Titel
Plotlines of Victimhood. The Holocaust in German and Dutch History Textbooks. 1960–2010


Autor(en)
van Berkel, Marc
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Isabel Bruening, Institut für Geschichtsdidaktik und Public History, Universität Tübingen

Ein weiser Professor, der in seinem Leben unzählige Promotionen betreut hatte, behauptete einmal in unserem DoktorandInnencolloquium, eine Dissertation sei wie eine Briefmarkensammlung; man müsse nur lange genug sammeln und dann das Gesammelte in eine ansprechende Form bringen. Freilich haben sich die Standards, insbesondere seit sich viele Fachdidaktiken als empirisch forschend und den Methoden der Bildungswissenschaften verpflichtet sehen, teilweise geändert, festzuhalten ist aber, dass die von Marc van Berkel vorgelegte Schulbuchanalyse eine umfassende, ansprechende und sehr anschauliche Sammlung ist.

Im Kern der Arbeit steht die Forschungsfrage, wie sich die narrative Darstellung in den Erzählsträngen (plotlines) über Opfer des Holocaust in deutschen und niederländischen Schulbüchern in den Dekaden zwischen 1960 und 2010 verändert hat. Dazu werden der Wandel und die Entwicklung von fachwissenschaftlichen Forschungen und Erkenntnissen ebenso herangezogen wie fachdidaktische und pädagogische Neuerungen (vgl. S. 18). Aufgrund der geographischen Nähe sowie der vergleichbaren Größe wird Nordrhein-Westfalen als einziges Bundesland für den Vergleich mit den Niederlanden herangezogen. Für seine Analyse wählt van Berkel mit überzeugender Begründung einen weiten Begriff von Holocaust, dessen Problemgehalt er sehr gut herleitet und erläutert, und bezieht explizit auch die nicht-jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Genozide zwischen 1933 und 1945 mit ein (vgl. S. 65).

Die ersten Kapitel erläutern zunächst knapp die Methoden der Schulbuchforschung, danach die deutschen und niederländischen Perspektiven auf Holocaust und Erinnerungskultur nach 1945 sowie schließlich die beiden Bildungssysteme von West-Deutschland und den Niederlanden im Vergleich. Die beiden analysierenden Hauptkapitel 4 und 5 teilen die Schulbücher chronologisch auf, sodass zunächst die Textbooks von 1960 bis 1980 und dann von 1980 bis 2010 verglichen werden. Die Zäsur setzt van Berkel der gängigen, wenn auch nicht unumstrittenen1 These folgend, dass mit der Ausstrahlung der TV-Mini-Serie „Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiss“ eine neue Ära der Aufarbeitung und des Interesses am Thema begann (vgl. S. 22). Interessant ist hier, dass die Zäsuren für die beiden untersuchten Länder nicht unterschiedlich ausfallen, obwohl man hätte annehmen können, dass die Rolle der Niederlande im Krieg und die Rezeption der Tagebücher der Anne Frank gegebenenfalls eine frühere Sensibilisierung des Themas ermöglicht hätten als dies in Deutschland der Fall war. Einige weitere Erläuterungen zur erinnerungskulturellen Landschaft wären sicherlich spannend gewesen.

