B. Kuzmany u.a. (Hrsg.): Aufnahmeland Österreich

Cover
Titel
Aufnahmeland Österreich. Über den Umgang mit Massenflucht seit dem 18. Jahrhundert


Herausgeber
Kuzmany, Börries; Garstenauer, Rita
Erschienen
Anzahl Seiten
262 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Mokre, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Den Ausgangspunkt, nicht aber den Gegenstand dieses Bandes bildet die Massenflucht nach Europa im Sommer 2015. Durch die Analyse früherer Massenfluchtbewegungen bemühen sich die Herausgeber/innen um eine historische Einordnung dieses Ereignisses, die einen klarere Einschätzung erlaubt.

Wie der Titel des Bandes darlegt, beschäftigen sich die neun Beiträge mit Massenfluchtbewegungen in die Habsburger Monarchie und die Republik Österreich vom 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, wobei der quantitative Schwerpunkt deutlich auf dem 20. Jahrhundert liegt: Die Beiträge behandeln die Migration aus dem Osmanischen Reich im 18. Jahrhundert (Timothy Olin), französische Revolutionsemigrant/innen (Matthias Winkler), jüdische Geflüchte vor den Pogromen im russischen Reich Ende des 19. Jahrhunderts (Börries Kuzmany), die Geflüchtetenpolitik während des Ersten Weltkrieges (Walter Mentzel), Staatsbürgerschaftsverlust jüdischer Geflüchteter in der Ersten und Zweiten Republik (Hannelore Burger), Zwangsarbeiter, DPs und Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg (Dieter Bacher und Niklas Perzi), Geflüchtete aus dem real existierenden Sozialismus (Maximilian Graf und Sarah Knoll) und die Entwicklung der bosnischen Community in Enns (Hasan Softić). In der Einleitung (Rita Garstenauer, Börries Kuzmany) werden die Entstehungsgeschichte und die wissenschaftliche Einordung des Bandes beschrieben sowie ein Leitfaden durch den Band geboten.1

Die Autor/innen waren aufgerufen einem gemeinsamen Themenkatalog zu folgen, der die Umstände der Flucht, die Anzahl der Geflüchteten, die Formen und Bedingungen der Einreise, die Erstaufnahme in Österreich, die Chancen und Wünsche in Bezug auf dauerhaften Aufenthalt und die öffentliche Meinung umfasste. Die Herausgeber/innen weisen in ihrer Einleitung darauf hin, dass der letzte Beitrag zu der bosnischen Community in Enns aus dem Raster des Bandes herausfällt. In geringerem Maße scheint dies auch für die Frage von Staatenlosigkeit nach den Ersten Weltkrieg zu gelten. Die anderen Beiträge behandeln tatsächlich strukturell ähnliche (wenn auch qualitativ und quantitativ höchst unterschiedliche) Phänomene und orientieren sich an dem genannten Themenkatalog; trotzdem unterscheiden sie sich in ihrer Schwerpunktsetzung voneinander – aufgrund ihrer Themen wie wohl auch der Interessen der Autor/innen. Insgesamt zieht sich jedoch ein deutlicher roter Faden durch den Band; dieser ist daher in der Lage, einen konziseren Abriss seines Gesamtthemas zu liefern, als dies häufig bei Herausgaben der Fall ist. Und auch die beiden thematisch anders gelagerten Beiträge ordnen sich mit interessanten Perspektiven in das gemeinsame Vorhaben ein.

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, einen Band dieser Art zu rezensieren; insbesondere bietet sich wohl einerseits eine Perspektive auf die historische Genauigkeit der Analysen an und andererseits ein Blickwinkel, der sich der Absicht der Herausgeber/innen anschließt, aus den historischen Analysen für das Verständnis rezenter Ereignisse zu lernen. Die hier vorliegende Rezension verfolgt zweitere Argumentationslinie. Thematisch fokussiert sie auf die Bedingungen der Aufnahme und des eventuellen Verbleibs in Österreich und auf die öffentliche Meinung.

