Review-Symposium "Westforschung": Präsentation der Herausgeber

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Titel
Griff nach dem Westen. Die 'Westforschung' der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960)


Herausgeber
Dietz, Burkhard; Gabel, Helmut; Tiedau, Ulrich
Reihe
Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 6
Erschienen
Münster 2003: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
1260 S.; 2 Bände
Preis
€ 74,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Burkhard Dietz, Helmut Gabel und Ulrich Tiedau

Als sogenannte ‚germanische Randstaaten’ gerieten die Niederlande, Belgien und Luxemburg nach dem Ersten Weltkrieg verstärkt ins Visier völkisch-nationaler Wissenschaften. Der Sammelband "Griff nach dem Westen – Die ‚Westforschung’ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960)“ bietet eine Übersicht dieser nicht nur auf deutscher Seite zu beobachtenden, teilweise vernetzten Forschungsbemühungen, die als regionale Variante der ‚Westforschung’ nach 1945 keineswegs abbrachen. Die 43 Beiträge des zweibändigen Werks setzen damit an einem wesentlichen Punkt die nach wie vor aktuelle Diskussion über die Rolle der Wissenschaften im Nationalsozialismus sowie das Problems personeller und inhaltlich-methodischer Kontinuität fort – eine Debatte, die vor allem seit dem Frankfurter Historikertag von 1998 mit besonderer öffentlicher Intensität und wesentlicher Unterstützung der historischen Internetdienste geführt wurde.

Über Buchtitel lässt sich trefflich streiten – und dies ist auch im Fall des hier angekündigten Sammelbandes zur nordwesteuropäischen Variante der ‚Westforschung’ nicht anders. Kaprizierte sich die Diskussion unter den Herausgebern zunächst auf Formulierungen, die das als unverzichtbar erachtete Begriffspaar ‚Kulturraum’ und ‚Volkstum’ enthielten, so wurden in einer späteren Phase auch eher assoziative Titel in Betracht gezogen. Der Phantasie schienen dabei keine Grenzen gesetzt: Auf ältere Deutungshorizonte der deutschen politischen Philosophie abgestellte Wendungen wie Händler zu Helden? Die ‚Westforschung’ und der niederländische Raum oder ‚Entwestlichung’ durch ‚Westforschung’? konkurrierten mit Anspielungen auf die weitgehende Vergeblichkeit der Deutschtumsmetaphysik in den Niederlanden. „Siegfrieds misslungene Heimholung“ ist nur ein Beispiel einer solchen Titelalternative, die sehr bald indes durch die nicht minder einleuchtenden und vorübergehend favorisierten Varianten „Wissenschaft zwischen Mythos und Logos“ und „Umkehrbare Geschichte? Die Utopie der Revision“ abgelöst wurde. Gewiss sind alle diese auf spezifische Aspekte des Themas verweisenden Vorschläge berechtigt, und nicht zuletzt das in manchem Titel enthaltene (oder auch fehlende) Fragezeichen macht die zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Gelingen und Scheitern, Kollaboration und Widerstand oszillierende Doppelbödigkeit des Themas ‚Westforschung’ deutlich. Dass schließlich die Metapher „Griff nach dem Westen“ den Vorzug erhielt, hat seinen Grund in der bewusst gesuchten Anlehnung an Fritz Fischers epochales Werk über die deutsche Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg und andere ähnlich lautende Titel, die den von einem visionären Reichsgedanken beseelten deutschen Expansionismus unmissverständlich beim Wort nennen und damit zugleich ein Stück deutscher historischer Kontinuität markieren. Dem gewählten Buchtitel sind Momente zielgerichteter Dynamik und Aggression inhärent, die der historischen Wirklichkeit u.E. besser gerecht werden als Formulierungen, die aus dem Reservoir der politischen Ideengeschichte schöpfen.

„Griff nach dem Westen“ impliziert ein weites Untersuchungsterrain, das sich naturgemäß nicht nur in Richtung Nord-, sondern auch nach Südwesten erstreckt, wo auch Frankreich (neben der Schweiz und der Saar) nicht nur Objekt der völkisch-nationalen Wissenschaften war, sondern in Gestalt des ‚Erbfeind’-Mythos auch am Anfang der deutschen ‚Westforschung’ stand. Indes wäre ein in geografischer Hinsicht dermaßen umfassender Ansatz – sofern er in der Tat mehr als nur die Präsentation einer Handvoll exemplarischer Beiträge intendiert – in einem einzigen Publikationsvorhaben schwerlich zu realisieren gewesen. Daher liegt der thematische Schwerpunkt des Bandes auf dem „nordwesteuropäischen“, d. h. vor allem niederländischen, belgischen und luxemburgischen Segment der ‚Westforschung’; eine von den Herausgebern geplante Folgepublikation wird sich der ‚Westforschung’ in ihrer südwestlichen Variante (Schweiz, Lothringen, Saar) mit Schwerpunkt Frankreich widmen. Dass in der Veröffentlichungsfolge zunächst dem Gebiet der Benelux-Staaten Priorität eingeräumt wird, hat selbstredend auch mit der regionalen Ausrichtung der Lehr- und Forschungsstätten zu tun, an denen die Idee zur Herausgabe des Sammelbandes 1998/99 im Wesentlichen geboren wurde. Gemeint ist hier neben dem Institut für Europäische Regionalforschungen der Universität-Gesamthochschule Siegen vor allem das Zentrum für Niederlande-Studien der Westfälischen Wilhelms-Universität, das 1989 mit dem ausdrücklichen Ziel einer Überwindung des in der Vergangenheit allzu sehr verbreiteten ethnozentrischen Denkens und der Förderung transnationaler Kommunikation gegründet wurde und sich seitdem zu einer allseits anerkannten, in Theorie und Praxis der europäischen Integration zutiefst verpflichteten wissenschaftlichen Einrichtung entwickelt hat. Gleichwohl mutiert sie in einer jüngst erschienenen Streitschrift des niederländischen Soziologen Hans Derks zu einem so genannten „Tatort“, an dem angeblich „Neo-Westforscher“ den Geist der alten Kulturraumforschung heraufbeschwören und ihr kulturimperialistisches Unwesen treiben. Unerwartet hat das Thema ‚Westforschung’ damit einen Gegenwartsbezug und eine wissenschaftspolitische Dimension erlangt, deren Eigendynamik im Zuge der Rezeption der Thesen Derks auch vor der Kreation neuer Mythen nicht halt macht, wie etwa die Annahme einer ominösen „Münsteraner Schule“ mit dem Zentrum für Niederlande-Studien als Sammelbecken unterstreicht. Positionelle Klarstellungen sind also angesagt – auch unter diesem recht kurzfristig hinzugekommenen Aspekt sollte der Band gelesen werden.

