J. Hörath: "Asoziale" und "Berufsverbrecher"

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Titel
»Asoziale« und »Berufsverbrecher« in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938.


Autor(en)
Hörath, Julia
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 222
Erschienen
Göttingen 2017: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
387 S., 9 SW-Abb.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver von Wrochem, - Leitung Studienzentrum -, KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Julia Hörath widmet sich in ihrer Studie der nationalsozialistischen Verfolgung von Angehörigen gesellschaftlicher Randgruppen, die führende Rassetheoretiker und Kriminologen jener Zeit wahlweise als „asozial“ und/oder „verbrecherisch“ ansahen. In den ersten Jahren der NS-Herrschaft wurden viele Menschen aus diesen Gruppen in ein KZ eingewiesen. In Anlehnung an das Dreiphasenmodell der Politikfeldanalyse werden im ersten Kapitel die soziopolitischen Entwicklungslinien zwischen 1880 und 1933 als Phase des konzeptionellen Experimentierens skizziert, in der „Devianz“ und „Delinquenz“ als von der gesellschaftlichen Norm abweichendes Verhalten bestimmt, kontrolliert und unterdrückt wurden. Die folgenden fünf Kapitel sind der Phase des praktischen Experimentierens von 1933 bis 1937/38 gewidmet, in der Konzepte und Methoden zur „Bekämpfung und endgültigen Überwindung unerwünschter sozialer Verhaltensweisen“ erprobt wurden. Die Phase der Zentralisierung, Systematisierung und quantitativen Ausweitung der sozialrassistischen Verfolgung ab 1938 ist Gegenstand des letzten Kapitels. Als Anhang finden sich knappe biographische Skizzen ausgewählter Akteure sowie ein Orts-, Personen- und Sachregister.

Grundlage der KZ-Internierung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ ab Sommer 1933 bildeten die zuvor schon entwickelten rassenhygienischen und kriminalbiologischen Konzepte. Weit verbreitet waren die Idee einer präventiven Verwahrung zum Schutz der Gesellschaft sowie die befristete Einweisung sozialer Randgruppen u.a. in Arbeitshäuser sowie in Lager des Freiwilligen Arbeitsdienstes (FAD). Allerdings ermöglichte erst die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 neben politischen Gegner*innen auch als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ geltende Personen gänzlich außerhalb des für „Volksgenossen“ geltenden Rechts zu stellen. Hörath zeigt eindrücklich, wie sozialrassistische Konzepte der Kriminalprävention im Kontext der Schwächung des Normen- zugunsten des Maßnahmenstaates erprobt und radikalisiert wurden. Die beteiligten Akteure dynamisierten die Instrumente der Verfolgung, in regionalen Erlassen und örtlichen Haftpraktiken verschmolzen „Asozialen“- und „Berufsverbrecherbekämpfung“ miteinander. So wurden soziale Randgruppen mit Instrumenten wie „Schutzhaft“, „Vorbeugungshaft“, unter dem „Heimtücke“-Vorwurf, auf Basis der „Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht“ (RFV) von 1924 oder auf Basis des „Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetzes“ von 1926 in die frühen KZ eingewiesen. Lokale Akteure, „inspiriert von ihren jeweils persönlichen Visionen einer ‚Volksgemeinschaft‘“ (S. 14), wirkten dabei stark auf die Handhabung der KZ-Einweisung ein, während Zentralinstanzen punktuell als Impulsgeber fungierten.

Am Beispiel der ersten großen sozialrassistisch motivierten Verfolgungsaktion, der „Bettlerrazzia“ vom September 1933, legt Hörath überzeugend dar, wie polizeiliche Stellen, Reichsinnenministerium, Landesregierungen, staatliche und private Wohlfahrtspflege und Dienststellen der NSDAP (SA, SS und NSV) bei der Trennung in „aufbauende Wohlfahrtspflege“ und negativ-eugenische Behandlung der „Minderwertigen“ und „Asozialen“ zusammenarbeiteten. Die Razzia löste einen Radikalisierungsschub aus: Im verschärften Klima sozialer Ausgrenzung kam es verstärkt zu Denunziationen und einer „Verstetigung der ‚Schutzhaftverhängungen‘ aufgrund missliebiger sozialer Verhaltensweisen“ (S. 175). Die Wohlfahrtsverbände schwenkten auf eine völkische Interpretation der Fürsorge ein, die eine maßnahmenstaatliche Unterdrückung komplexer sozialer Probleme beinhaltete. Formen der Sozialdisziplinierung nahmen zu, verstärkt wurden Alkoholiker oder Spielsüchtige, Homosexuelle und Zuhälter in Konzentrationslager eingewiesen, so in Hamburg in die KZ Wittmoor und Fuhlsbüttel. Im KZ Eutin/Ahrensbök-Holstendorf stellte die Gruppe der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ zeitweise sogar die Mehrheit der Häftlinge.