Hier zeigt sich sehr deutlich ein erster roter Faden in Bezug auf die Frage der Nützlichkeit beziehungsweise potenzielle Schädlichkeit der Ankommenden für den Aufnahmestaat. So wurden etwa bestimmte Migrant/innengruppen aus dem osmanischen Reich an der Grenze angesiedelt, um diese zu bevölkern und auch um Grenzkontrollen zu übernehmen (S. 49ff). Den französischen Revolutionsemigrant/innen wurde die Integration in Österreich durch Sicherheitsbedenken hingegen erschwert (S. 78–81). In Bezug auf die Geflüchteten vor den Pogromen in Russland bezogen sich die Bedenken der Behörden in erster Linie auf die Zahl der ankommenden Personen, der durch Grenzkontrollen und Regulierung begegnet wurde (S. 102–103). Auch während des Ersten Weltkriegs war der Umgang mit Fluchtbewegungen durch das Kontrollbedürfnis des Staates und sein Misstrauen gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen geprägt; Geflüchtete fielen bereits ab 1914 unter den Paragraphen der „Vagabundage“ und konnten interniert oder abgeschoben werden (S. 132–135).

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt die österreichische Regierung ein System, um Geflüchtete auszuwählen, deren Verbleib für Österreich als wirtschaftlich günstig eingeschätzt wurde (S. 189). In Hinblick auf die Geflüchteten aus Ungarn 1956, der Tschechoslowakei 1968 und Polen 1981 verstand sich Österreich stets als Zwischenstation und nicht als Einwanderungsland (S. 209–219). In Bezug auf die öffentliche Meinung lässt sich generell konstatieren, dass einer skeptischen bis feindlichen allgemeinen Stimmung häufig die Positionen wie auch konkreten Hilfsleistungen von Communities gegenüberstanden, die sich – aus welchen Gründen auch immer – den Migrant/innen nahe und/oder verantwortlich fühlten.

Anders als bei anderen größeren Fluchtbewegungen stand die öffentliche Meinung den Geflüchteten aus dem realsozialistischen Ungarn im Jahr 1956 eher positiv gegenüber; diese Stimmung kippte jedoch, als sich die erwartete Weiterreise der Geflüchteten länger verzögerte als erwartet (S. 211–213). Bei den Geflüchteten aus der Tschechoslowakei fand ein solcher Umschwung nicht statt, da die Weiterreise oder auch Rückkehr zügig von statten ging (S. 215). Hingegen schlug den polnischen Geflüchteten 1981 von Anfang eine feindliche öffentliche Stimmung entgegen (S. 218–219); dies gilt noch mehr für rumänische Geflüchtete 1989 (S. 224), während die DDR-Geflüchteten des gleichen Jahres in der kurzen Zeit vor ihrer Weiterreise in die BRD sehr positiv aufgenommen wurden (S. 220–223).

Dieser kurze Abriss einiger Ergebnisse der Forschungsarbeiten wird selbstverständlich in keiner Weise der Vielfalt der analysierten Aspekte gerecht; insbesondere fehlen in ihm die außerordentlich interessanten, aber – wie bereits erwähnt – strukturell unterschiedlichen Kapitel zu Staatenlosigkeit (S. 156–174) und zu einem Fallbeispiel für Kettenmigration in Oberösterreich (S. 230–252). Jedenfalls aber stellen die zahlreichen Ähnlichkeiten zum Umgang mit rezenten Fluchtbewegungen einen guten Grund dafür dar, diese Publikation zu rezipieren und aus ihr Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen.

Anmerkung:
1 Abweichend von der Diktion des rezensierten Bandes verwendet diese Rezension durchgängig den Begriff „Geflüchtete“ statt des vielfach problematisierten Terms „Flüchtling“ sowie gendergerechte Sprache.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension