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Titel
Lebhafte Artefakte. Heinz von Foerster und die Maschinen des Biological Computer Laboratory


Autor(en)
Müggenburg, Jan
Erschienen
Anzahl Seiten
379 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara E. Hof, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Im Zentrum der Dissertation von Jan Müggenburg steht die Weiterentwicklung der amerikanischen Kybernetik durch eine zweite Generation von Wissenschaftlern1, die in den 1960er-Jahren am Biological Computer Laboratory (BCL) an der Universität Illinois wirkten. Das 1958 gegründete BCL verkörperte den von Protagonisten der ersten Kybernetik-Generation lang gehegten Wunsch nach einem eigenständigen Institut, welches sich ganz der Übertragung der Großtheorie in die Grundlagenforschung verschreiben sollte. Das BCL lieferte jedoch kaum verwertbare Ergebnisse, seine Finanzierung lief aus und 1974 wurde es geschlossen. Die Entwicklung dieses Labors liest sich folglich emblematisch für das Scheitern der Kybernetik, die in der Nachkriegszeit viel Hoffnung schürte, sich aber weder als Disziplin noch als Methode konservieren ließ und allmählich aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand.2

Müggenburg erschließt die Geschichte des BCL und seiner Figuren einer deutschsprachigen Leserschaft. Neben der Person Heinz von Foersters, der das BCL aufbaute, prägte und bis zum Schluss führte, sind die am BCL entwickelten Maschinen als „diskursive Elemente der Wissensproduktion“ (S. 16) Gegenstand der Untersuchung. In einem ersten Teil stellt Müggenburg die vor-kybernetische Zeit Heinz von Foersters in Wien und Deutschland dar, der 1949 seinen Weg in die amerikanische Kybernetik-Community mithilfe einer der Quantenphysik angelehnten Gedächtnistheorie fand, die den Überlegungen amerikanischer Kybernetiker glich und ihnen deshalb gefiel. Darin fasste von Foerster das Geschehen im Gehirn als diskreten Prozess auf, woran sich nicht nur eine Kritik an der Speichermetapher ablesen lässt, sondern auch Vorüberlegungen zur Funktionsweise biologischer Computer angestellt wurden. In den Vereinigten Staaten arbeitete sich von Foerster schnell zum Mitherausgeber der Veröffentlichungen zur Macy-Konferenzreihe hoch und kam durch die Unterstützung seines neuen Netzwerkes zu einer Anstellung an der Universität Illinois, wo er nach einer Zwischenbeschäftigung in der Röhrentechnik die Gründung seines kybernetischen Labors in die Wege leitete.

Im zweiten Kapitel widmet sich Müggenburg der Symbolik und Idee des Instituts. Eine wichtige Prämisse der Forschung am BCL bildete die Mensch-Maschinen-Analogie, um damit „Computer biologischer Bauart“ (S. 142) zu konstruieren. Durch die Methode der Modellierung sei am BCL versucht worden, die Funktion biologischer Prozesse zu verstehen, um sie anschließend künstlich zu erzeugen. Inspiriert durch die Entdeckung der Neuronen und ihrer Vernetzung beschäftigten sich die Forschenden am BCL mit der Möglichkeit „netzförmig organisierter Computersysteme“ (S. 94). Müggenburg arbeitet neben dem Neuronenmodell von McCulloch und Pitts auch den kybernetisch gewendeten Behaviorismus von Wiener, Bigelow und Rosenblueth, die diese Verhaltenstheorie durch eine teleologische Komponente ergänzt hatten, als einflussreich auf die Grundlagenforschung des BCL heraus. Desweitern habe das von Neumann-Theorem des Computing, aufzufassen als serieller Verarbeitungsprozess, der die hierarchische Logik zurückweist, eine zentrale Rolle in den Überlegungen zum Bau biologischer Computer gespielt. Auf diese drei Pfeiler stützte sich das erste Pilotprojekt, welches 1958 aufgenommen wurde. Später wurde dieses Theoriekonglomerat durch die Selbstorganisationsforschung, die insbesondere der britische Kybernetiker Ross Ashby als jahrelanger Mitarbeiter des BCL beisteuerte, ergänzt.

Nicht nur das Gehirn, das man durch neuartige Bio-Computer nachzuahmen versuchte, sondern auch Sinnesorgane wie Auge und Ohr wurden am BCL als determiniert und computierbar aufgefasst und in Folge maschinell rekonstruiert. Zudem brachte die Bionik als eine Mensch-Maschinen-Schnittstelle in den frühen 1960er-Jahren zahlreiche Vertreter der Kybernetik sowie der KI-Forschung in Symposien am BCL zusammen. Militärische und zivile Förderquellen deckten zu weiten Teilen die Auslagen für Tagungen und die Konstruktion von Maschinen.

