J. Niedbalski: Die ganze Welt des Vergnügens

Cover
Titel
Die ganze Welt des Vergnügens. Berliner Vergnügungsparks der 1880er bis 1930er Jahre


Autor(en)
Niedbalski, Johanna
Erschienen
Berlin 2018: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
480 S., 30 Abb.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alina Laura Just, Hamburg

Wer heute in Berlin nach Weißensee oder Halensee fährt, ahnt oft nichts von der schillernden Vergangenheit dieser an Autobahnkreuzen und der Peripherie gelegenen Orte. Um 1900 waren dies blühende Ausflugsziele, die Massen Amüsierwilliger anlockten. Hier erwarteten einen sensationelle Sehenswürdigkeiten und bunte Unterhaltung: exotische Schaustellungen, Figur-8-Bahnen (Achterbahnen), Toboggane (Rutschbahnen) oder ein Eiserner See (Frühform des Autoskooters), leuchtendes Feuerwerk, Tanz und Theater, Speis‘ und Trank. Das alles gab es um 1900 in Berlins Vergnügungsparks zu erleben. Ihre Geschichte behandelt nun umfassend Johanna Niedbalskis Buch, dem die 2017 an der Freien Universität Berlin verteidigte geschichtswissenschaftliche Dissertation der Autorin zugrunde liegt.

Es gab große Vergnügungsparks um 1900 nicht nur in Berlin, sondern in vielen westlichen Metropolen. Das Besondere an ihnen war, dass sie „die ganze Welt des Vergnügens“ boten und nicht bloß Einzelattraktionen, erklärt die Autorin das Thema ihrer Studie (S. 11). Überzeugend legt sie Vergnügungsparks als eigenes „Genre“ (S. 12) urbaner Vergnügungskultur der „langen Jahrhundertwende“ (S. 13 f.) dar. Dafür konzentriert sie sich auf sechs repräsentative Berliner Beispiele: Rudolf Sterneckers Park am Weißen See, die Neue Welt in der Hasenheide, den Vergnügungspark der Gewerbeausstellung 1896 im Treptower Park, den Lunapark am Halensee, den Universum Landesausstellungspark am Lehrter Bahnhof und schließlich das Traumland in der Schönholzer Heide. Die Befunde lassen sich hervorragend auf andere Städte übertragen und bringen die deutschsprachige historische Forschung zu urbanen Populärkulturen im Allgemeinen und zu Vergnügungsparks im Speziellen ein gutes Stück voran.1

Die Arbeit ist im Kontext des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts „Metropole und Vergnügungskultur. Berlin im transnationalen Vergleich, 1880–1930“ entstanden (S. 12).2 Dessen Ansätzen entsprechend lautet die Ausgangsthese, dass Berliner Vergnügungsparks der 1880er- bis 1930er-Jahre „einen qualitativen Beitrag für die Aushandlungs- und Anpassungsprozesse in der sich dynamisch wandelnden Stadtgesellschaft leisteten“ (S. 12). Die Parks waren für Berlins „‘innere‘ Urbanisierung“ (Gottfried Korff) „wichtig und relevant“ (S. 12), was für Niedbalski umgekehrt heißt, dass diese Funktion auch „für das Bestehen der urbanen Vergnügungsparks existenziell war. Das gesamte Genre Vergnügungspark um 1900 war nur so lange relevant und erfolgreich, wie es den Parks gelang, an den urbanen Aushandlungsprozessen teilzuhaben“ (S. 13).

Folglich geht es um die „wechselseitige Beeinflussung von Stadt und Vergnügungspark“ (S. 33) und darum, Vergnügen als „‘konstitutives Element‘“ (S. 20) der modernen Stadtgesellschaft zu begreifen. Dieser Anspruch ist ein wichtiges Verdienst der Studie – wie des genannten übergeordneten Forschungsprojekts –, denn der Bedarf nach empirischen Befunden zur gesellschaftspolitischen Bedeutung von Vergnügungskultur ist noch immer groß. Forschungen, die bisher in diese Richtung wiesen, sind für den deutschsprachigen Raum sehr überschaubar.3

Die Studie gliedert sich in zwei Hauptteile. Während der erste Teil die sechs ausgewählten Berliner Parks aus der „‘Vogelperspektive‘“ untersucht, „‘landet‘ der ‚‘Vogel‘“ im zweiten Teil „im Park“, wie die Autorin es nennt (S. 29), und liefert Innenansichten.

Die ereignisgeschichtliche Darstellung im ersten Teil folgt klugen inhärenten Analysekategorien, die die Chronologie immer wieder durchbrechen. Zäsuren und Entwicklungsphasen des Genres Vergnügungspark sowie der lokalen Gegebenheiten geben die Gliederung vor. Präzise schildert Niedbalski die Akteure und Topographien der Berliner Vergnügungsparks. Nicht zuletzt gelingt es ihr so, populäres Vergnügungsgewerbe als ernstzunehmende Kulturgattung herauszustellen. Denn oft kamen Parkbetreiber oder -gestalter aus anderen Sparten, z.B. vom Film (S. 138f.) und Theater (S. 153f.). Für sie waren die Vergnügungsparks aufregende und lukrative Felder neuer künstlerischer wie unternehmerischer Betätigung. So hilft die historische Akteursperspektive auch, überkommene bildungsbürgerliche Trennungen zwischen ernster und Unterhaltungskultur weiter aufzubrechen.