Die aktuelle Entwicklung darf nicht übersehen lassen, dass der spezifische Forschungsstand und aus ihm abgeleitete Problemhorizonte die entscheidenden Impulse zur Planung und Durchführung des Publikationsprojekts gegeben haben. Ausgangspunkt war der Befund, dass eine umfassende kritische Aufarbeitung der deutschen ‚Westforschung’ ein Desiderat nicht nur der neueren Geschichtswissenschaft, sondern auch aller historisch-politisch, sozialwissenschaftlich und volkskundlich, geografisch und philologisch arbeitenden Disziplinen darstellt, gerade jener akademischen Fächer also, die – wie schon Victor Klemperer unmittelbar nach der Befreiung erkannte – vor 1945 mehr als andere „durch die nazistische Doktrin um ihren wissenschaftlichen Charakter gebracht“ worden waren. Vertreter dieser und einiger anderer angrenzender Disziplinen waren es, die sich schon früh dem nationalsozialistischen Wissenschaftsverständnis annäherten und dieses weiter ausprägten, indem sie sich nicht nur im Osten des Reiches, sondern auch in seinem Westen willfährig in den Dienst der deutschen Expansionsbestrebungen stellten und sich mit der Erforschung jener „völkisch-germanischen“ Traditionen beschäftigten, die schon wenig später von seiten des NS-Staates, seiner Machthaber und ausführenden Organe bedenken- und skrupellos zur prospektiven oder nachträglichen Legitimierung von territorialen Annexionen benutzt werden konnten.

Was wir bislang über die ‚Westforschung’ wissen, resultiert aus einer noch relativ kleinen Anzahl von Veröffentlichungen, die im Wesentlichen aus den letzten zwölf Jahren stammen. Auffallend ist also, dass die Epochenschwelle von 1989/90 auch hierbei – jenseits der sich ganz direkt auswirkenden Öffnung und besseren Zugangsmöglichkeiten der Archive seit der „Wende“ – eine wichtige erkenntnisleitende bzw. erkenntnisanregende Rolle spielte, auch wenn der Blick der Forscher am Anfang noch fast ausschließlich auf den Themenbereich der „Ostforschung“ gerichtet war und sich dann nach Bekanntwerden des „Falles“ Theodor Schieder (1992) sehr stark auf die öffentlichkeitswirksame „Enttarnung“ weiterer „verstrickter“ Historiker kapriziert hat. Auf die Debatte „Historiker im Nationalsozialismus“, bei der sich inzwischen einige etablierte Vertreter der neueren deutschen Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte um Hans-Ulrich Wehler einerseits und um die von der Presse letzthin als „Moralisten“ titulierten jüngeren Historiker Götz Aly und Peter Schöttler (letztere seit dem Frankfurter Historikertag von 1998 mit öffentlicher Unterstützung von Hans Mommsen und Ulrich Herbert) andererseits recht unversöhnlich gegenüberstehen, soll an dieser Stelle ausdrücklich nicht eingegangen werden, auch wenn ihre Kernprobleme, d.h. die im Zuge dieser Debatte genannten ethisch-moralischen Verantwortungskriterien, selbstverständlich für die kritische Beurteilung der ‚Westforscher’ und der von ihnen vertretenen Auffassungen ebenfalls von grundlegender Bedeutung sind. Im Kern geht es hierbei letztlich um die Frage, ab wann ‚wissenschaftliches’ Arbeiten, das ideologisch vielleicht schon zuvor unter völkisch-nationalistischen Vorzeichen stand, tatsächlich als ein „Vordenken der Vernichtung“ zu beurteilen ist, d.h. ab wann sich Wissenschaftler, zumal Geistes- und Kulturwissenschaftler, unverrückbar und bis zur letzten Konsequenz in den Dienst der nationalsozialistischen Politik stellten und sich somit der intellektuellen Vorbereitung der Verfolgungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik schuldig machten. Um diesen eminent wichtigen Aspekten einer abschließenden Wertung und Interpretation mit Blick auf die ‚Westforscher’ nicht vorzugreifen, konzentrieren sich die folgenden Bemerkungen zunächst auf eine Darstellung des Forschungsstandes.

Am Anfang eines Forschungsüberblicks zur ‚Westforschung’ sind in jedem Fall zwei Arbeiten zu nennen, die auf unterschiedliche Weise, nämlich in inhaltlicher und methodischer Hinsicht, eine allgemeine forschungsstimulierende Wirkung zur Folge hatten. Sie rückten die nationalsozialistische „Grenzlandforschung“ und ihre Methodik sowie die Volksgeschichte mit ihren rassekundlichen und nationalistischen Implikationen in ein grundsätzlich neues wissenschaftsgeschichtliches Licht. Gemeint ist zunächst die Untersuchung Germany turns Eastwards. A Study of ‚Ostforschung’ in the Third Reich des amerikanischen Historikers Michael Burleigh, mit der 1988 auf breiter Basis die Wissenschafts- und Geistesgeschichte der „Ostforschung“ in ihren institutionellen, inhaltlichen und personellen Dimensionen aufgearbeitet und dabei erstmals das immense Ausmaß der so genannten „Verstrickung“ der akademischen Intelligenz in die Vorgänge der nationalsozialistischen Verfolgung, Vernichtung und Vertreibung exemplarisch aufgezeigt wurden. Genannt sei zweitens Winfried Schulzes Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 von 1989, mit der das Tor für eine kritische Aufarbeitung der völkischen Traditionen der so genannten „modernen deutschen Sozialgeschichte“ weit aufgestoßen und zugleich besonders unter jüngeren Historikern das Interesse an weiteren Details über die methodischen, institutionellen und personellen Hintergründe der scheinbar so makellosen neuen westdeutschen Sozialgeschichtsschreibung erheblich angeregt wurde.

Auf lebhaftes Interesse stießen Burleighs und Schulzes Arbeitsergebnisse in Münster und Bielefeld, wo die Diskussion über die Verbindungslinien der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte zur NS-Volksgeschichte in verschiedenen Richtungen eigenständig aufgenommen und unter zum Teil neuen Gesichtspunkten weitergeführt wurde. In Münster wurde zeitgleich zu Schulzes Publikation die Bielefelder Habilitationsschrift von Karl Ditt zum Thema „Raum und Volkstum. Die Kulturpolitik des Provinzialverbandes Westfalen 1923-1945“ veröffentlicht, wobei es sich um die erste exemplarische Studie über die organisatorischen, ideologischen und inhaltlichen Verschränkungen von konservativ-neoromantischer Heimatschutzbewegung, Volkstumspflege, wissenschaftlicher Landesforschung sowie Museums- und Kunstbereich zwischen Weimar und „Drittem Reich“ in einer preußischen Provinz handelte. Nicht nur den Landeshistorikern eröffnete sie viele wichtige Einsichten in ihre eigenen Traditionen, auch den übrigen „Kulturschaffenden“, den Volkskundlern, Museologen usw. und – nicht zu vergessen – auch den Kulturpolitikern und Kulturfunktionären zeigte sie deutlich auf, auf welchen hell- bis dunkelbraunen Fundamenten ihre Arbeit im Dienste der „Landeskulturpflege“ und ihre neuerdings so intensive Suche nach „regionaler Identität“ nicht selten beruht. Dass solche regionalen Identitäten vielfach nur überkommene Konstrukte aus ursprünglich völkischen Mythen sind, wie etwa die bis heute nicht nur unter nordrhein-westfälischen Landeshistorikern, sondern auch unter Politikern und in der breiteren Öffentlichkeit immer noch weit verbreiteten Thesen Wilhelm Brepohls zum „sozialen Schmelztiegel“ des Ruhrgebiets und seines eigentümlich flexibel-dynamischen „Ruhrvolks“, wurde von der scheinbar kritikbewussten Intelligenzija bisher geflissentlich übersehen, auch wenn Brepohls Sprache und die Erscheinungsdaten seiner Publikationen eigentlich hätten argwöhnisch machen müssen. Diese Konstrukte und Mythen aus völkischer Zeit zu identifizieren, ihr nationalistisches Gedankengut zu entlarven und die Hintergründe ihrer Überlieferung aufzuzeigen ist mithin eine wichtige Aufgaben gegenwärtiger und zukünftiger historischer Forschung.

