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Titel
9 septemvri 1944 g..


Autor(en)
Vezenkov, Aleksandăr
Erschienen
Sofia 2014: Siela Norma AD
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 30,20
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO), Leipzig

Würde das deutsche Lesepublikum heute einen lakonischen Buchtitel wie „7. Oktober 1949“ als Gründungsdatum der DDR dechiffrieren? Wohl kaum. Anders hingegen der Fall Bulgarien: Hier gilt bis heute der 9. September 1944, gemeinhin lediglich als „Neunter September“, gar nur als „Neunter“ bezeichnet und für den von den einmarschierenden Sowjettruppen beförderten kommunistischen Staatsstreich stehend, als die wichtigste Zäsur der neueren Nationalgeschichte. Entsprechend wird diese in eine Epoche „vor dem Neunten“ (predi deveti) und die Zeit „nach dem Neunten“ (sled deveti) unterteilt. Im Vergleich dazu spielt der 10. November 1989, das Datum der Palastrevolution gegen den 35 Jahre lang amtierenden Parteichef Todor Živkov, lediglich eine sekundäre Rolle. Mit dem „Neunten“ kann nur noch der 3. März, der „Tag der Befreiung Bulgariens vom türkischen Joch“, mithalten, als das zaristische Russland 1878 dem Osmanischen Reich im Istanbuler Vorort San Stefano, heute Yeşilköy, einen Präliminarfrieden aufzwang, welcher die Schaffung eines vom Schwarzen Meer an die Ägäis und an den Ochrid-See reichenden bulgarischen Staates unter St. Petersburger Ägide vorsah. Der Berliner Kongress wenige Monate später revidierte dieses territoriale Maximalprogramm und sah lediglich die Gründung eines kleinen Fürstentums Bulgarien an Donau und Balkan-Gebirge vor. Dennoch – oder gerade deshalb – schaffte das bulgarische Parlament 1990 den bisherigen Nationalfeiertag 9. September ab und ersetzte ihn durch den von 1888 bis 1944 gültigen 3. März. Dies geschah ungeachtet des Umstands, dass dieses Datum für den seinerzeitigen bulgarischen Territorialanspruch auf Teile des heutigen Griechenlands, Makedoniens, Albaniens, Kosovos, Serbiens, Rumäniens und der Türkei steht. Während heute in Sofija T-Shirts mit den Umrissen „San Stefano-Bulgariens“ und der Aufschrift „Bulgarien der drei Meere“ (incl. der Adria) populär sind, sind die genannten Nachbarstaaten von der Nationalfeiertagswahl des heutigen EU-Mitglieds naheliegender Weise nicht erbaut.

Um kurz vor halb Sieben am Morgen des 9. Septembers 1944, eines warmen und sonnigen Samstags, sendete Radio Sofija eine „an das bulgarische Volk“ gerichtete Erklärung des 56jährige Oberstleutnants der Reserve Kimon Georgiev. Mit „müder“, gar „weiblicher“ Stimme teilte er den „Bulgaren und Bulgarinnen“ mit, die oppositionelle „Vaterländische Front“ (Otečestven front), der auch die kommunistische Partei angehörte, habe eine neue Regierung unter seiner Führung gebildet. Um das Land „vor dem Untergang zu retten“, werde man das Bündnis mit „Hitler-Deutschland“ aufkündigen und den Kampf der Sowjetunion, „des neuen Jugoslawien“, Großbritanniens und der USA gegen „das deutsche Lager“ und „das deutsche Kapital“ unterstützen (S. 13).

Die meisten der Angesprochenen nahmen diese Ankündigung mit gemischten Gefühlen auf, was nicht zuletzt an der Person des neuen Ministerpräsidenten lag. Dieser hatte sich nicht nur bereits 1934 mit Hilfe von Militärs erfolgreich an die Macht geputscht, sondern war auch maßgeblich an einem gleichfalls erfolgreichen Staatsstreich von 1923 beteiligt gewesen. Beide Putsche hatten eine deutlich antikommunistische Stoßrichtung aufgewiesen, so dass zumindest die einfachen bulgarischen Kommunisten und ihre Sympathisanten von der neuen Konstellation mehrheitlich überrascht wurden. Georgiev war indes nicht das einzige politische Chamäleon in der neuen Vier-Parteien-Regierung der „Vaterländischen Front“, die sich einen dezidiert überparteilichen Anstrich gab.

