H.-E. Tenorth: Wilhelm von Humboldt

Cover
Titel
Wilhelm von Humboldt. Bildungspolitik und Universitätsreform


Autor(en)
Tenorth, Heinz-Elmar
Erschienen
Paderborn 2018: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
259 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Schultze, Gedenkstätte Leistikowstrasse Potsdam / Wirtschaftsgeschichte, Technische Universität Berlin

Der Gelehrte und Schriftsteller Wilhelm von Humboldt (1767–1835) zählt zu den Klassikern der deutschen Philosophie und steht in seiner Rolle als Bildungsreformer bis heute repräsentativ für die „Idee der Universität“. Unter den zahlreichen neuen Publikationen über Leben und Werk Wilhelm von Humboldts, die im Kontext der 250-Jahrfeier seines Geburtsjahres erschienen sind, gehört auch dieses Buch des Berliner Bildungshistorikers und emeritierten Professors für Historische Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Heinz-Elmar Tenorth gilt als ausgewiesener Kenner der Humboldtschen Bildungsreformen. Die „Humboldtsche Universität“ erscheint als Synonym für die moderne deutsche Universität, eine Zuschreibung, der Universitäts-, Bildungs- und Wissenschaftshistoriker durchaus kritisch gegenüberstehen. Sie sehen in ihr einen „Mythos“, der mit der Realität der Universität heute wenig zu tun habe. Schließlich drohe Humboldt in der „Rede vom ‚Mythos Humboldt‘ verloren zu gehen“ (Klappentext).

Das vorliegende Buch ist eine Zusammenstellung teils älterer, bereits anderweitig veröffentlichter Texte und einigen Erstveröffentlichungen. Tenorth diskutiert die widersprüchlichen Zuschreibungen, die Humboldt erfahren hat, außerdem, welche Bedeutung Humboldt für die Gründung der Berliner Universität und für deren weitere Geschichte und ihrer Idee in Deutschland zukommt; dann die zugleich historische wie systematische Frage, welche Art von Universität sich aktuell mit Humboldt gestalten und begründen lässt, auch vor dem Hintergrund der internationalen, zumal der US-amerikanischen Diskussion über die moderne Universität.

Der Autor ist bekannt für seine langjährige Auseinandersetzung mit dem „Mythos Humboldt“, was die Frage evoziert, warum ein weiteres Werk dazu? Doch Tenorth hat mehr vor und auch mehr zu bieten, als „nur“ die kritische Analyse dieses beharrlichen Mythos, wenn er als Anspruch formuliert: „Humboldt, die Universität und die Bildungspolitik von 1809/1810, diese viel diskutierten Themen, verdienen neue Aufmerksamkeit, weil sie in ihrer historischen Gestalt, politischen Bedeutung und systematischen Lektion in der aktuell dominierenden Debatte eher verschüttet als angemessen gesehen werden“ (S. 7). Man darf also gespannt sein, was jetzt der neue Beitrag zum „angemessenen Sehen“ des „Mythos Humboldt“ bietet, und wird in den Erwartungen auch bestärkt, eingedenk des Zieles des Buches: „[...] die Urteile über die Bildungspolitik und die Erzählungen über die Humboldt-Mythen und über die Universität und die ihr selbst eigenen Mythen sollen [...] auf den Prüfstand gestellt werden – in historischer Vergewisserung, in kontrastierend-komparativer Analyse und mit kritischer Distanz gegenüber Erzählmustern und ihren normativen Implikationen, in der Ruhe, die nach den Jubiläumsfeiern wieder möglich ist“ (S. 8).

Tenorth beginnt mit einer diskursanalytischen Untersuchung der „Idee der Universität“ vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit. In seiner Relektüre dieses Diskurses kann er zeigen, dass Humboldt erst im Kalten Krieg, seit und nach 1960 zu dem Ideal stilisiert wurde, dass man seither als Symbol für die Freiheit der Wissenschaft und die Autonomie der Universität gebraucht. Anhand des Blicks in die USA zeigt Tenorth anschaulich, dass Diskurse über die „Idee der Universität“ nicht auf „Deutschland“ einzuengen sind, wobei er nicht bestimmt, welchen Raum er darunter versteht. Ohnehin konnte hierzulande nie ganz eindeutig und endgültig bestimmt werden, was denn das „Wesen“ dieser Idee überhaupt sein könne oder solle. In den USA fanden sich in den Personen von Kardinal Newman im 19. und Clark Kerr im 20. Jahrhundert „reputierliche Alternativen“ dazu (S. 51–86). „Humboldt wie Kerr“, so Tenorth, „stilisiert man sie […] als eigene Traditionslinie innerhalb der Reflexion von der Idee der Universität, behalten damit auch zu Recht ihre organisationsspezifische Eigenart und ihre systematisch begründete Zukunftsfähigkeit dadurch nämlich, dass die Universität, paradox genug, ihre Produktivität der Anomalie und der scheinbaren Widersprüchlichkeit ihrer Aufgaben verdankt“ (S. 85). Damit ist vor allem die Teilhabe an Forschung als Medium von Bildung gemeint.