Aber nicht nur für die Landesebene war Ditts Publikation ein bedeutender, innovativer Beitrag zu der hier skizzierten Diskussion, dem im Rheinland bis heute nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen ist, sieht man einmal von den Arbeiten von Franziska Wein zur Geschichte und Ideologie der deutsch-französischen Propaganda nach dem Ersten Weltkrieg, von Bettina Bouresh über die weltanschaulichen Begleitumstände bei der „Neuordnung des Rheinischen Landesmuseums Bonn“ im Nationalsozialismus und von Karl Peter Wiemers Studie über die Organisation und Ideologie des „Rheinischen Vereins für Denkmalpflege“ ab. Weder einzeln noch zusammen können sie – trotz etlicher innovativer Forschungsergebnisse im Detail – eine integrierte und zugleich ideologiekritische Aufarbeitung der Kulturpolitik des alten Provinzialverbandes Rheinland im Maßstab von Karl Ditt bieten, zumal Ditt seine Monografie später noch mit einer ganzen Reihe von weiterführenden Aufsätzen, u a. auch über die Rolle Franz Petris im Rahmen der ‚Westforschung’, ergänzen konnte.

Versetzen wir uns in die übergeordnete Perspektive unseres Themas, so zeigte Ditts Arbeit vor allem die Vielschichtigkeit der Ebenen auf, mit der die völkischen Traditionen der historischen Kulturarbeit in Deutschland – und hier speziell im Westen – fundiert waren und sind. Dem übergreifend arbeitenden Wissenschaftshistoriker wurden hier nachdrücklich die Bedeutung der landesspezifischen, regionalen und auch lokalen Ebenen vor Augen geführt, die bis dahin nur recht allgemein als besonders geeignete Experimentierfelder der deutschen Volksgeschichte identifiziert worden waren.

Die von Winfried Schulze eröffnete Diskussion um die nur begrifflich bereinigten, sonst aber ziemlich direkten methodischen Verbindungslinien zwischen nationalistisch belasteter Volksgeschichte bzw. „politischer Volksgeschichte“ und „moderner deutscher Sozialgeschichte“ wurde mit der 1993 erschienenen Bielefelder Dissertation Willi Oberkromes „Volksgeschichte – Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945“ erneut aufgegriffen und auf ein wesentlich breiteres Fundament gestellt. Auf der Grundlage umfangreicher Literatur- und Quellenrecherchen bestätigte Oberkrome das von Schulze entworfene Bild im Wesentlichen und widmete sich darüber hinaus im Detail dem uns besonders interessierenden Gebiet der „Volks- und Kulturbodenforschung“, der „Deutschtumsforschung“ über Deutsche im Ausland sowie der Organisation und Arbeit der „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“, unter denen er die „Westdeutsche Forschungsgemeinschaft“ identifizierte und erstmals in einem größeren Kontext die methodischen Grundlagen ihrer Arbeit sowie die institutionellen und inhaltlichen Rahmenbedingungen ihrer neuartigen, interdisziplinären Forschungsansätze darstellte. Dabei skizzierte er die zunächst von der Leipziger „Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung“ koordinierte ‚Westforschung’, die in den 1920er-Jahren als „Grenzkampf“ zur Revision des „Versailler Friedensdiktats“ und der Gebietsverluste des Ersten Weltkrieges begonnen wurde und in der – im Rahmen von Pilotprojekten – schon bald geografische, bevölkerungs-, wirtschafts-, sprach- und konfessionsgeschichtliche Methoden mit volks- und rassekundlichen Verfahren etwa zur Bestimmung von Ähnlichkeiten der Schädelformationen bei ethnischen Gruppen miteinander kombiniert wurden, um so die damals aktuelle politische Grenzziehung in Zweifel ziehen und eigene revisionistische Gebietsansprüche auf eine neue Argumentationsgrundlage stellen zu können. In groben Zügen, doch zugleich im Detail streng analytisch, beschrieb Oberkrome, wie kartografische und statistische Methoden erprobt wurden, um das Konstrukt eines ethnisch einheitlichen germanischen „Kulturraums“ auch jenseits der geltenden Grenzen verifizieren zu können.

Ferner zeigte Oberkrome auf, wie ein Großteil der Arbeit, die zunächst eher unter der Führung von Geografen stand, an die Historiker und Sprachgeschichtler des neugegründeten Bonner „Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande“ überging. Und schließlich stellte Oberkrome fest, dass dort in den 1930er-Jahren eine zweite, verschärfte Phase der volksgeschichtlichen Forschung eingeleitet wurde, als unter dem Einfluss der „deutschen Soziologie“ Hans Freyers und Gunther Ipsens Historiker wie „Steinbach und mehr noch Petri […] mit raum- und ethnohistorischen Untersuchungen“ begannen, „den Weg zu einer erweiterten Volks- bzw. Volksbodenforschung im Westen des deutschen Reiches zu ebnen“ und sich daraus schließlich – auch in Konkurrenz zu den Königsberger „Ostforschern“ – vor allem unter Federführung Petris und durch die von ihm zunehmend praktizierte „Hinwendung zu rassentheoretischen Überlegungen“ die ‚Westforschung’ als „willfähriges Instrument“ zur Legitimation nationalsozialistischer Expansionsbestrebungen entwickelte.