Gleich den deutschen Kommunisten 1945 waren auch die bulgarischen 1944 ihren temporären Verbündeten wie politischen Gegnern gegenüber im Besitz einer Trumpfkarte – der Anwesenheit sowjetischer Besatzungstruppen. Denn am Vormittag des Vortags, am 8. September 1944, überschritt die Rote Armee die Grenze von Rumänien nach Bulgarien und besetzte innerhalb einer Woche das ganze Land (mit Ausnahme der 1941 von Bulgarien okkupierten und 1942 annektierten Teile Griechenlands und Jugoslawiens). Noch am 9. September 1944 stiegen die ersten kommunistischen Partisanen aus den Bergen in die Dörfer und Städte Bulgariens hinab und übernahmen gemeinsam mit örtlichen Kommunisten die Macht. Eine blutige Abrechnung mit „Faschisten“, deren „Helfer“ und anderen „Antikommunisten“ begann.

Der Sofijoter Zeithistoriker Aleksandăr Vezenkov, ein Experte für die Periode der kommunistischen Parteidiktatur, hat sich vier schwierige Aufgaben gestellt: Erstens im Detail zu rekonstruieren, was eigentlich genau am 9. September 1944 in Bulgarien geschehen ist; zweitens wie es dazu kam; drittens welche unmittelbaren Folgen das gehabt hat; und viertens wie dieses Datum zunächst sakralisiert, dann perhorresziert wurde. Zugute kam ihm dabei neben dem Zugang zu den zentralen und regionalen Archiven Bulgariens vor allem ein gewaltiger Fundus an vor wie nach 1989 fixierten autobiographischen Quellen. Von nachgeordneter Bedeutung war für ihn die bulgarische, sowjetische und westliche Historiographie der Zeit vor 1989, aber auch das, was die bulgarische Geschichtswissenschaft seitdem zum Thema beizutragen hatte. Dabei gelingt ihm überzeugend, das bis 1989 gültige Narrativ zum „Neunten“ mittels archivgestützter Analyse zu korrigieren sowie zu großen Teilen zu dekonstruieren.

Bezüglich der Vorgeschichte holt Vezenkov weit aus, was erklärt, dass die Ereignisse des 9. Septembers 1944 erst ab Seite 203 figurieren. Zuvor schildert der Autor die Lage Bulgariens im Zweiten Weltkrieg – als Verbündeter Deutschlands, Italiens und Japans einerseits, aber mit der Sowjetunion nicht im Krieg befindlich. Ausführlich behandelt er die Lage der bulgarischen Kommunisten, und dies sowohl im sowjetischen Exil wie im bulgarischen Untergrund, wo eine im europäischen Vergleich relativ schwache Partisanenbewegung entstand. Besonders detailliert stellt er die politisch turbulente Entwicklung des Landes im Sommer 1944 sowie dessen sich dramatisch ändernde militärische Lage dar: Die bulgarische Armee zog sich angesichts der erstarkenden Tito-Partisanen fluchtartig aus dem annektierten Teil Jugoslawiens zurück, der Ministerrat proklamierte die Neutralität Bulgariens, die Sowjetunion erklärte dem Land den Krieg und am 8. September überschritt die Rote Armee, wie gesagt, dessen Grenze. Und gleichfalls detailliert werden die unmittelbaren Vorbereitungen zum Umsturz in der Nacht vom 8. auf den 9. September dargestellt. Etwas zu kurz kommt diesbezüglich indes der „sowjetische Faktor“. Denn dass es sich bei Umsturz und Einmarsch nicht um bloße zeitliche Koinzidenz, sondern um koordinierte Aktionen handelte, legt die dichte Kommunikation zwischen den bulgarischen home communists mit den Moscow communists um Georgi Dimitrov sowie zwischen diesem und Stalin – und damit mit der sowjetischen Armeeführung – mehr als nahe.