Die eigentlichen kybernetischen Maschinen (wie Augen- und Ohrenimitate) rücken erst in der zweiten Hälfte des Buches und somit relativ spät in den Fokus der Darstellung. Müggenburg diskutiert diese weniger als fertige Produkte, sondern vielmehr als Werkzeuge zur Erkenntnisgenese. Der Titel „Lebhafte Artefakte“ soll entsprechend auf zwei Sachverhalte verweisen: einerseits auf die Nachbildung biologischer Prozesse wie der Arbeit der Sinnesorgane, die in technische Funktionen übersetzt und überführt werden sollten, andererseits darauf, dass die Maschinen weit über ihre Fertigstellung hinauswirkten. Laut Müggenburg entwickelten diese eine Art Eigenleben, indem sie als Modelle eine Projektionsfläche sowohl für die Erwartungen der Mittelgeber waren als auch als Plattform zur Exploration weiterer Modelle dienten. Die Entwicklung einer kybernetischen Maschine war folglich nie gänzlich abgeschlossen, sondern verlor sich in Imitationen und repräsentativen Modellen, sodass die vorformulierte, den Geldgebern versprochene Zielsetzung sich nie mit dem Resultat deckte. Die technischen Anwendungen der Kybernetik wurden am BCL nicht in der Gegenwart realisiert, sondern immer auf eine mögliche Zukunft verschoben.

Im vierten und letzten Kapitel wird herausgearbeitet, wie der Rückgang finanzieller Ressourcen den Betrieb des BCL in den frühen 1970er-Jahren zunehmend gefährdete und Heinz von Foerster es nur vorübergehend schaffte, neue Förderquellen zu erschließen. Aus derselben Zeit stammen jedoch laut Müggenburg genau jene Schriften, die als bleibende Produkte des BCL in Erinnerung behalten wurden: Erstens führten Auseinandersetzungen mit biologischen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozessen zur Einnahme einer antirealistischen, erkenntnistheoretischen Position, die die Rolle des Beobachters herausstreicht und als „radikaler Konstruktivismus“ rezipiert wurde. Als zweite fortsetzungsreiche Überlegung erwies sich die „Kybernetik zweiter Ordnung“. Sie fand beispielweise in Deutschland einen Abnehmer in Niklas Luhmann, der sie in die Systemtheorie integrierte. Ein intensiverer Gebrauch von Quellen, die das Beziehungsgeflecht Heinz von Foersters belegen, hätte an der Stelle die Gründe für die ungewöhnliche und verzögerte Karriere der Produkte von Foersters` nachvollziehbarer machen können.

Insgesamt gelingt es Müggenburg am Beispiel des BCL zu zeigen, dass Forschende aus ihrem Scheitern Schlüsse ziehen können, die zwar vom Plan abweichen, aber Einsichten hervorbringen, die in der Fachöffentlichkeit spürbar auf Resonanzen stoßen. Daraus bilanziert Müggenburg eine Sowohl-Als-Auch-Entwicklung wissenshistorischer Ereignisse: Zwar habe keine der am BCL erfundenen Maschinen je eine militärische Nutzung oder einen kommerziellen Abnehmer gefunden. Dieselben Maschinen bildeten aber das Desiderat einer kybernetischen Theoriebildung, die rezipiert wurde.

Müggenburgs Untersuchung macht folglich deutlich, dass neue Forschungsansätze, ihre Förderung, die ans Resultat gebundenen Erwartungen und das daraus resultierende Produkt in den 1960er-Jahren nicht zwingend den ideellen linearen Kurs nahmen.3 Dadurch leistet Müggenburg einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Übersetzungslücke zwischen Forschungskonzepten und der Verteillogik der amerikanischen Forschungsförderung während des Kalten Krieges. Ein Fazit dazu, dass mittels der kybernetischen „Trickmaschinen“ (S. 296) nicht nur finanzielle Mittel erschlossen, sondern mit der Bionik immerhin schon der Titel für ein weiterverfolgtes Programm gesetzt wurde, fehlt aber ebenso wie der deutliche Hinweis darauf, dass die am BCL erforschten neuronalen Netze zur Erzeugung künstlicher Intelligenz rückblickend nur vorübergehend zugunsten symbolischer Ansätze vernachlässigt wurden.4 Dass neuronale Netze in jüngerer Zeit wieder intensiver diskutiert, getestet und eingesetzt werden, hätte die Schlussfolgerung Müggenburgs auch in eine andere Richtung lenken können. Das „verspätete Labor“ (S. 35) war, so könnte man daraus folgern, zugleich verfrüht.

Anmerkungen:
1 Die männliche Form ist hier mit Absicht gesetzt. Aus der Lektüre lässt sich nicht schließen, ob Frauen in der kybernetischen Forschungsgruppe so rar waren, als dass sie nicht erwähnt werden müssen, oder ob sie nur dem Blick von Müggenburg verborgen geblieben sind.
2 Vgl. Wolfgang Coy, Zum Streit der Fakultäten. Kybernetik und Informatik als wissenschaftliche Disziplinen, in: Claus Pias (Hrsg.), Cybernetics/Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953. Volume II, Essays and Documents, Zürich 2004, S. 253–262; Michael Hagner, Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft, in: ders. / Erich Hörl (Hrsg). Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt am Main 2008, S. 38–71.
3 Vgl. Benoît Godin, The Linear Model of Innovation. The Historical Construction of an Analytical Framework, in: Science, Technology, & Human Values 31 (2006), S. 639–667.
4 Vgl. Ulrich Meyer, Die Kontroverse um Neuronale Netze. Zur sozialen Aushandlung der wissenschaftlichen Relevanz eines Forschungsansatzes, Wiesbaden 2004.

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