Allein die von Oberkrome ausgewerteten Quellen ließen sogleich die Vermutung aufkommen, dass noch wesentlich mehr über die Hintergründe und Ausmaße völkischer Geschichtsbetrachtung, gerade auch in den Regionen, zu Tage zu fördern sein müsste. Dies bestätigte sich wenig später, als 1994 die Osnabrücker Dissertation des historisch arbeitenden Geografen Michael Fahlbusch über den organisatorischen Aufbau, die politischen Hintergründe der Entstehung und die inhaltliche Arbeit der „Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung“ in Leipzig 1920–1933 erschien. Sie basierte auf einer umfangreichen Auswertung von Archivbeständen, zumal Fahlbusch – durch seine integrierte Untersuchung über den Stellenwert der Kulturpolitik des Auswärtigen Amtes für die „Grenzlandforschung“ – gewissermaßen zwangsläufig auch auf die Akten über die frühen Aktivitäten der „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ stieß, so dass er diese erstmals ansatzweise mit in den Blick nehmen konnte.

Gleichwohl blieb diese Studie im Wesentlichen auf die organisations- und geografiespezifischen Gesichtspunkte allein der Leipziger Stiftung beschränkt. Über die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ hat Fahlbusch indes 1999 eine umfangreiche neue Untersuchung vorgelegt, die gezielt der Frage „Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?“ nachgeht und inhaltlich die Aktivitäten aller „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ im Zeitraum 1931-1945 analysiert. Systematisch und auf der Grundlage intensiver Quellen- und Literaturstudien wird hier unter anderem auch ein erstes vollständiges Gesamtbild vom organisatorischen Aufbau der „Westdeutschen Forschungsgemeinschaft“, von ihren Akteuren und Initiativen bis hin zum „Kriegseinsatz der Volkswissenschaft“ entworfen. Die von Fahlbusch dabei im Einzelnen zu Tage geförderten Strukturen und Detailinformationen über politische und akademische Netzwerke, über Inhalte und Argumentationslinien von zeitgenössischen „Weststudien“ sowie über die daraus abgeleiteten Möglichkeiten zur Grenzrevision – die Fahlbusch mit den Kenntnissen eines Geografen präzise zu verifizieren weiß – sind insgesamt ausgesprochen verdienstvoll und setzen für die künftige zeit- und wissenschaftsgeschichtliche Forschung zweifellos neue Maßstäbe. Gleichwohl dürfte allein die – angesichts des Gesamtumfangs der Recherchen gewiss notgedrungene – Nichtberücksichtigung verschiedener wichtiger (vor allem rheinischer) Archive, Nachlässe, Literatur und Personen etliche weiterführende Bemühungen um eine Vervollständigung der bisher vorgelegten Forschungsergebnisse rechtfertigen.

Bis zur Veröffentlichung von Fahlbuschs anregender und außerordentlich materialreicher neuen Studie musste in jedem Fall Peter Schöttlers Aufsatz Die Historische ‚Westforschung’ zwischen ‚Abwehrkampf’ und territorialer Offensive als erster programmatischer Entwurf für einen eigenständigen Forschungsbereich angesehen werden. Bereits auf dem Historikertag von 1994 in Leipzig gehalten und 1997 in dem Suhrkamp-Band Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft veröffentlicht, werden darin mit starken Rückgriffen auf Oberkrome und Fahlbusch die Grundzüge der inhaltlich relevanten Problembereiche der von Historikern betriebenen ‚Westforschung’, nicht also ihre interdisziplinären Dimensionen, aufgezeigt. Innovativ war dabei jedoch weniger die Kreation des Themas (das durch die kaum ernsthaft noch zu bezweifelnde Legitimationsthese sogar eher in den Hintergrund gedrängt wurde) als vielmehr die Auswertung einiger einschlägiger Akten über die „Westdeutsche Forschungsgemeinschaft“ aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes und deren schöpferische Kombination mit Altbekanntem etwa über das Bonner Institut und mit kurzen Analysen von Veröffentlichungen prominenter historischer ‚Westforscher’ wie etwa Franz Steinbach, Ernst Anrich und Franz Petri. Dazu gehörte auch Schöttlers Nachweis über die unter der NS-Herrschaft entworfenen Pläne zu endgültigen gebietlichen Einverleibungen ins „Großdeutsche Reich“ und zu umfassenden Umsiedlungsvorhaben im Raum Elsaß-Lothringen, die bereits seit Beginn der 1970er-Jahre bekannt waren, bisher aber vor allem in ihren politikgeschichtlichen und allenfalls regionalen Bezügen, kaum hingegen im wissenschafts- und geistesgeschichtlichen Kontext eines Themas ‚Westforschung’ gesehen worden waren.

Nach der Pionierstudie Schöttlers, der 1998 auf dem Frankfurter Historikertag noch mit einem kleineren Beitrag zum Zusammenhang von rheinischer Landesgeschichte und nazistischer Volksgeschichte hervortrat, wurde das Thema ‚Westforschung’ in Deutschland eigentlich nur noch indirekt tangiert, dabei aber um wichtige Teilaspekte bereichert, etwa durch die Beiträge zum Fall Schneider/Schwerte und seinem Mitstreiter Walter von Stokar, einem in der interdisziplinären ‚Westforschung’ besonders agilen Pharmakologen und NS-Vor- und Frühhistoriker aus Köln. Hervorzuheben sind auch Willi Oberkromes Beobachtungen zur Kontinuität ethnozentrischen Geschichtsdenkens in der westdeutschen Neuordnungsdebatte nach 1945 sowie in der landeshistorisch unterlegten Heimatideologie der 1950er-Jahre – ein Sachverhalt, der auf die Persistenz von NS-Volksgeschichte und Kulturbodenforschung über das Jahr 1945 hinaus verweist und ein Schlaglicht auf spezifische politisch-kulturelle Konstitutionsbedingungen der jungen Bundesrepublik wirft. Vornehmlich der Fall Schneider/Schwerte sowie überhaupt die starke Personalisierung der Forschungsperspektive trugen zudem gegen Ende der 1990er-Jahre verstärkt zur regionalen Differenzierung in der Beschäftigung mit dem zuvor eher räumlich integral behandelten Thema ‚Westforschung’ bei. Entsprechend den Arbeitsschwerpunkten eines führenden ‚Westforschers’ wie etwa Franz Petri kristallisiert sich das Gebiet der heutigen Benelux-Staaten, wie auch der Band dokumentieren wird, zusehends als eigener großer Untersuchungsbereich neben Frankreich heraus – eine Entwicklung, die, wie noch zu zeigen sein wird, mit einem wachsenden Interesse belgischer, niederländischer und luxemburgischer Wissenschaftler an einer kritischen, auch den Aspekt der (intellektuellen) Kollaboration nicht scheuenden Aufarbeitung des Themas sowohl aus der deutschen als auch nationalen Eigenperspektive korrespondiert. Erhöhte Forschungsaktualität erhielten hierdurch auch die wichtigen Beiträge Gerhard Hirschfelds, der sich im Anschluss an seine große Studie über die Niederlande unter der NS-Herrschaft von 1984 erst vor wenigen Jahren erneut mit den Plänen zur „Germanisierung“ der Universitäten Leiden, Gent und Straßburg auseinandergesetzt hat. Explizit wurde damit erstmals von deutscher Seite die ideologische Fundierung und organisatorische Praxis der nationalsozialistischen Wissenschafts- und Kulturpolitik insbesondere im besetzten europäischen Nordwesten im Detail nachgezeichnet.