Die Qualität eines Politthrillers hat dann Vezenkovs Beschreibung der Durchführung des Putsches in der Hauptstadt Sofija, welche der Autor dazu nutzt, etliche Mythen aus volksrepublikanischen Tagen zurecht zu rücken, vor allem was die persönliche Rolle des langjährigen Partei- und Staatschefs Todor Živkov betrifft. Während des Krieges hauptberuflich als Hausmann tätig, stilisierte er sich später selbst zu einem maßgeblichen Akteur der Ereignisse am 9. September, was nach 1989 auf den heftigen Widerspruch seiner seinerzeitigen Genossen stieß.

Eindringlich ist auch Vezenkovs eingehende Schilderung der Machtübernahme der Kommunisten mittels der von ihnen gesteuerten „Vaterländischen Front“ auf regionaler wie lokaler Ebene, wobei es zu Zusammenstößen mit Garnisonen der bulgarischen Armee kam. Generell war die Bevölkerung sowohl von der kommunistischen Machtübernahme wie vom Einmarsch der Roten Armee überrascht. Aber trotz der sowjetischen Kriegserklärung an Bulgarien wurden die Rotarmisten in Bulgarien als „slavische Brüder“ mehrheitlich freundlich empfangen, an manchen Orten gar als „Befreier vom Faschismus“ gefeiert. Zu diesem Empfang trugen nicht nur die Erinnerung an die „Befreiung“ durch die zarische Armee 1878, sondern auch sprachliche Missverständnisse bei, etwa wenn ein sowjetischer Major bulgarische Dorfbewohner auf Russisch mit krest’jane (Bauern) adressierte. Die so Angesprochenen verstanden christijani (Christen) und waren entsprechend positiv überrascht (S. 20). Hinzu kam der Umstand, dass sowjetische und bulgarische Armeeangehörige vom November 1944 an in der Tat „Waffenbrüder“ waren. Dies deshalb, weil Bulgarien auf der Seite der UdSSR in den Krieg gegen das „Dritte Reich“ und seine Verbündeten eintrat.

Zeitgleich zu diesem Kampfeinsatz vom Herbst 1944 bis zum Frühjahr 1945 kam es zu einer politischen Säuberung der bulgarischen Armee durch die die „Vaterländische Front“ dominierenden Kommunisten. Gleichfalls einer massenhaften Säuberung gleich kam im Dezember 1944 die Einrichtung eines Volksgerichts (Naroden săd) parallel zum bestehenden Justizsystem. Bis April 1945 wurden in 135 Schnellprozessen harte Urteile gegen die herrschende Elite der Jahre 1941–1944 gefällt. Ein Drittel davon, 2.730, waren Todesurteile. Die neuen Herren nutzten ihre Machtstellung aber auch zu eigenmächtiger Gewalt, zu Morden aus Rache und Selbstjustiz, desgleichen zu massenhaftem Terror gegen die unteren Ebenen des alten Regimes, hier gegen Polizisten, Gendarmen, Unteroffiziere, Beamte, Lehrer, Popen u.a. „Dem unblutigen Umsturz“, so der Autor, „folgte ein gemessen an der Zahl der Opfer gigantischer politischer Terror“ (S. 359).

Die militärische Präsenz der Roten Armee sowie die sowjetische Dominanz in der trilateralen Alliierten Kontrollkommission für Bulgarien, in der auch Großbritannien und die USA mit kleinen Kontingenten vertreten waren, hatte eine merkwürdige Folge: Zwar war der ehemalige Kriegsgegner Bulgarien jetzt Verbündeter der Sowjetunion, wie sich auch die Kommunisten in Moskau und Sofija als „Kampfgenossen“ betrachteten, aber dennoch war Bulgarien sowjetisch besetzt. Gemäß dem Waffenstillstandsabkommen vom 28. Oktober 1944 stellte nicht länger der bulgarische Regentschaftsrat, sondern Sowjetmarschall Fёdor Tolbuchin als Vorsitzender der Kontrollkommission die oberste Autorität dar. Dies erwies sich für die bulgarischen Kommunisten und ihre Verbündeten in der „Vaterländischen Front“ als großer Vorteil bei der Stalinisierung des Landes.

