C. Gerhardt: Screening the Red Army Faction

Cover
Titel
Screening the Red Army Faction. Historical and Cultural Memory


Autor(en)
Gerhardt, Christina
Erschienen
London 2018: Bloomsbury
Anzahl Seiten
XII, 307 S., 15 s/w Abb.
Preis
€ 113,99; £ 91.80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Chris Wahl, Film- und Medienwissenschaft, Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF

Christina Gerhardt ist Professorin an der University of Hawai’i mit den Schwerpunkten Environmental Studies, Film Studies und German Studies. Spezielles Interesse zeigt sie an der 68er-Generation und an Kritischer Theorie. Sie ist derzeit als Mitherausgeberin in zwei Projekte involviert: Noch in diesem Jahr wird ein Sammelband mit dem Titel „1968 and Global Cinema” erscheinen und 2019 ein weiterer mit dem Titel „Celluloid Revolt: German Screen Cultures and the Long 1968”.

Ihr aktuelles Buch hat auf den ersten Blick ein ganz ähnliches Thema, allerdings muss man sich auf den zweiten Blick fragen, was eigentlich genau das Thema dieses Buch ist. Ganz abgesehen davon, dass die Begrifflichkeiten des Untertitels, „historisches und kulturelles Gedächtnis”, von der Autorin nicht näher erläutert werden (das kulturelle Gedächtnis ist nach den gängigen Definitionen selbst ein historisches, und welches Gedächtnis ist das nicht?), scheinen sie sich auf zwei mögliche Bedeutungen des Wortes "screening" im Haupttitel zu beziehen: Erstens eine historische Untersuchung des Phänomens Rote Armee Fraktion (RAF) und zweitens eine Betrachtung der Filme über die RAF, also ein erinnerungskultureller Zugang. Neben „überprüfen“ und „vorführen“ kann „screening” allerdings auch „abschirmen / vor etwas schützen“ bedeuten, und der Tonfall des Buches bzw. die Unterlassungen der Autorin legen diese dritte Variante am Ende nahe.

Die zentrale Frage ihrer Studie, so Christina Gerhardt, lautet: Was zeigen oder verdecken kulturelle Texte über die Geschichte der RAF? Um sich dieser Frage zu nähern, liefere ihr eigener Text eine chronologische Erzählung der RAF im kulturellen Gedächtnis zwischen 1970 und 2008. Als ihren ureigenen Beitrag versteht sie die Einordnung der Geschehnisse in einen internationalen Kontext, der sich aus relevanten internationalen Ereignissen sowie aus der Anwesenheit von internationalen Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) zusammensetze. Letzterer werde meist übersehen oder ausgelassen.

„Screening the Red Army Faction” besteht aus sechs Kapiteln. Das erste liefert den „politischen und historischen Kontext, 1945–1970“ (S. 15), wobei ein besonderer Fokus auf den Einfluss von Ereignissen und sozialen Bewegungen in Ländern der Dritten Welt sowie auf die Anwesenheit von Algeriern, Kongolesen und Iranern in der BRD der späten 1960er-Jahre gelegt wird. Allerdings kann Gerhardt hierzu keine neuen Fakten oder Perspektiven liefern; im Gegenteil hat sie die neueste Literatur zum Besuch des Schahs in Berlin am 2. Juni 1967, auf den sie ausführlich eingeht, nicht mehr rezipiert.1 Wie in den weiteren Kapiteln auch, bleibt ihr Text weitestgehend eine Aufzählung bekannter Sachverhalte, wobei oftmals der Bezug zum eigentlichen Thema, der RAF, gar nicht erst hergestellt wird.