Die frühen KZ unterstanden vielfältigen Akteuren und Institutionen und bildeten „Übungsplatz“ und „Probebühne“ (S. 72) für die Verfolgung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“. Hörath weist ein hohes Maß an Eigeninitiative der lokalen Akteure nach. Viele frühe KZ wurden in das System der wohlfahrtspflegerischen und strafrechtlichen Anstaltsunterbringung integriert, darunter das dem Provinzialverband Hannover unterstellte Frauen-KZ Moringen und das KZ Kislau, für welches das Badische Innenministerium sowie der Generalstaatsanwalt in Karlsruhe verantwortlich zeichnete. Beide KZ waren räumlich an bestehende Arbeitshäuser angebunden. Lokale Akteure sorgten u.a. dafür, dass die Grenzen zwischen den beiden Lagerformen verschwammen. In Bayern wiederum wurden auf Initiative des Landesverbands für Wanderdienst (LVW) KZ-Häftlinge aus Dachau zur Arbeitsvermittlung in den Wanderhof Herzogsägmühle überstellt, für als „unerziehbar“ geltende Wanderer schlug der Verband die Einweisung ins KZ vor. Auch situative Momente, wie die Überbelegung des Arbeitshauses Rebdorf in Eichstätt, hatten die Überstellung ins KZ zur Folge, so dass z.B. in Dachau seit Mitte 1934 die Anzahl der als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten kontinuierlich zwischen 20 und 30 Prozent lag.
Bedauerlich ist, dass ausgerechnet das Kapitel, in dem Schicksale von Betroffenen auf Grundlage von Personendossiers und Insassenakten dargestellt werden, für die Drucklegung gekürzt wurde. Das Wechselverhältnis von Inklusion und Exklusion bei der Herstellung der „Volksgemeinschaft“ durch das Zusammenwirken zahlreicher Dienststellen im lokalen Raum und die gravierenden Folgen der ineinandergreifenden Maßnahmen für die Betroffenen werden leider nur für wenige Einzelfälle rekonstruiert. Hörath gelingt es jedoch mit den Fallbeispielen zu verdeutlichen, wie sehr es von lokalen Akteuren abhing, unter welchem Vorwand Personen eingewiesen wurden. Sie zeigt auf, dass die Einweisungen als „gewaltsame Lösung sozialer Konflikte verstanden werden“ können (258), deren Ursprünge oft in der Zeit vor 1933 angesiedelt waren. Beteiligt waren u.a. Fürsorgerinnen der Wohlfahrtspflege, Ortspolizisten, lokale Parteiaktivisten, Gesundheits- und Arbeitsämter und klinische Anstalten, aber auch Personen aus dem direkten Umfeld der Betroffenen.

Hörath beendet ihre Studie mit einem Ausblick auf die Verfolgungspraxis ab 1937/38. Überzeugend arbeitet sie heraus, dass die sozialrassistisch und kriminalpräventiv motivierten Massenverhaftungen, darunter die „Aktion Arbeitsscheu Reich“, einerseits institutionell, organisatorisch und programmatisch auf der Praxis der ersten Hälfte der 1930er-Jahre beruhten, sich andererseits Rahmenbedingungen und Zielsetzungen veränderten. So setzte der „Grunderlass Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ vom 14. Dezember 1937 als reichseinheitliches Instrument zur Verfolgung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ die kriminalbiologischen Theorien konsequenter als zuvor in exekutive Praxis um. Die Einweisung von „Vorbeugungshäftlingen“ in die KZ war spätestens ab Juni 1938 auch wirtschaftlich motiviert, zugleich waren in größerem Maße Sinti und Roma sowie Juden betroffen. Der Ausblick auf die weiteren Entwicklungslinien bis 1945, die eine Ausweitung der Verfolgung im Kontext des Krieges und neue Einweisungsgründe beinhaltete, endet mit dem berechtigten Hinweis, dass die quantitativen und qualitativen Dimensionen der Verbrechen der Kripo zwischen 1933 und 1945 „bislang nur in Ausschnitten aufgearbeitet“ sind (S. 321).

Höraths Dissertation wurde bereits 2013 eingereicht und im gleichen Jahr mit dem Herbert-Steiner-Preis ausgezeichnet, aber erst 2017 publiziert. Sie reiht sich ein in Studien über Aspekte der Verfolgung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ im Nationalsozialismus und in den Konzentrationslagern.1 Diese Forschung bereichert Hörath insbesondere durch ihre Detailanalysen zu den frühen Konzentrationslagern sowie ihren akteurszentrierten Ansatz. Die Studie erhellt damit eine wichtige Dimension der sozialen Praxis in der Frühzeit des Nationalsozialismus. Die Selbstermächtigung und Handlungsmacht der an der Verfolgung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ Beteiligten auf der unteren und mittleren Ebene bedeuteten für diese Akteure Inklusion durch Partizipation und förderten damit die Gestaltung der „Volksgemeinschaft“ von unten. Kehrseite bildeten sozialer Ausschluss und Gewalterfahrung für die als „Asoziale“ und Berufsverbrecher“ Verfolgten. Auch revidiert die Studie die in der KZ-Forschung dominante Meinung, nach der die frühen Lager auf die terroristische Zerschlagung der Opposition zielten, während erst die der 1934 gegründeten Inspektion der Konzentrationslager unterstellten Lager der „rassischen Generalprävention“ (Ulrich Herbert) dienten. Höraths Studie belegt, dass die sozialrassistische und kriminalpräventive Funktion des späteren KZ-Systems im Kern bereits in allen frühen extra-legalen Haftstätten, in denen der Freiheitsentzug einer rechtstaatlichen Grundlage entbehrte, vorhanden war. Ihre Studie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur differenzierten Betrachtung der Funktionsgeschichte der Konzentrationslager und zur Verfolgung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ im Nationalsozialismus.

Anmerkung:
1 Wolfgang Ayaß, „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995; Patrick Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeption und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996; Thomas Roth, „Verbrechensbekämpfung“ und soziale Ausgrenzung im nationalsozialistischen Köln. Kriminalpolizei, Strafjustiz und abweichendes Verhalten zwischen Machtübernahme und Kriegsende, Köln 2010; Dagmar Lieske, Unbequeme Opfer? „Berufsverbrecher“ als Häftlinge im KZ Sachsenhausen, Berlin 2016.

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