In seinem Schlusskapitel stellt der Autor „wechselnde Einschätzungen und unbestreitbare Fakten“ bezüglich des 9. Septembers 1944 einander gegenüber. Überzeugend zeichnet er dabei den politisch begründeten Deutungswandel von den ursprünglichen Propagandatopoi eines „antifaschistischen Volksaufstandes“ (narodno antifašistko văstanie) bzw. einer „volksdemokratischen Revolution“ (narodnodemokratična revoljucija) über die Živkov’sche Formel der „sozialistischen Revolution vom Neunten September“ (Devetoseptemvrijskata socijalističeska revoljucija) und dem Nach-„Wende“-Terminus „Wende“ (promjana) bis hin zu dem von ihm präferierten Begriff „Umsturz“ (prevrat) nach. Diesen will er dabei nicht auf einen bloßen Militärputsch eingeengt haben, sondern betont, dass es sich dabei um eine politische Aktion mit Unterstützung von Teilen der Armee gehandelt habe.

So gut wie nie verfällt der Autor in den Geschichtssprech der Zeit vor 1989. Auffällig ist allerdings die euphemistische Formulierung „die neu vereinigten Gebiete“ (novoprisăedinenite zemi) für den Großteil des jugoslawischen Vardar-Makedonien, der im April 1941 von Bulgarien okkupiert und im Oktober 1942 annektiert wurde (S. 151). Hier wirkt die nationale Chimäre des besagten „San Stefano-Bulgarien“ von 1878 nach, welches auch und gerade Vardar-Makedonien (samt etlichen weiteren Gebieten) einschließt.

Der Band verfügt über einen s/w-Abbildungsteil mit Dokumentenfaksimile sowie zeitgenössischen und aktuellen Fotografien, wobei vor allem das undatierte, aber wohl aus dem September 1944 stammende Umschlagsfoto eines Partisanen vor urbanen Passanten hervorsticht: Dessen nahezu kindliche Erscheinung samt ziviler Kleidung – Sakko, Flanellhemd und Ballonmütze – deuten weder auf Kampferfahrung noch auf langjährigen Aufenthalt im Gebirge hin. Sein Koppel samt Patronentasche und das Gewehr, wohl eine Jagdflinte, ändern daran wenig. Ähnlich die operettenhafte Wirkung des Fotos dreier bewaffneter Mitglieder der „Vaterländischen Front“ im Park vor dem Rektorat der Sofijoter „Kliment Ochridski“-Universität, ebenfalls wohl im September 1944: Zwar führen sie neben Langwaffen auch ein leichtes Maschinengewehr mit sich, doch ist der Dienstälteste in ein dunkles Anzugjacket samt passendem Hut gekleidet und hat, wohl eigens für den Fotografen, den mittleren Jacketknopf vorschriftsmäßig zugeknöpft …

Der Band verfügt bedauerlicherweise über kein Quellen- und Literaturverzeichnis, auch über keine Register, doch enthalten die Fußnoten detaillierte bibliographische und archivalische Angaben, letztere bezogen sowohl auf das Zentrale Staatsarchiv in Sofija wie auf etliche Bezirksarchive.

Aleksandăr Vezenkovs ebenso lakonisch wie inhaltsschwer mit „9. September 1944“ betitelte Monographie ist ein Meilenstein der bulgarischen Geschichtsforschung. Wie in einem Prisma fokussiert er die dramatische Geschichte Bulgariens in den 1940er-Jahren auf diesen Spätsommersonnabend und dessen bis heute divergierenden Wertungen zwischen „lichtem Datum“ und „schwarzem Tag“. Den Raum zwischen diesen beiden Extremen füllt sein Buch.

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