Vor allem in den überblicksartigen Darstellungen zu Beginn wird der/die Lesende sehr durch Erläuterungen zur Struktur an die Hand genommen, was aber in Qualifikationsschriften durchaus nicht ungewöhnlich ist. Van Berkel geht in den Ausführungen deutlich über seinen direkten Untersuchungsgegenstand Nordrhein-Westfalen hinaus und erläutert auch die Bildungshoheit der Bundesländer sowie die Besonderheiten des deutschen Systems. Dass bei so breiten Übersichtsdarstellungen teilweise Generalisierungen entstehen, die so nicht oder nicht mehr zutreffend sind – so gibt es in Berlin aber auch Hamburg, Schleswig-Holstein und dem Saarland kein ministerielles Genehmigungsverfahren für die Zulassung von Schulbüchern mehr – fällt vermutlich nur den ganz genauen KennerInnen der jeweiligen Bildungslandschaft auf. Etwas problematischer werden die Verkürzungen im fachwissenschaftlichen Teil, wenn beispielsweise behauptet wird, „the so-called ‚pure Gypsies‘ were spared“ (S. 59) oder „the Nazis stopped the mass murder [die sogenannte ‚Euthanasie‘, C.B.] after protests from within the German population and churches“ (ebd.). Sowohl zu den noch in der Planung verworfenen Reservatsideen Himmlers am Neusiedler See, wo er gerne eine Art Zoo mit ‚rassereinen Zigeunern‘ errichtet hätte, als auch zu den vielfältigen Gründen für den offiziellen (!) Stopp der Aktion T4, die ja als dezentrale Euthanasie durchaus bis über den Tag der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands fortgeführt wurde, gibt es schon seit geraumer Zeit Forschungen, die hier keinen Niederschlag finden.2 Für das Fachpublikum etwas irritierend, weil teilweise sehr holzschnittartig, lesen sich auch Abschnitte des erinnerungskulturellen Abrisses, in denen zwischen den fachlichen Kontroversen (beispielsweise Intentionalisten vs. Funktionalisten) und Geschichts- und Erinnerungspolitik in der breiten Öffentlichkeit (Walser-Bubis-Debatte) zu wenig differenziert wird (S. 84/85). Studierende in einem (englischsprachigen) Einführungsseminar, die mit den Phasen und Kontroversen der sogenannten ‚Vergangenheitsbewältigung‘ nicht vertraut sind, könnten allerdings sicherlich dieses Kapitel mit Gewinn lesen. Als problematisch diskutiert werden müssten dann allerdings zum Beispiel die mehrfach im Buch auftauchenden und völlig neutral gehaltenen Passagen zu Norman Finkelstein, dessen weitgehend antisemitische Geschmacklosigkeiten und unbelegte Behauptungen einer angeblich existierenden ‚Holocaust-Industrie‘ nicht als Wissenschaft gelten sollten. Dies wird den Lesenden aber beispielsweise auf S. 84 suggeriert, wenn van Berkel schreibt: „New York political scientist Norman Finkelstein entered the debate (…). The Holocaust, according to Finkelstein, had become an instrument of ideology, serving a clear political purpose, namely to exploit the murder of the Jews in order to shield Zionism and the state of Israel against any legitimate criticisms.” Damit endet unkommentiert der Absatz und van Berkel wendet sich weiter der Goldhagen-Kontroverse zu.

Der Kernteil der Dissertation, die Schulbuchanalyse, ist dagegen sehr solide durchgeführt worden und kann durch viele Beispiele und transparente Analysen mit sehr nachvollziehbaren Befunden überzeugen. Insbesondere die diversen Graphiken und Tabellen, mit denen van Berkel seine Befunde immer wieder vergleichend und übersichtlich darstellt, helfen den Lesenden, sich nicht in der sehr detailreichen Sezierung der einzelnen Bücher zu verlieren. Zu Tage gefördert wird neben Erwartbarem (die Sichtbarkeit der Opfer sowie die Diversität der betroffenen Gruppen erhöht sich im zweiten Untersuchungszeitraum; frühe deutsche Schulbücher betonten vor allem das Leid der deutschen Bevölkerung, die von Hitler verführt worden waren; TäterInnensprache ist bis heute in Schulbüchern immer noch präsent, auch in den Darstellungstexten) auch sehr Interessantes (Hitler wird als Haupttäter in niederländischen Schulbüchern von 1960 bis 1980 deutlich öfter genannt, wohingegen die untersuchten deutschen Bücher im gleichen Zeitraum die weiteren Beteiligten wie Himmler und Heydrich vergleichsweise häufiger nennen und auch unpersönlichere Begriffe wie „der Nationalsozialismus“, „die SS“ als Täter benennen, [vgl. S. 198–201]) und Überraschendes wie den Grad der Gebundenheit der Schulbuchmachenden an wissenschaftliche Erkenntnisse und Kontroversen. Zu diesem Punkt arbeitet van Berkel heraus, dass die deutschen Schulbücher deutlich häufiger von Zitaten aus und Bezügen auf wissenschaftlichen Publikationen Gebrauch machen als die niederländischen. Er erklärt diesen Umstand mit der hohen akademischen Ausbildung der in Deutschland an Schulen Lehrenden und in bzw. für Verlage Arbeitenden und bemängelt, dass die niederländischen Bücher den Konstruktcharakter von Geschichte und damit eine der Grundvoraussetzungen für reflektiertes historisches Lernen vernachlässigen würden.