Das zweite Kapitel handelt im Kern von der Rolle der Bild-Zeitung in den 1960er-Jahren und von Printerzeugnissen der linken Subkultur, insbesondere „Agit 883”. Kurz geht die Autorin auf Filme wie „Viva Maria” (1965, Louis Malle) oder „Bonnie and Clyde” (1967, Arthur Penn) ein, aber nur in dem Zusammenhang, dass diese „Gewalt ästhetisierten“ (S. 90); dass eine Gruppe um Dutschke und Kunzelmann sich nach dem Malle-Film benannte, dass auch Baader und Ensslin diese Filme im Kino sahen und sich inspirieren ließen – der Vergleich der beiden „Gaunerpärchen“ gehört zum kulturellen Gedächtnis der RAF – kein Wort davon. Im dritten Kapitel zum Stichwort „Überwachung“ werden einige an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), wo zunächst auch Holger Meins studierte, entstandene Filme sowie einzelne Werke des Neuen Deutschen Films wie die Böll-Verfilmung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum” (1975, Volker Schlöndorff/Margarethe von Trotta) besprochen.

Der folgende Teil behandelt die Darstellung politischer Alternativen in Fassbinders „Mutter Küsters’ Fahrt zum Himmel” (1975) und den beiden von-Trotta-Filmen „Das zweite Erwachen der Christa Klages” (1978) sowie „Die bleierne Zeit” (1981). Am Ende dieses Abschnitts geht Gerhardt auch auf Christian Petzolds „Die innere Sicherheit” (2000) ein. Im vorletzten Kapitel, das das Verhältnis der RAF zur Stasi behandelt, weist sie Schlöndorffs „Die Stille nach dem Schuss” (2000) zurück, da der Film nur nach oberflächlicher, nicht aber nach innerer Authentizität strebe. Ihm wird die Autobiographie der Terroristin Inge Viett als positives Beispiel entgegengehalten.2 Die aktuelle Studie von Frank Wilhelm zum Thema Stasi-RAF wurde dagegen nicht rezipiert.3 Das letzte Kapitel schließlich behandelt den Bilderzyklus „18. Oktober 1977” von Gerhard Richter und die umstrittene RAF-Ausstellung der „Kunst-Werke“ Berlin. Gerade zu diesen beiden erinnerungskulturellen Themen hat bereits Svea Bräunert ausführlich geschrieben. Ihr Buch taucht zwar im Literaturverzeichnis auf, wird aber nirgendwo im Text herangezogen.4

Die RAF, so Gerhardts schlichte Analyse, sei deshalb so präsent im kulturellen Gedächtnis, weil sie die entscheidenden Fragen an die deutsche Nachkriegsdemokratie bzw. an Demokratien generell gestellt habe. Dass es auch an der medialen Sensibilität und Selbstinszenierung der RAF sowie an der Gewaltfrage, die nicht nur die RAF stellte, sondern die sich viele junge Leute irgendwann einmal stellen, liegen könnte, davon scheint Gerhardt nichts zu wissen. In ihrem Nachwort fasst sie noch einmal zusammen, wie wichtig sie den Kontext der „Third World social movements“ (S. 258) finde, ohne darauf einzugehen, dass die Übertragung von Konzepten wie „Guerilla“ oder auch „Folter“ von beispielsweise südamerikanischen auf deutsche Verhältnisse durch die RAF zu Selbsttäuschung und Täuschung führte.

Den 2. Juni scheint sie nur aus der Perspektive der „Bewegung 2. Juni“ betrachten zu können: „Die anderen haben angefangen“ war deren Rechtfertigung (z.B. S. 260). Sie verherrlicht nostalgisch die „Politik der Solidarität“ der Bewegungen der 1960er-Jahre, ohne einzugestehen, dass diese in den Händen der RAF zu einer mafiösen Omertà verkam. Es ist schon fast unglaublich, dass eine wissenschaftliche Studie über die RAF aus dem Jahr 2018 mit folgender Aussage endet: „A government can be used to ensure rights but if it does not work to this end, there are numerous alternatives. The politics of solidarity, whether through political organizing or everyday gestures of mutual aid, counteract systems predicated on plundering the many for the few“ (S. 264).

