N. Bayer u.a. (Hrsg.): Kuratieren als antirassistische Praxis

Cover
Titel
Kuratieren als antirassistische Praxis. Kritiken, Praxen, Aneignungen


Herausgeber
Bayer, Natalie; Kazeem-Kamiński, Belinda; Sternfeld, Nora
Reihe
Edition Angewandte. curating. ausstellungstheorie & praxis 2
Erschienen
Berlin 2017: de Gruyter
Anzahl Seiten
345 S., 15 Abb.
Preis
€ 39,95; $ 45.99; £ 35.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Helber, Deutsches Historisches Museum, Berlin

Auch im Jahr 2018 sind Museen in Deutschland oft weiße1 Orte, an denen Kunst und Geschichte aus der Perspektive einer von Rassismus nicht negativ betroffenen Gruppe von Bildungsbürger/innen ausgestellt, vermittelt und gesammelt wird. Der Anspruch vieler Häuser, kulturelle Vielfalt zu repräsentieren steht meist im Widerspruch zu einer sehr homogenen weißen, christlich sozialisierten, heteronormativen Personalstruktur an Menschen ohne körperliche Einschränkungen. Subalterne2 Positionen werden in Institutionen oft ignoriert, fremdrepräsentiert oder mittels partizipativer Ansätze nur befristet und projektbezogen in Häuser geholt. Letzteres gibt kaum Gelegenheit, nachhaltig strukturellen Wandel hin zu einem Ausstellen ohne Diskriminierung und für alle zu erzeugen.

Vor diesem Hintergrund vereinen die Herausgeberinnen Natalie Bayer, Belinda Kazeem-Kamińksi und Nora Sternfeld in ihrem Sammelband Beiträge, die neue Perspektiven für antirassistisches Kuratieren aufzeigen, die Museen der Gegenwart kritisch analysieren und gelungene Beispiele für antirassistische und diskriminierungsfreie Kulturarbeit und Ausstellungsprojekte präsentieren. Das Buch bringt theoretische Ansätze der postkolonialen Museologie mit kritischen Ausstellungsanalysen und Beispielen aus der künstlerischen und kuratorischen Praxis zum Thema antirassistisches Kuratieren zusammen. Insgesamt 21 Autor/innen und Künstler/innen äußern sich in 17 Beiträgen zu den vier Themenblöcken „Don’t get over it, if you are not over it: handeln statt repräsentieren“ (1), „Strategien der Intervention: uneingeladenes Widersprechen“ (2), „Anrufungen: widerständig bleiben“ (3), „Aneignungen: trotzdem weitermachen“ (4). Der Sammelband kombiniert theoretische, praxisorientierte und künstlerische Beiträge, wobei besonders letztere durch große Farbabbildungen begreifbar gemacht werden. Die Herausgeberinnen betonen: „Diese – möglicherweise auch nur scheinbar – widersprüchlichen Positionen nebeneinander und nicht gegeneinander zu stellen, ist uns wichtig, um transversale Solidaritäten und ein gemeinsames Kämpfen für eine gleichere, freiere und solidarischere Welt ohne rassistische Strukturen, Diskurse und Praktiken denkbar zu machen“ (S. 20). In den Texten skizzieren die Autor/innen, inwiefern das Museum als Austragungsort sozialer Kämpfe für marginalisierte Gruppen dienen kann und wie diese Gruppen zu ihrem Recht kommen, sich innerhalb musealer Räume selbst zu repräsentieren.

Ziel des Werkes ist es, „postkoloniale, feministische und repräsentationskritische Bezüge aus früheren Buch- und Kunstprojekten mit Ansätzen einer neueren kritischen Migrationsforschung zusammenzuführen“ (S. 17). Dabei geht es ihnen unter anderem darum, aufzuzeigen, dass trotz weitgehender Akzeptanz postkolonialer Ansätze „auch in der Gegenwart das Museum ein unbehaglicher Ort“ (S. 17) geblieben ist, an dem gesellschaftliche Ausschlüsse fortbestehen und ungenügend kritisiert werden. Sie führen an, dass viele Einrichtungen trotz Paradigmenwechsel in der Forschung ihre Arbeitsweise und ihr Selbstverständnis kaum gewandelt haben: „In einer Gegenwart häufig widersprüchlicher Situationen zeigt sich Rassismus als ein wirkungsvoller Differenzierungs-, Ausgrenzungs- und Normalisierungsapparat und nicht immer als ein leicht greifbarer Tatbestand von Kulturpolitiken und -institutionen, insbesondere in Hinsicht auf neuere Diversity- und Gleichstellungspolitiken“ (S. 18).