Versäumt sei überdies nicht, auch kurz auf die 1999 an der RWTH Aachen im Fachbereich Politische Wissenschaft von Thomas Müller eingereichte Magisterarbeit zum Thema Zwischen Maas und Rhein – Ein nationalsozialistisches Medienprojekt im deutsch-belgisch-niederländischen Grenzgebiet hinzuweisen. In ihr wird ein bisher völlig unbekanntes Netzwerk zur Koordinierung von politischen, propagandistischen und wissenschaftlichen Zwecken in regionalen Grenzabschnittsbezirken, hier im so genannten „Abschnitt Nordwest“ mit Aachen als Mittelpunkt, untersucht. Offensichtlich war dies die Mikro-Ebene unterhalb der „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“, in der die regionalen und lokalen Funktionsträger aus dem politischen und administrativen Bereich mit den ‚Westforschern’ einer ihnen nahen Hochschule bzw. mit den regionalen Mitgliedern der „Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ zusammenarbeiteten und aufgrund ihrer intimen Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten Pläne für die „Germanisierung“ der angrenzenden Gebiete in Belgien und den Niederlanden ausarbeiteten.

Die bisherigen Ausführungen zur Forschungsentwicklung legen die Vermutung nahe, als sei die kritische Aufarbeitung der völkisch-nationalen Traditionen in der Forschung zum nordwesteuropäischen Raum eine rein deutsche Angelegenheit. Ein Blick in die Fußnoten deutscher Beiträge scheint diesen Eindruck zu erhärten; belgische, niederländische oder luxemburgische Forschungsliteratur findet sich dort bislang nur selten berücksichtigt. Es sei dahingestellt, ob die Ursachen dieser geringen Präsenz auf sprachliche Klippen zurückzuführen sind – Tatsache ist, dass die deutsche Forschung von einer Vielzahl aufschlussreicher, indes in niederländischer Sprache publizierter Studien keine oder nur geringe Kenntnis nimmt. Bedauerlich und zugleich paradox ist dieser Sachverhalt nicht zuletzt insofern, als überhaupt die erste kritische Auseinandersetzung mit der „nordwesteuropäischen“ Variante der historischen ‚Westforschung’ aus niederländischer Feder stammt. Gemeint ist Ivo Schöffers Pionierstudie zum nationalsozialistischen Bild der niederländischen Geschichte – eine immer noch nützliche und keineswegs überholte Arbeit, die, heutige Forschungsschwerpunkte gleichsam antizipierend, bereits 1956 unter anderem der Rolle Franz Petris und Werner Reeses in der deutschen Militärverwaltung in Brüssel nachging, jedoch in Deutschland weitgehend unbeachtet blieb. Schöffers Studie widmete sich nicht nur detailliert der historiografischen Genese und Entfaltung eines sowohl den Aspekt der „germanischen Stammverwandtschaft“ als auch „reichsrechtliche“ Argumente bemühenden Geschichtsrevisionismus auf deutscher Seite, sondern behandelte gerade auch die damit partiell konvergierenden, durchaus eigenständigen niederländisch-belgischen Konzeptionen bis hin zu den Erscheinungsformen intellektueller und praktischer Kollaboration während der Besatzungszeit 1940-1945. Mit anderen Worten: Schon verhältnismäßig früh hatte Schöffer ein Thema angesprochen, dessen sich die Forschung erst seit den 1980er-Jahren intensiver in Studien über Besatzungsherrschaft und Kollaboration annahm. Es sollte bis in die 1990er-Jahre dauern, dass sich vornehmlich jüngere Forscherinnen und Forscher von den Paradigmen der unbestreitbar verdienstvollen Kollaborationsforschung lösten und – in zeitlich erheblich erweiterter Perspektive – die nationalen Traditionen, Ausprägungen und grenzüberschreitenden Verflechtungen insbesondere der Geisteswissenschaften in den Niederlanden und Belgien als Untersuchungsgebiet sui generis entdeckten.

Gewiss übte der Fall Schneider/Schwerte vor allem in den Niederlanden eine forschungsstimulierende Wirkung aus, doch sollte seine Bedeutung andererseits auch nicht überschätzt werden. Die wissenschaftlichen Intentionen zielten, über die detektivische „Enthüllung“ so mancher bislang unbekannt gewesenen oder verschwiegenen „Verstrickung“ niederländischer (bzw. belgischer) Gelehrter oder Institutionen hinausgehend, auf die Beantwortung grundsätzlicher Fragen, so auf die Analyse der Rolle der Geisteswissenschaften als Mittel zur Konturierung und Verstärkung konfliktbeladener nationaler Selbstbilder im Raum der heutigen Benelux-Staaten. Als Ansatz bediente man sich entweder eines biografischen, begrifflich-kategorialen bzw. disziplinären oder institutionengeschichtlichen Zugriffs. Eine hervorragende Rolle nahm und nimmt in diesem Zusammenhang der Löwener Historiker Marnix Beyen ein, der in seinen Studien zur belgischen und niederländischen Historiografiegeschichte dem Zusammenhang von nationaler Identität und „Geschichtspolitik“ in den Jahren vor, während und nach der deutschen Besatzung nachgegangen ist. Es sind gerade Beyens Untersuchungen, die erst die ethnizistisch infizierten ideologischen Gemengelagen begreifbar machen, auf die deutsche ‚Westforscher’ insbesondere in Belgien trafen. Verdienstvoll im Hinblick auf die Erhellung dieses Aspekts sind zudem einige bereits ältere Studien zur deutschen Kulturpolitik in Belgien und Luxemburg. Diese Untersuchungen, denen dank der von Fahlbusch, Oberkrome und Schöttler angestoßenen Diskussion endlich die gebührende Beachtung zukommt, verweisen auf lange unterschätzte oder ignorierte Forschungs- und Aktionsprogramme, die einen pangermanisch inspirierten und wissenschaftlich gestützten „Kampf“ gegen die wallonisch-romanische Kultur intendierten. Als weiterführend und verdienstvoll – weil den „Ungeist des Ethnoradikalismus“ von Stellungnahmen Max Webers 1915/16 bis in die 1960er-Jahre aufzeigend – ließe sich schließlich auch die eingangs erwähnte Studie von Hans Derks bezeichnen – wären da nicht eine recht schmale Quellengrundlage sowie ein Verfasser, der offenkundig weniger aufklären als provozieren möchte.