In den letzten Jahren sind in Deutschland sehr viele Bücher erschienen, die neue und originelle Perspektiven auf die RAF einnehmen: im Lichte des islamischen Terrorismus seit 20015, mit Fokus auf die Opfer der RAF6, aus einem genderorientierten Interesse an den Frauen der RAF7, mit Blick auf Übergänge von der Neuen Linken zur Neuen Rechten8 oder, und das wäre für diese Arbeit besonders fruchtbar gewesen, orientiert am Zusammenspiel von RAF, Medien, Öffentlichkeit und Erinnerungskultur.9 Alle diese Publikationen hat Gerhardt offenbar nicht wahrgenommen. Was ihre Filmauswahl angeht, so zeigte das Potsdamer Festival „moving history“ mit seiner Retrospektive zu diesem Thema im September 2017, dass es abseits des klassischen und vielfach besprochenen Kanons, den Gerhardt bedient, eine Vielzahl von Entdeckungen zu machen gäbe.10

Vielleicht ist das vorliegende Buch als eine Art Einführung für ein US-amerikanisches Publikum passabel, aufgrund seiner links-nostalgischen Einseitigkeit und der Vernachlässigung aktueller Diskurse scheint aber auch das eher zweifelhaft. Man hat den Eindruck, dass die Autorin auch bei der Arbeit an diesem Buch mehr an die 68er-Bewegung generell als an die RAF im Speziellen gedacht hat.

Anmerkungen:
1 Uwe Soukup, Der 2. Juni 1967. Ein Schuss, der die Republik veränderte, Berlin 2017; Eckard Michels, Schahbesuch 1967. Fanal für die Studentenbewegung, Berlin 2017.
2 Viett hatte gegen den Film geklagt, da sie darin ein Plagiat sah.
3 Frank Wilhelm, RAF im Osten. Terroristen unter dem Schutz der Stasi, Neubrandenburg 2016.
4 Svea Bräunert, Gespenstergeschichten. Der linke Terrorismus der RAF und die Künste, Berlin 2015.
5 Beispielsweise: Oliver Tolmein, Vom Deutschen Herbst zum 11. September. Die RAF, der Terrorismus und der Staat, Hamburg 2002.
6 Beispielsweise: Anne Siemens, Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus, München 2007; Michael Buback, Der zweite Tod meines Vaters, München 2008; Carolin Emcke, Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF, Frankfurt am Main 2009; Julia Albrecht / Corinna Ponto, Patentöchter. Im Schatten der RAF. Ein Dialog, 2012.
7 Beispielsweise: Gisela Diewald-Kerkmann, Frauen, Terrorismus und Justiz: Prozesse gegen weibliche Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni, Düsseldorf 2009; Irene Brandhauer-Schöffmann / Dirk van Laak (Hrsg.), Der Linksterrorismus der 1970er-Jahre und die Ordnung der Geschlechter, Trier 2013; Ingeborg Gleichauf, Poesie und Gewalt: Das Leben der Gudrun Ensslin, Stuttgart 2017.
8 Beispielsweise: Götz Aly, Unser Kampf 1968. Ein irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2009; Thomas Wagner, Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten, Berlin 2017.
9 Beispielsweise: Andreas Elter, Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt am Main 2008; Inge Stephan / Alexandra Tacke (Hrsg.), NachBilder der RAF, Köln 2008; Cordia Baumann, Mythos RAF. Literarische und filmische Mythentradierung von Bölls ‚Katharina Blum’ bis zum ‚Baader Meinhof Komplex’, Paderborn 2012; Jan Henschen, Die RAF-Erzählung. Eine mediale Historiographie des Terrorismus, Bielefeld 2013; Svea Bräunert, Gespenstergeschichten. Der linke Terrorismus der RAF und die Künste, Bielefeld 2015; Bernd Zywietz, Terrorismus im Spielfilm. Eine filmwissenschaftliche Untersuchung über Konflikte, Genres und Figuren, Wiesbaden 2016; Corina Erk, (De-)Konstruktionen der RAF im Post-2000-Kino. Filmische Erinnerungsarbeit an einem Mythos, Paderborn 2017; Charlotte Klonk, Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden, Frankfurt am Main 2017.
10 Vgl. zum Programm: https://www.moving-history.de/app/uploads/2017/09/Katalogmovinghistory2017.pdf (01.10.2018)

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