Ein Höhepunkt des Bandes ist das Gespräch zwischen den Herausgeberinnen „Wo ist hier die Contact-Zone?! Eine Konversation“, das den vier Themenblöcken vorausgeht (S. 23–47). Darin betonen sie, dass viele Ausstellungen ungewollt durch Gegenüberstellungen Exotik und Hierarchien reproduzieren und einen „colonial flashback“ (S. 24) produzieren. Anstelle der „Reinszenierung kolonialer Blickregime“ sollte beim antirassistischen Kuratieren Voyeurismus vermieden beziehungsweise sollten „hegemoniale Blicke“ zurück auf die Betrachtenden geworfen werden (S. 25). Im Zentrum steht eine Rassismus-Definition, die statt sich auf rechtsradikale sprachliche oder physische Gewalt zu konzentrieren, Privilegien und Macht ins Zentrum rückt, die als „Realität[en] der Institutionen“ überwunden werden müssen (S. 30). Das könne nur durch einen Paradigmenwechsel im Sinne der „Fragentrias der postkolonialen Theorie“ (S. 30) geschehen. Ein Wechsel, der über die symbolische Sichtbarkeit von Marginalisierten hinausgeht. Konkret hieße das, stets zu fragen: „Wer spricht über und für wen? Wer und was kann unter welchen Bedingungen kanonisiert werden?“ (S. 30). Nur so sei es möglich, „das Sichtbare, Sagbare, [und] Denkbare zu verändern.“ (S. 42). Antirassistisches Kuratieren ist für die Herausgeberinnen nie ausschließlich auf Rassismus begrenzt, sondern stets intersektional gedacht. Es lasse sich deshalb nur „kollektiv denken“ (S. 43). Als ein kollaborativer Prozess und ein „Bruch mit einem heteronormativen, klassistischen, ableistischen, rassistischen Status quo“ (S. 44).

Im Beitrag „Über das Reparieren hinaus. Eine antirassistische Praxeologie des Kuratierens“ (S. 53–70) kritisieren Bayer und Mark Terkessidis die Ausstellung „Immer bunter. Einwanderlungsland Deutschland“ (2014) der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Anstelle von Multiperspektivität sei in der Ausstellung „die Bundesrepublik das eigentliche Subjekt“ gewesen und die „Subjektivität der Einwander/innen in der gesamten Ausstellung kaum ins Spiel“ gekommen (S. 55). Sie führen zudem an, dass nur fünf bis zehn Prozent der Gesellschaft kulturelle Institutionen besuchen und diese Gruppe von meist deutscher Herkunft und bildungsbürgerlichem Hintergrund sei (vgl. S. 59). Im Sinne eines antirassistischen Kuratierens fordern sie „Accessibility“ (S. 60) und die Einbeziehung multipler Subjektivitäten und Perspektiven, bereits bei der Ideen- und Konzeptentwicklung, um so „multiperspektivisches Wissen“ (S. 62) zu erzeugen. Einhergehen müsse das mit einer „Fokusverschiebung vom Endprodukt auf die Entstehungsweise“ (S. 66).