Aus all diesen Publikationen, bei denen – um zur deutschen Forschungssituation zurückzukehren – etwa die exemplarischen Arbeiten zur Kölner Universitätsgeschichte im Nationalsozialismus und auch einige wenige Aufsätze zu einzelnen in der westlichen „Grenzlandforschung“ besonders engagierten Historikern wie etwa Hermann Heimpel nicht zu vergessen sind, ergibt sich zur Zeit faktisch folgendes Bild von der Entstehung und Entwicklung der interdisziplinären ‚Westforschung’: Zunächst – wie im Falle Hermann Aubins und anderer Landeshistoriker – noch mehr oder weniger aus freien Stücken sowie nationalem Impetus betrieben, wurde die eigentliche ‚Westforschung’ in ihrer interdisziplinären, dem politischen „Grenzkampf“ wie der „Volkstumsforschung“ gleichermaßen verpflichteten zweckorientierten Form 1924 auf zwei Tagungen ‚erfunden’, die unter der Leitung von Karl Christian von Loesch, dem Präsidenten des Berliner „Schutzbundes zur Pflege des Grenz- und Auslandsdeutschtums“, und organisiert von der Leipziger „Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung“ in Witzenhausen und Heppenheim zum Schwerpunktthema des „Westdeutschen Volksbodens“ veranstaltet wurden. Mittelbar finanziert durch das Auswärtige Amt, das Reichsinnen-, das Reichsfinanz- und verschiedene preußische Ministerien wurde damit der 1920 von Gustav Stresemann erhobenen Forderung Rechnung getragen, die Revision des Friedens von Versailles in den Mittelpunkt der Regierungspropaganda zu stellen. Die Ergebnisse dieser Tagungen, die wenig später publiziert wurden, stießen auf politischer Ebene gewissermaßen unmittelbar, wahrscheinlich schon 1925/26 im Rahmen der Verhandlungen um die „Westgrenzfonds“, auf größeres Interesse und so auch bald auf weitere organisatorische, finanzielle und ideelle Unterstützung von halbstaatlichen Instituten, Vereinen und Verbänden sowie provinziellen Gebietskörperschaften.

Spätestens seit 1931 kam es zur unmittelbaren Unterstützung durch einzelne Ministerien, allen voran durch das Auswärtige Amt und seine kulturpolitische Abteilung, sodann auch vom Reichsinnen- und Reichslandwirtschaftsministerium sowie nach 1933 zur intensiven Koordinierung bzw. Lenkung und Überwachung durch die einschlägigen weltanschaulich ausgerichteten Schalt- und Überwachungszentralen der NSDAP. Zustatten kamen dieser Entwicklung spezifische ideologische Befindlichkeiten in Belgien und den Niederlanden, wo Ideen wie etwa die 1928 durch von Loesch propagierte „Synthese zwischen der großniederländischen und großdeutschen Bewegung“ keineswegs nur auf Skepsis getroffen waren; vielmehr handelte es sich um Vorstellungen, die den Boden für eine intellektuelle Kollaboration schon mindestens ein Jahrzehnt vor der deutschen Okkupation vorbereiteten. Zur Verstärkung dieses sich in den 1930er-Jahren abzeichnenden und in Kontakten zu deutschen Gesinnungsgenossen und Sympathisanten sich niederschlagenden Konvergenzverhältnisses trugen u.a. Historiker wie Pieter Geyl und Robert van Roosbroeck sowie Volkskundler wie Clemens Trefois und Jan de Vries bei. Vor allem im „Ahnenerbe“ der SS und seiner kulturpolitischen Abteilung, wo sich u.a. Hans Ernst Schneider um germanische Brauchtumsfragen kümmerte, und in den kultur- und auslandswissenschaftlichen Abteilungen des Reichssicherheitshauptamtes wurden die nur scheinbar harmlosen Forschungsergebnisse der West- und Ostforscher in vielfacher Hinsicht ausgewertet, und zwar nicht nur im Hinblick auf das völkisch-germanische Brauchtum und seine Verwendbarkeit für die „Germanisierungspolitik“, sondern auch – absolut zweckorientiert (!) – im Hinblick auf die Ermittlung und Verfolgung politischer und rassenbiologischer Gegner. Gerade diese funktionalistische Auswertung von Informationsquellen der politisierten Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie ihre Kombination mit anderen ideologischen Zielen des Nationalsozialismus, z.B. mit der „Lebensraum-“ und der „Judenpolitik“, war bekanntlich eines der Arbeitsgebiete des Reichssicherheitshauptamtes.

Dies ist eine Einsicht, die in der neueren Forschung erst kürzlich noch einmal besonders herausgestellt worden ist. Unter der ‚kreativen’ und administrativen Ägide von Franz Alfred Six, über dessen bisher unterschätzten Einfluss Lutz Hachmeister 1998 eine bemerkenswerte Studie vorgelegt hat, wurden hier auch die Ergebnisse der West- und Ostforschung in bestimmten Abteilungen nun auch „lebensgebietsmäßig“ ausgewertet und dann der exekutiven Gegnerarbeit zugeführt. Hierzu gehörte selbstverständlich auch die Benachrichtigung der Referate „Auswanderung und Räumung“ sowie „Judenangelegenheiten“, in denen u.a. Adolf Eichmann seit 1939 tätig war. In der weltanschaulich und kulturhistorisch fundierten „Gegnerforschung“ wurden so „auf rein wissenschaftlicher Basis“, wie Eichmann beteuerte, nicht nur „Datenbanken“ über Personen, Schriften und Institutionen für Verfolgungs-, Terror- und geheimdienstliche Requirierungsmaßnahmen angelegt, aus ihnen wurden auch „Lebensraumpläne“ konstruiert und ganz konkrete Befehle für umfassend legitimierte Vorauskommandos von „Aktionen“ der SD-Einsatzgruppen etwa in Holland, Österreich und der Sowjetunion abgeleitet. Die aktive Beteiligung der im Reichssicherheitshauptamt tätigen „Geistesarbeiter“ an diesen Aktionen war für jeden von ihnen irgendwann nicht mehr zu vermeiden, ja sie wurde nicht nur als Mutprobe, sondern als letzter Beweis der nazistischen Solidarität und Mitverantwortlichkeit auch von Mitarbeitern in leitenden Funktionen und gerade auch von nebenberuflichen Hochschullehrern wie Six verlangt. Spätestens hier sind also die oft in Zweifel gezogenen oder gar in Abrede gestellten unmittelbaren Berührungspunkte von scheinbar harmloser bzw. zweckfreier „Grenzland- und Gegnerforschung“ mit den Entscheidungszentren der nationalsozialistischen Verfolgungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik eindeutig identifiziert.