Der zweite Teil des Buches, der auch der analytisch stärkste ist, beleuchtet, wie Humboldt nicht allein die Universität zu Berlin gegründet hat, sondern die gesamte Wissenschaftslandschaft Preußens neu ordnete. Hier begegnen wieder typisch deutsche Diskurse, die sich in Reflexion über den Zusammenhang von Bildung und Nation ergehen. Interessant ist der exemplarische Vergleich zweier Texte durch Tenorth: nämlich Wilhelm von Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (1792) mit den Überlegungen des preußischen Landadeligen Eberhard von Rochows Schrift „Zum Nationalcharakter durch Volksschulen“ (1779). Es sind frühe Schlüsseltexte zweier Reformer, die Ambition und Anspruch von Bildung und Nation reflektieren. Man merkt Tenorth an, dass er sich hier in seinem Element bewegt. Dennoch oder gerade deshalb scheinen die Grenzen zwischen historischer Forschung und daraus möglicherweise (induktiv) ableitbarer Folgerungen für die Hochschulsituation und Politik mitunter gar zu verwischt zu sein. Tenorths diskursive Dekonstruktion des „Mythos Humboldt“ fußt eben oftmals darauf, die damaligen Absichten Humboldts und die zu seinen Lebzeiten gegebenen gesellschaftlich-politischen Realitäten mit den heutigen (bzw. den aus jüngerer Vergangenheit) in Beziehung zu setzen. Wenn Tenorth beispielsweise von Rochow und Willy Brandt im selben Satz in einen Sinnkontext bringt (S. 144), vermag das nicht ganz zu überzeugen. Der Autor tut das nicht ohne Not, sondern in dem Versuch, die für Humboldt relevanten Kontexte des Bildungssystems mit den aktuell diagnostizierten Krisen der Hochschulen in Beziehung setzen zu können.

Es gab immer Versuche „Bildung durch Wissenschaft“ als elitäres Erziehungsprogramm zu verstehen. Im dritten Teil des Buches spannt Tenorth den Bogen von Humboldt über die Vereinnahmungsversuche in der DDR bis zum Bologna-Prozess. In den langen Debatten über „Bildung und Wissenschaft“ oder doch besser „Bildung durch Wissenschaft“ befragt Tenorth die „Klassiker, auf die man sich immer beruft“ (S. 203). Doch, so seine Konklusion, auch sie bieten hierbei keine begriffliche Klarheit. Im letzten Beitrag „Lehre in der Universität – die große Ambition und der elende Alltag“ wird dieser Bogen analytisch gespannt über die Lehrkonzepte der Universität zu Berlin, dem inhaltlich und analytisch äußerst bedeutungsvollen Teil über die Lehrsituation in der Frühphase der Universität, der bunten und mannigfachen Kritik an der Hochschullehre im 19. Jahrhundert und schließlich der wohl bis heute gescheiterten Studienreform, der Tenorth „eine Konstante in der deutschen Universität“ zu sein bescheinigt.

Insgesamt gesehen hat Tenorth, trotz der genannten Kritik, einen beeindruckenden Band vorgelegt. Von der Demontage von Mythen zu oder über Wilhelm von Humboldt und seinem Beitrag zur Universität werden neue Aspekt erhellt, ältere Argumente zusammenführt und in dieser Zusammenschau eine die Forschung bereichernde kritische Auseinandersetzung mit dem „Mythos Humboldt“ ermöglicht. Tenorth gelingt es, durch sein kritisches Rereading zahlreiche Lösungsvorschläge und Ideen Humboldts auch für die heutigen Problemlagen als noch immer relevant zu zeigen. Das Problem aus der Ursprungssituation aber bleibt: „Nicht eine Unterrichtsform für die Universität zu finden, ist die Aufgabe, sondern eine Lebensform, die Wissenschaft und Studium, Forschung und Lehre vereinen kann“ (S. 259). Wenn dies aber auch nach über 200 Jahren noch nicht gelungen sein mag, wie könnte sich die weitere Suche danach wohl gestalten? Konkrete Handlungsvorschläge gibt Tenorth hierfür nicht, aber entmutigt sollte man wohl, angesichts der ungenutzten Fähigkeiten der Universität, dennoch nicht sein; „Dem sei Humboldt vor“ (S. 217).

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