Hervorzuheben ist auch Nora Sternfelds Beitrag „Warum überhaupt ausstellen? Eine Antwort aus dem Jahr 2030“ (S. 291–308), der die Gegenwart aus der Sicht einer Dystopie kommentiert. Sie schreibt aus einem „Paramuseum“, das sich trotz autoritärer Gesellschaft in eine kleine Utopie verwandelt hat: „Nun sind wir ein Paramuseum, kollaborativ geführt, verwaltet und erhalten. Wir sind eine Gruppe von Aktivist/innen und Organisator/innen – alle sind auch Kurator/innen und Vermittler/innen –, manche sind migrantische Historiker/innen, Schwarze Theoretiker/innen, rebellische Jüd/innen, Künstler/innen of Color, poetische Techniker/innen, proletarische Pädagog/innen, progressive Konservator/innen, subversive Handwerker/innen und emanzipatorische Ethnolog/innen“ (S. 293). Die Autorin stellt die Frage nach der Funktion von Museen und Ausstellungen in einer Zeit des politischen Rechtsrucks. Eine Herausforderung, der sich Museen in Deutschland im Jahr 2018 angesichts einer offen rassistischen und antisemitischen Partei im Bundestag und zahlreichen Landtagen stellen müssen.

Eine Stärke des Bandes ist die Vielfalt an internationalen und zahlreiche Genres betreffenden Beispielen und deren thematische Bandbreite, die von Flucht, Staatsbürger/innenschaft, rassistischer Polizeigewalt in den USA, Genozid an den Armenier/innen, (post)kolonialer Geschichte, der Repräsentation von Minderheiten in ethnologischen Museen in Finnland oder Exotismus in der Tanzgeschichte reichen. Beispielsweise erläutert der Text zur Performance „Welcome to The Formaldehyde Trip“ (S. 309–338) von Noami Rincón Gallardo ein Projekt, das aus den Augen eines in Formaldehyd eingelegten Axolotls vom Leben nach dem Tod von Bety Cariño erzählt. Die mexikanische Aktivistin wurde 2010 von Paramilitärs ermordet.

Die Herausgeberinnen legen ein politisches Werk vor, das Erkenntnisse und Forderungen aus Postkolonialer Theorie, Kritischer Weißseinsforschung und Gender Studies kombiniert und in geballter Form ins Museum bringt. Sie äußern Kritik, liefern aber auch einen Leitfaden. Kurator/innen, die an einem Wandel interessiert sind, der über die Einbeziehung von Communitys als Token3 hinausgeht, finden Anregungen. Es bleibt zu wünschen, dass Ausstellungen die Irritation der Besucher/innen nicht scheuen und stattdessen gemeinsame Räume für „widerständiges Wissen“ (S. 40) schaffen. Leider steht im Band nichts zur Repräsentation und Partizipation von Communitys in Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. In dem Kontext sind die Narrative oft ähnlich homogen wie in Museen und die Kurator/innen nicht negativ von Antisemitismus, Rassismus, Antiziganismus, Homophoie oder Ableismus betroffen.

Anmerkungen:
1 Weiß ist weder einen biologischer Begriff noch eine ‚Hautfarbe‘, sondern steht für eine privilegierte Position in der Gesellschaft. Weißsein ist eine historisch durch rassistisches Wissen konstruierte, unsichtbare und machtvolle Norm, die Beziehungen zwischen Menschen und deren Zugang zu Ressourcen strukturiert (vgl. Noah Sow: „weiß“, in: Susan Arndt / Nadja Ofuatey-Alazard (Hrsg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2011, S. 190).
2 Der Terminus subaltern wurde von Gayatri Spivak in die Postkoloniale Theorie eingeführt, um eine heterogene Gruppe an diskriminierten und marginalisierten Menschen zu bezeichnen. Zuvor nutze den Ausdruck Antonio Gramsci, um Gruppen zu kennzeichnen, die der Hegemonie der Herrschenden unterworfen waren (vgl. Bill Ashcroft / Gareth Griffiths / Helen Tiffin (Hrsg.), Key Concepts in Post-Colonial Studies. Key Concepts Series, London 1998, S. 215).
3 Mit Tokenismus wird kritisiert, dass subalterne und marginalisierte Akteur/innen nur vereinzelt Zugang zu Institutionen haben. Der dient der Selbstdarstellung der Institution als divers, während die Diskriminierung innerhalb der Struktur unsichtbar fortbesteht (vgl. S. 139).