T. Noack: NS-Euthanasie und internationale Öffentlichkeit

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Titel
NS-Euthanasie und internationale Öffentlichkeit. Die Rezeption der deutschen Behinderten- und Krankenmorde im Zweiten Weltkrieg


Autor(en)
Noack, Thorsten
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
265 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Kaminsky, Lehrstuhl für christliche Gesellschaftslehre, Ev.-theol. Fakultät, Ruhr-Universität Bochum

Von einem „Frankenstein-Setting“ (S. 177) war im ersten Bericht über die „Euthanasie“ des Leipziger US-Konsulats an sein Außenministerium vom 14. Oktober 1940 die Rede. Todesanzeigen Angehöriger von Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Leipziger Zeitung führten zum Verdacht, die SS teste Chemiewaffen an Kranken. Nachzulesen ist dies in der vergleichenden Studie von Thorsten Noack über die Rezeption der nationalsozialistischen „Euthanasie“ in den drei Ländern Großbritannien, USA und Schweiz. Nachrichten über den Kranken- und Behindertenmord haben am ehesten über Journalisten und die diplomatischen Vertretungen dieser Länder Deutschland verlassen. In diesen Ländern hat es keine deutsche Besetzung und eine freie Presse gegeben. Amerikanische und Schweizer Journalisten konnten sich bis Dezember 1941 noch relativ frei in Deutschland bewegen. Sie konnten Informationen über die NS-„Euthanasie“ sammeln, anders als über den wenig später erst als massenhaften Gasmord durchgeführten Holocaust. Noack fragt, ob es ähnlich wie beim Holocaust, über den es bereits frühzeitig Nachrichten im Ausland gab, auch über die NS „Euthanasie“ Kenntnis gab. Wurden diese ähnlich wie beim Holocaust in den Printmedien nur an wenig prominenter Stelle präsentiert und hatten keine handlungsrelevante Qualität?

Nach einer kurzen Hinführung über die Vor- und Realgeschichte der NS „Euthanasie“ widmet sich Noack der Rekonstruktion des Wissens und der Reaktionen auf diese Morde in den USA, Großbritannien und der Schweiz. Zum Abschluss geht er den Reaktionen der Deutschen auf die NS-„Euthanasie“ nach, wobei er 74 Selbstaufzeichnungen, meist Tagebücher, auswertet. Am Ende des Bandes sind 34 zum Teil schwer zugängliche Dokumente auch aus ausländischen Archiven in deutscher Übersetzung abgedruckt, auf die alle auch im Text Bezug genommen wird. In einem Nachwort reflektiert der Autor über sein Unbehagen als deutscher Forscher über die internationale Rezeption der Kranken- und Behindertenmorde zu forschen und legt seine Zweifel offen, ob hinter seiner wissenschaftlichen Beschreibung nicht „doch eine Anklage unterlassener Hilfeleistung und die altbekannte deutsche Schuldabwehr“ (S. 264) stehe. Er hat diesen selbstreflexiven Zweifel allerdings produktiv eingesetzt.

Noack rekonstruiert akribisch die Informationsflüsse ins Ausland. Das amerikanische State Department hielt die bereits frühen Nachrichten über die Krankentötungen für Greuelpropaganda im Krieg, die einen amerikanischen Kriegseintritt bewirken sollte. Der offenbar von US-Diplomat George Kennan verfasste und dem Geschäftsträger der US-Botschaft in Berlin, Leland Morris, am 20. Dezember 1940 den Kenntnisstand über die „Euthanasie“ in Deutschland zusammenfassende Brief an sein Außenministerium (S. 183–185) stieß eher auf Skepsis. Gänzlich in den Informationskrieg der Zeit wurden auch die Angaben des in London exilierten polnischen Außenministeriums über die Greuel der deutschen Besatzung und Morde an Geisteskranken und Prostituierten eingeordnet. Ähnlich erging es anfänglich den Informationen amerikanischer Journalisten wie Wallace Deuel, William Shirer und Joseph Harsch, die Bemerkungen darüber in Zeitungsartikeln über die Krankenmorde machten. Ein Dekret des Vatikans vom 2. Dezember 1940 gegen die staatliche Tötung von „geistig und körperlich Schwachen“ (S. 47) war im Wortlaut diplomatisch abgeschwächt und blieb ohne Konkretion.

Die deutsche Quelle für die zum Teil recht detaillierten Informationen, die sowohl das Ermächtigungsschreiben Hitlers, das Scheitern eines Gesetzes zur „Euthanasie“ wie die Verweigerung des Betheler Anstaltsleiters Friedrich von Bodelschwingh umfassten, vermutet Noack im Reichsjustizministerium. Reichsjustizminister Gürtner war von evangelischen Vertretern wie Friedrich von Bodelschwingh, dem Anstaltsleiter von Lobetal Paul Gerhard Braune und dem Schwiegersohn des Psychiaters Karl Bonhoeffer, Hans von Dohnanyi, über die laufenden Krankenmorde informiert worden. Gürtner hatte sich von dem Euthanasie-Beauftragten in der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler, eine Kopie des Ermächtigungsschreibens geben lassen. Über Hans von Dohnanyi liefen die Informationen weiter über den Mitbegründer des Kreisauer Kreises Helmuth James Graf von Moltke zu George Kennan, der sie wiederum mit den Journalisten teilte.