Diese schon fast einem Fazit gleichkommende Einschätzung darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei weitem nicht alle Detailfragen hinreichend beantwortet sind. Sie betreffen unter anderem einzelne Akteure der ‚Westforschung’, die Frage des Engagements einzelner Institute und Initiativen, die fächer- und themenspezifischen Ausprägungen einschließlich der ihnen zugrundeliegenden Ideologeme. Auch das von Oberkrome und Derks bereits angeschnittene Problem des Nach- und Fortwirkens von „Raum- und Volkswissenschaftlern“ nach 1945 bedarf weiterer Erörterung. Dies gilt nicht zuletzt für die in der Hochphase des Kalten Krieges vom rheinischen und süddeutschen politischen Katholizismus forciert betriebene Propagierung des Abendlandgedankens und dessen Verbindung mit den Erkenntnissen einer nunmehr dezidiert in den Dienst einer friedlichen europäischen Einigung gestellten Kulturraumforschung – erkennbar etwa in der ambitionierten belgisch-deutsch-niederländischen Gemeinschaftsveröffentlichung über das „Land ohne Grenze“ zwischen Aachen, Lüttich und Maastricht, das 1958 dem Publikum als christlich-karolingisch durchtränkter prototypischer Kernraum eines vereinigten Europa präsentiert wurde. In diesem Zusammenhang stellt sich ebenso die Frage nach der von den betroffenen Disziplinen bislang nur unzureichend reflektierten Persistenz spezifischer Deutungsmuster und Nomenklaturgewohnheiten, wie dies z.B. die Vitalität des in der Adelsforschung zuweilen begegnenden Aubinschen Konzepts des „genealogischen Lebensraumes“ oder das Reden über ethnische „Substrate“ unterstreicht. Vor allem aber bedürfen die für die ‚Westforschung’ konstitutiven Momente einer Klärung. Woher rührte das nicht nur auf die Geschichtswissenschaft begrenzt bleibende Interesse an den nordwestlichen Nachbarstaaten Deutschlands und wie erklärt sich der offenkundige „Erfolg“ eines Konzepts, das in Gestalt des „Kulturraums“ bis heute noch nicht von der Agenda der Methodendiskussion verschwunden ist? Unter welchen individuellen und strukturellen Bedingungen mutierte historisches Denken zu Phantasien, die eine Revision der Geschichte für planbar und machbar erachteten, und wo lagen möglicherweise die Wendepunkte und Zäsuren, die ein auf die Herstellung imperialer Größe abgestelltes utopisches Wunschbild in den konkreten Handlungsvollzug setzten?

Antworten auf diese und andere Fragen will der Sammelband geben. Trotz des aufgrund der Fülle der Beiträge leicht entstehenden Eindrucks, dass handbuchartige inhaltliche Totalität angestrebt wurde, sei betont, dass keineswegs alle thematischen Facetten berücksichtigt werden konnten. Den Auftakt bilden Beiträge, die sich den methodischen Voraussetzungen sowie den in Politik, Gesellschaft und dem System der Geisteswissenschaften zu suchenden Konstitutionsbedingungen der ‚Westforschung’ zuwenden. Ihnen folgen Aufsätze zu den inhaltlichen und ideologischen Grundlagen sowie fachdisziplinären Ausprägungen des sich auf den europäischen Nordwesten kaprizierenden revisionistischen Projekts. Dass auf diese Beiträge der Hauptanteil des Bandes entfällt, ist kein Zufall; entsprochen wurde damit der Empfehlung, die üblicherweise nur dem mediävistischen Spezialisten oder Frühneuzeit-Experten vertrauten „Praxisfelder“ (Peter Schöttler) der ‚Westforschung’ (z.B. die Beschäftigung mit Burgund und der Zwischenreichsidee oder die Deutung des Westfälischen Friedens) in ihrem wissenschaftsgeschichtlich-systematischen Zusammenhang offen zu legen. Ähnliches gilt für Franz Petris Habilitationsschrift, die zwar gerne vielsagend zitiert wird, aber bislang noch nicht umfassend von fachlich kompetenter Seite analysiert wurde, oder für die Genese spezifischer (kunst-)historischer Deutungsmuster wie die Vorstellung einer eigenständigen „rhein-maasländischen“ Kultur. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den institutionellen Ausformungen in universitären und außeruniversitären Einrichtungen und im Bereich der populärwissenschaftlichen Publizistik. Wissenschaftsbiografisch ausgerichtete Beiträge zu einzelnen ‚Westforschern’ sowie eine Untersuchung zur Kontinuitätsfrage schließen den Band ab. Für die Wahl des Jahres 1960 als ungefähres Ende des zeitlichen Betrachtungsrahmens sprachen insbesondere der allmähliche Rückzug einzelner über 1945 hinaus wirksamer ‚Westforscher’ aus der aktiven Wissenschaft sowie der von einer jüngeren kritischen Forschergeneration während der 1960er-Jahre durchgesetzte Wandel historisch-geisteswissenschaftlicher Erkenntnisinteressen. Gegenüber (u.a.) der Fischer-Kontroverse, der Debatte über den „Primat der Innenpolitik“, der Hinwendung zu einer modernen Sozialgeschichte standen die über die westdeutsche Neuordnungsdebatte überkommenen Relikte ethnozentrischen Denkens auf verlorenem Posten.

Dass eine nicht geringe Zahl thematischer Aspekte wie z.B. die Rolle Schneider/ Schwertes in den Niederlanden oder die Bedeutung von Person und Œuvre Franz Petris in dem Band mehrfach als Gegenstand einer Erörterung begegnen, erwies sich als unvermeidbar; hierin spiegeln sich nach Auffassung der Herausgeber weniger Redundanzen als die zur ubiquitären Präsenz einzelner Personen und Institutionen führende Komplexität und fächerübergreifende Verschränkung des Phänomens ‚Westforschung’ wider. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass den Vorteilen des in dem Band praktizierten systematischen Zugriffs der Nachteil gegenübersteht, dass Zusammenhänge möglicherweise aus dem Blick geraten. So lag denn auch für die Herausgeber die Versuchung nahe, ein mit Periodisierungen einhergehendes Gesamtbild – etwa in Thesenform – zu entwerfen. Wenn davon letztlich abgesehen wurde, so hat dies auch mit der kurz vor Abschluss der redaktionellen Arbeiten eingetretenen Veränderung der Forschungssituation durch das Buch von Hans Derks zu tun. Die dort formulierten kritisch-polemischen Einschätzungen sollten unseres Erachtens im Licht der Detailuntersuchungen des Sammelbandes beurteilt werden, jedoch nicht auf der Grundlage allgemeiner Thesen, die – so eine an sich gängige Praxis – aus den Einzelbeiträgen deduziert werden. So wünschenswert eine frühzeitige intensive Debatte auch ist, so sehr schien es den Herausgebern doch erforderlich, eine Perzeption des Bandes auszuschließen, die tendenziell zu Lasten der Einzelbeiträge geht: Eine alles andere überschattende „Derks-Kontroverse“ wurde nicht angestrebt. Eine Gesamtwürdigung der ‚nordwesteuropäischen’ Variante der ‚Westforschung’ ist damit keineswegs ausgeschlossen; sie bedarf aber zunächst einer intensiven sachlichen Auseinandersetzung mit den Positionen von Derks sowie mit den Befunden des Bandes.

