungen:
1 Exemplarisch Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 2006.
2 Arjun Appadurai, Introduction: Commodities and the Politics of Value, in: ders. (Hrsg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, New York 1986, S. 3–63, http://ls-tlss.ucl.ac.uk/course-materials/ARCLG107_47283.pdf (14.05.2018).
3 Bill Brown, Thing Theory, in: Critical Inquiry 28/2 (2001), S. 1–22, http://faculty.virginia.edu/theorygroup/docs/brown.thing-theory.2001.pdf (14.05.2018).
4 Gemeint ist die Kette von Handlungen, die ein Objekt von der Produktion bis hin zum Gebrauch durchläuft; vgl. Nathan Schlanger, The Châine Opératoire, in: Colin Renfrew / Paul Bahn (Hrsg.), Archaeology: The Key Concepts, New York 2005, S. 25–31.
5 Dazu ausführlich Judy Attfield, Wild Things. The Material Culture of Everyday Life, Oxford 2000.

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