Auch nach Großbritannien gelangten um die Jahreswende 1940/41 Informationen über die „Euthanasie“, die jedoch sowohl auf offizieller Ebene wie auch in der Öffentlichkeit keine große Rolle spielten. In der Kriegspropaganda gegen Deutschland wurden die Nachrichten nur spärlich benutzt, auch vor dem Hintergrund der Angst, dass sie ähnlich wie im Ersten Weltkrieg nur als unwahres Propagandainstrument angesehen würden. Die britische Presse blieb misstrauisch und auch Artikel mit analytischer Tiefe, wie „Unmenschen“ von Sebastian Haffner in der deutschsprachigen „Die Zeitung“ blieben skeptisch kommentiert.

In der Schweiz wurde noch weniger über die Krankenmorde berichtet als in den USA oder Großbritannien, was Noack überwiegend mit der „bedrohlichen Nähe“ (S. 136) zum Deutschen Reich erklärt. Zentrale Quellen für die Popularisierung des Wissens über die „Euthanasie“, wie das „Berlin Diary“ von William Shirer blieben durch die Schweizer Zensurbehörde von einer Distribution ausgeschlossen.

Die Kenntnisse über die „Euthanasie“ blieben, so der Befund Noacks, im Ausland begrenzt und gering rezipiert. Doch nicht nur dort, sondern auch in Deutschland waren es zunächst Angehörige von Opfern und kirchliche Milieus, die Wissenskerne der Geschehnisse bildeten. Das diffuse Wissen verbreitete sich in Form von Gerüchten offenbar besonders in der ersten Jahreshälfte 1941.

Von den 74 von Noack ausgewerteten Tagebüchern aus der Kriegszeit erwähnten acht die Krankenmorde. Die Auswahl der ausgewerteten Tagebücher wird leider nicht begründet, so interessant diese auch sind. Auf andere, bereits in der Forschung zur NS-Zeit eingeführte Quellen wie die SD-Berichte oder die Berichte der Oberlandesgerichtspräsidenten, die zumindest indirekt auch die Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf die NS-„Euthanasie“ spiegelten, wird leider nicht oder nur am Rande eingegangen, auf kirchliche Quellen, die ebenso ein Abbild der Stimmung darstellen könnten, ebenso wenig.

Einen Zusammenhang der um sich greifenden Gerüchte mit der zeitgleichen britischen Propaganda kann Noack nicht beweisen. Auch auf die Frage der Rückwirkung auf die deutsche Propagandatätigkeit durch den Abwurf britischer Flugblätter, in denen die „Euthanasie“ dargestellt wurde, oder durch die Übermittlung der erwähnten Zeitungsartikel von Haffner oder des „Berlin Diary“ von Shirer kann mangels Quellen keine eindeutige Antwort gegeben werden. Noack verweist darauf, dass auch der Abbruch der „Aktion T4“ durch Hitler am 23./24. August 1941 zumindest durch die internationale Wahrnehmung der Kranken- und Behindertenmorde begünstigt gewesen sein kann. Besonders die in den ausländischen Berichten erfolgte „Umkehrung der Opferfolge“ (S. 165) von Behinderten und psychisch Kranken zu gesunden „Volksgenossen“ und verwundeten Soldaten habe Eindruck gemacht.

Noack schließt mit einer Analogie der Wahrnehmung der NS-„Euthanasie“ zum Holocaust. Beide Mordkomplexe haben für die Beobachter und Leser „beyond belief“ (Deborah Lipstadt) gelegen. Die Authentizitätsfrage begleitete die Nachrichten über beide Verbrechen. Das Interesse der internationalen Leserschaft lag jedoch auf dem Kriegsverlauf und bei heroischen Geschichten. Für die „Euthanasie“-Morde galt zudem, dass es ihnen im Vergleich zu den Opfern der Shoah an Fürsprechern im Ausland fehlte.

Thorsten Noack hat mit seiner Habilitationsschrift eine Pionierstudie über die internationale Rezeption der Behinderten- und Krankenmorde im Zweiten Weltkrieg vorgelegt, die aus zahlreichen ausländischen Archiven erarbeitet ist. Im Kern der Untersuchung stehen Nachrichten über die zeitlich erste Mordphase der NS-„Euthanasie“, die „Aktion T4“, bis zum August 1941. Hier rekonstruiert der Autor genau und kann interessante Verbindungen im internationalen Rahmen benennen. Er zeigt die Wege der Nachrichten ins Ausland auf und ordnet seine plausiblen Thesenbildungen in die bestehende Forschung zur NS-„Euthanasie“ ein.1 Insgesamt ist der dokumentarische Wert des Buches hervorzuheben, der durch den Abdruck der übersetzten Dokumente am Ende des Bandes unterstrichen wird. Der ansonsten existierende Mangel an Quellen über die Rezeption der deutschen Kranken- und Behindertenmorde, der zum Beispiel gerade auch die „Sonderaktionen“ wie gegen jüdische Patienten oder gar die zweite dezentrale Phase der NS-„Euthanasie“ ab 1942 betrifft, ist ihm nicht anzulasten.

Anmerkung:
1 Bezugspunkte bilden dabei die Forschungsüberblicke von Winfried Süß, Krankenmord. Forschungsstand und Forschungsfragen zur Geschichte der nationalsozialistischen „Euthanasie“, in: Theresia Bauer / Winfried Süß (Hrsg.), NS-Diktatur, DDR, Bundesrepublik. Drei Zeitgeschichten des vereinigten Deutschland. Werkstattberichte, Neuwied 2000, S. 47–84; Hans-Walter Schmuhl, „Euthanasie“ und Krankenmord, in: Robert Jütte u.a., Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011, S. 214–255.

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