Schulbuchforschung hat in Deutschland, nicht zuletzt durch das Georg-Eckert-Institut in Braunschweig, eine lange und angesehene Tradition. Multinationale Ländervergleiche in größerem Umfang wie etwa die deutsch-polnischen Schulbuchkommissionen oder das deutsch-französische Schulbuchprojekt haben immer wieder durch ihre Analysen und Empfehlungen weit über den konkreten Schulbezug Einfluss auf die Geschichtsdidaktik und die gesellschaftlichen Positionen im Umgang mit Vergangenheit genommen. Insofern ist die Idee, das niederländische Narrativ zu Nationalsozialismus und Holocaust in Schulbüchern mit dem deutschen zu vergleichen, ein lohnendes Unterfangen gewesen. Van Berkel ist vor allem beizupflichten, wenn er als nun nächsten konsequenten Schritt eine empirische Unterrichts- und RezipientInnenforschung fordert (vgl. S. 350), die die tatsächliche Nutzung der Bücher im Unterricht, die Einstellungen von Lehrenden und Lernenden, die Dekonstruktion oder unreflektierte Übernahme der präsentierten Narrative und die historischen Sinnbildungen der SchulbuchleserInnen untersucht.

Insgesamt ist die vorliegende Dissertation eine interessante Zusammenschau, die LeserInnen, die nur ansatzweise mit dem deutschen und niederländischen Schul- und Vermittlungssystem sowie den Deutungsmustern zum Holocaust vertraut sind oder sich einlesen wollen, spannende Einblicke gewähren kann. Die englischsprachige Ausgabe ist daher besonders für den internationalen Markt gut geeignet und auch für deutschsprachige LeserInnen mühelos verständlich; eine Übersetzung ins Deutsche ist meines Erachtens nicht erforderlich. Letztlich erscheinen jährlich im Bereich der Schulbuchforschung zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust thematisch ähnliche Publikationen, die ebenfalls vergleichende Analysen vornehmen. Exemplarisch verwiesen sei hier auf Philipp Mittniks 2017 erschienene Dissertation „Holocaust-Darstellung in Schulbüchern. Deutsche, österreichische und englische Lehrwerke im Vergleich“ sowie auf Wolfgang Bilewicz‘ 2016 erschienene Dissertation „Der Holocaust in Schulbüchern und Lehrplänen: ein historisch-pädagogischer Vergleich zwischen Bayern und Österreich“. Die Niederlande allerdings in den Blick zu nehmen und dezidiert die verschiedenen erinnungskulturellen Narrative international zu vergleichen, hat nach meiner Kenntnis Matthias Heyl in seiner 1997 publizierten Studie „Erziehung nach Auschwitz. Eine Bestandsaufnahme: Deutschland, Niederlande, Israel, USA“ zu Unterrichtseinheiten unternommen.

Anmerkungen:
1 Vgl. zu den relevanten Zäsuren, die der Eichmann-Prozess und die TV-Serie Holocaust darstellten, die Ausführungen in: Jan Taubitz, Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft, Göttingen 2016, hier S. 63f. und S. 84f.
2 Vgl. beispielsweise Michael Burleigh / Wolfgang Wippermann, The Racial State. Germany 1933–1945, Cambridge 1991.

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