Stets griffen die Berliner Vergnügungsparks mit ihren Attraktionen neueste urbane Trends und industrielle Technologien auf – das machte sie so modern und „relevant“ für die „Selbstfindung der Stadt Berlin“ (S. 12). Oft genug kamen Ideen aus dem Ausland, vor allem aus dem transatlantischen Raum. Die New Yorker Vergnügungsparks auf Coney Island waren z.B. Vorbilder für den Lunapark (S. 123–127). Doch trotz internationaler Anleihen können die Berliner Parks keinesfalls als „amerikanische Importe“ (S. 403) gelten. Ebenso hatten sie lokale und europäische Vorläufer, nämlich kommerzielle Sommergärten, sogenannte „Vauxhalls“ oder „Tivolis“ (S. 62–66). Solchen transnationalen Aspekten geht Niedbalski konsequent und auf dichter Quellenbasis nach – eine weitere beeindruckende Tiefendimension ihrer Arbeit.

Der zweite Teil des Buchs beschreibt die „Erlebnisdimensionen“ (S. 209), die die Parks ihren Besucher/innen offerierten. „Die subjektiven Erlebnismöglichkeiten“ (S. 36) gaben der Autorin hier ihre Struktur für die thematische Systematisierung vor und sind ihre Grundlage, den „Prozess der ‘inneren‘ Urbanisierung verstärkt in den Blick zu nehmen“ (S. 31). In der Tat gelingt es Niedbalski sehr eindrücklich aufzuzeigen, wie Angebote der Vergnügungsparks „Herausforderungen, Zumutungen, Moden oder gesellschaftliche Neuerungen des Lebens in der Großstadt“ (S. 397) aufgriffen, z.B. indem neue Fahrgeschäfte Techniken der Personenbeförderung wie „fahrende Gehwege“ und „rollende Treppen“ (S. 279–281) einsetzten oder erotische Begegnungen spielerisch ermöglichten, die andernorts mindestens unschicklich gewesen wären (S. 310f., 335–337).

Die Erkenntnis, dass der Reiz populärer Vergnügungen weniger in Eskapismus und Ekstase liegen konnte als vielmehr darin, sich im „vergnüglichen Ambiente mit Alltäglichem auseinanderzusetzen oder sich neue Techniken und Praktiken lustvoll anzueignen“ (S. 397), ist für die zeithistorisch interessierte Vergnügensforschung äußerst relevant. Konkrete „Erlebnisse der Besucherinnen und Besucher rekonstruiert“ Niedbalski dabei allerdings nicht unbedingt, wie sie eingangs ankündigt (S. 32). Kundig und kritisch bindet sie zur Beantwortung ihrer rezeptionsgeschichtlichen Frage zeitgenössische Publizistik und Ego-Dokumente ein. Deren Aussagewert bleibt trotzdem mitunter begrenzt. Was Siegfried Kracauer, Alfred Kerr oder einige Romanciers über Fahr- und Schaugeschäfte schrieben, können zwar, wie Niedbalski argumentiert, „mögliche Dimensionen des Erlebens“ (S. 31) gewesen sein. Dennoch werden diese Intellektuellen nur schwerlich die Sichtweisen der breiten Masse dokumentiert haben.

Der Fokus liegt eher auf den Parkattraktionen, ihrer Entwicklung, Verbreitung und Nutzung, als auf ihrer Rezeption. Das hätte zu Beginn noch ehrlicher ausgeflaggt werden können. Missen aber möchte man diese Kapitel keinesfalls. „Die ganze Welt des Vergnügens“ ist auch im zweiten Teil ein durchweg informatives und trotz seines mit knapp 480 Seiten beträchtlichen Umfangs nirgends redundantes Werk. Besonders die systematische und differenzierte historische Einordnung zentraler Fahr- und Schaugeschäfte ist ein echter Gewinn, hat man hierfür doch bisher auf kunst- und kulturwissenschaftliche Studien zurückgreifen müssen, die gesellschaftsgeschichtliche Kontexte wenig einbezogen.4

So ist Johanna Niedbalski insgesamt ein sehr spannendes und anschauliches Werk gelungen, das ein faszinierendes Zeitbild der wachsenden Großstadt Berlin um 1900 anhand ihrer Vergnügungsparks zeichnet und dabei viel mehr ist als bloß eine Berliner Lokalgeschichte.

Anmerkungen:
1 Internationale Forschungen dazu existieren zahlreicher, vgl. zuletzt Jason Wood (Hrsg.), The Amusement Park. History, Culture and the Heritage of Pleasure, London 2017.
2 Vgl. Paul Nolte (Hrsg.), Die Vergnügungskultur der Großstadt. Orte – Inszenierungen – Netzwerke (1880–1930), Wien 2016; Daniel Morat / Tobias Becker / Kerstin Lange / Johanna Niedbalski / Anne Gnausch / Paul Nolte, Weltstadtvergnügen. Berlin 1880–1930, Göttingen 2016.
3 Erste Arbeiten erschienen um 1990 in der Forschung zu Arbeiter- und Freizeitkultur, vgl. z.B. Lisa Kosok / Mathilde Jamin (Hrsg.), Viel Vergnügen. Öffentliche Lustbarkeiten im Ruhrgebiet der Jahrhundertwende. Band zur gleichnamigen Ausstellung des Ruhrlandmuseums der Stadt Essen, Essen 1992; Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt am Main 1997; ders. / Wolfgang Kaschuba (Hrsg.), Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln 2001 (Alltag und Kultur, 8).
4 Vgl. Florian Dering, Volksbelustigungen. Eine bildreiche Kulturgeschichte von den Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäften der Schausteller vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Nordlingen 1986; Sacha-Roger Szabo, Rausch und Rummel. Attraktionen auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks. Eine soziologische Kulturgeschichte, Bielefeld 2006; Margit Ramus, Kulturgut Volksfest. Architektur und Dekoration im Schaustellergewerbe, Köln 2013.

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