*

Inhaltsverzeichnis
Teilband I

Burkhard Dietz, Helmut Gabel, Ulrich Tiedau
Die ‚Westforschung’ zum europäischen Nordwesten als Gegenstand
der Zeit- und Wissenschaftsgeschichte

I Übergreifende Beiträge

Horst Lademacher
Politik und Wissenschaft
Über Nachteil und Notwendigkeit einer umstrittenen Beziehung

Stefan Haas
Transdisziplinarität als Paradigma der kultur- und sozialhistorischen
Forschung im frühen 20. Jahrhundert

Thomas Kleinknecht
‚Kulturraum’ und ‚Volksboden’ in der Wissenschaftskritik
Eine methodologische und ideenpolitische Miszelle zu Beispielen aus der deutschen ‚Westforschung’

Dirk van Laak
Zwischen ‚organisch’ und ‚organisatorisch’:
‚Planung’ als politische Leitkategorie zwischen Weimar und Bonn

Peter Heil
Zum Selbstbild von Raumplanern zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik

II Inhaltliche und ideologische Grundlagen der ‚Westforschung’

Winfried Dolderer
Der flämische Nationalismus und Deutschland zwischen den Weltkriegen

Heribert Müller
„Von welschem Zwang und welschen Ketten des Reiches Westmark
zu erretten“ Burgund und der Neusser Krieg 1474/75 im Spiegel der
deutschen Geschichtsschreibung von der Weimarer Zeit bis in die
frühe Bundesrepublik

Johannes Arndt
Um die Deutung des Jahres 1648
Der Münsteraner Stadtarchivar Eduard Schulte

Stefan Ehrenpreis
Religionsgeschichte und Westforschung
Calvinismus und Niederländische Geschichte in der protestantischen
Kirchengeschichtsforschung des Rheinlandes 1920-1945

Martina Pitz
Franz Petris Habilitationsschrift in inhaltlich-methodischer und
forschungsgeschichtlicher Perspektive

Stephan Laux
Flandern im Spiegel der ‚wirklichen Volksgeschichte’
Robert Paul Oszwald (1883-1945) als politischer Funktionär, Publizist und Historiker

Barbara Henkes, Björn Rzoska
Volkskunde und ‚Volkstumspolitik’ der SS in den Niederlanden
Hans Ernst Schneider und seine ‚großgermanischen’ Ambitionen für den
niederländischen Raum

Ine Van linthout
„Flandern, halte dich bereit, als Westmark in dieser Welt deinen Platz einzunehmen“
Westforschung, Literatur(-wissenschaft) und Flandern im Nationalsozialismus

Marnix Beyen
Eine lateinische Vorhut mit germanischen Zügen
Wallonische und deutsche Gelehrte über die germanische Komponente
in der wallonischen Geschichte und Kultur (1900-1940)

Uta Halle
Archäologie und Westforschung

Carsten Klingemann
Soziologie in der Westforschung während des Nationalsozialismus

Björn Rzoska, Barbara Henkes
„Das Volk wurde neu entdeckt!“
Volkskunde und die ‚großgermanische’ Kulturpolitik in Flandern (1934-1944)

Klaus Freckmann
Zur Kontinuität der landes- und volkskundlichen Kulturraumforschung und
ihr Verhältnis zur kulturellen Identität Luxemburgs im 20. Jahrhundert

Carlo Lejeune
„Des Deutschtums fernster Westen“.
Eupen-Malmedy, die deutschen Dialekt redenden Gemeinden
um Arlon und Montzen und die Westforschung

Horst Lademacher
Eine ‚Deutsch-Niederländische Symphonie’?
Funktion und Grenzen zwischenstaatlicher Organisationen in der
deutsch-niederländischen Beziehung von der Weimarer Republik
bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs

Teilband II

III Organisationen, Institute und Initiativen der ‚Westforschung’

Michael Fahlbusch
Deutschtumspolitik und Westdeutsche Forschungsgemeinschaft

Lothar Mertens
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Förderung
der Westforschung nach 1933

Gjalt R. Zondergeld
„Nach Westen wollen wir fahren!“
Die Zeitschrift ‚Westland’ als Treffpunkt der Westraumforscher

Hans-Paul Höpfner
Bonn als geistige Festung an der Westgrenze?
Zur Rolle und Bedeutung der Westforschung an der Universität Bonn 1933-1945

Marlene Nikolay-Panter
Geschichte, Methode, Politik
Das Institut und die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande 1920-1945

Wilfried Maxim
„Frontabschnitte“ der ‚Westforschung’ in der Publizistik der Bonner Schule

Wolfgang Franz Werner
Der Provinzialverband der Rheinprovinz, seine Kulturarbeit
und die ‚Westforschung’

Thomas Müller
Die Formierung des ‚Grenzraums’.
Die ‚Abteilung G’ des Reichsinspekteurs und Landeshauptmanns Haake

Ralph Klein
Karl Wülfrath und das ‚Rheinische Provinzialinstitut
für Sippen- und Volkskörperforschung’

Thomas Müller
‚Ausgangsstellung zum Angriff’
Die Westforschung der Technischen Hochschule Aachen

Marta Baerlecken, Ulrich Tiedau
Das Deutsch-Niederländische Forschungsinstitut an der Universität
Köln 1931-1945 und der Aufbau des Faches Niederlandistik
in der frühen Bundesrepublik

Martin Kröger
Die Praxis deutscher auswärtiger Kulturpolitik in den Niederlanden
zwischen den Weltkriegen

Frank-Rutger Hausmann
Das Deutsche (Wissenschaftliche) Institut in Brüssel (1941-1944)

IV Einzelne ‚Westforscher’ und Kontinuitäten der ‚Westforschung’ nach 1945

Karl Ditt
Die Politisierung der Kulturraumforschung im Dritten Reich
Das Beispiel Franz Petri

Klaus Pabst
„Blut und Boden auf Rheinische Art“.
Gerhard Kallen, der Nationalsozialismus und der „Westraum“

Nikola Doll
Politisierung des Geistes
Der Kunsthistoriker Alfred Stange und die Bonner Kunstgeschichte
im Kontext nationalsozialistischer Expansionspolitik

Michael F. Feldkamp
Reichskirchengeschichtsschreibung und Grenzlandforschung
Zum wissenschaftlichen und publizistischen Werk des Bonner Historikers
Leo Just (1901-1964)

Helmut Gabel
„Seherische Wissenschaft“
Christoph Steding und die Niederlande

Jan Zimmermann
Alfred Töpfers „Westschau“

Peter Jan Knegtmans
Jan van Dam und die Reform des Unterrichtswesens in den besetzten Niederlanden

Joachim Lerchenmüller
Hans Ernst Schneiders/Hans Schwertes Niederlande-Arbeit
in den 1930er bis 1950er Jahren

Bernd-A. Rusinek
‚Westforschungs’-Traditionen nach 1945
Ein Versuch über Kontinuität

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