Cover
Titel
Record.Play.Stop. – Die Ära der Kompaktkassette. Eine medienkulturelle Betrachtung


Autor(en)
Fruth, Pia
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Röther, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn

Analoge Tonträger feiern im digitalen Medienzeitalter ihr Comeback: Seit 2008 hat sich die Zahl der verkauften Vinyl-Langspielplatten mehr als versechsfacht1, und auch die Musikkassette erlebt – in ihrer Nische – ein Revival. 55 Jahre, nachdem der niederländische Konzern Philips die Compact Cassette und den taschenrecorder 3300 auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin präsentierte, spezialisieren sich heute wieder kleine Musiklabels auf den Vertrieb von Musikkassetten, und manche Band stellt dem digitalen Release ihres neuen Albums eine analoge Kassette zur Seite.

Die „Ära der Kompaktkassette“ datiert die Medienwissenschaftlerin Pia Fruth in ihrer im Februar 2018 erschienenen Dissertation auf die 1960er- bis 1990er-Jahre. Der sich in dieser Zeit ausbildenden „Kassettenkultur“, die die gesellschaftliche Mediennutzung und -wahrnehmung insgesamt entscheidend geprägt habe, widmet sie sich aus technik-, sozial- und kommunikationsgeschichtlicher Perspektive. Dabei liegt der Fokus auf der Bundesrepublik Deutschland, einige erhellende Blicke in die DDR und weitere Länder des Ostblocks ergänzen die Untersuchung und beleuchten die Verwendung von Kassetten als Medien des politischen Protests (Kapitel 3.2.3).

Ihre medienkulturelle Betrachtung gliedert Pia Fruth in drei Hauptkapitel: Im ersten Teil beschreibt sie die technischen Entwicklungen akustischer Speichermedien seit Thomas Alva Edison, dem mit der Erfindung des Phonographen, den er im Dezember 1877 der Öffentlichkeit präsentierte, erstmals die Aufzeichnung und Reproduktion von Tönen gelang. Der Wert dieses historischen Überblicks, der die Geschichte der Tonaufzeichnung als einen Weg „vieler paralleler Erfindungen, Sackgassen und wiederholter Anläufe“ (S. 107) auf 75 Seiten darstellt, liegt vorrangig in der pointierten Zusammenfassung: Emile Berliners Grammophon, Valdemar Poulsens Magnettonmaschine und Fritz Pfleumers Tonbänder sind keine Unbekannten, und auch die Entwicklungen auf dem Tonbandgerätemarkt bis zur Markteinführung der Kassette durch Philips sowie der 1967 beendete „Kassettenkrieg“ mit der Grundig AG, die 1965 ein Konkurrenz-Kassettensystem in den Handel brachte, sind in der technik- und medienhistorischen Forschungsliteratur bereits mehrfach beschrieben worden.2

Pia Fruth legt den Fokus ihrer kompakten Gesamtschau darauf, die Vorzüge der Kassette gegenüber ihren Vorgängern – ihre leichte Bedienbarkeit und Mobilität – anschaulich herauszustellen. Sie waren zentrale Voraussetzungen der massenhaften Verbreitung und des ebenso durchschlagenden wie lang anhaltenden Erfolgs der Musikkassette.

Seit Ende der 1960er-Jahre sei die Kassette zum festen Bestandteil der Alltagskultur geworden, argumentiert die Autorin im zweiten Teil der Studie („Tape on me: Versuch einer Sozialgeschichte der Kassette“), der die „Kulturpraktiken im Umgang mit Kassetten“ (S. 332) im Kontext der westdeutschen Gesellschaftsgeschichte beschreibt. Vor dem Hintergrund der Ausbildung der Massenkonsumgesellschaft, der Ausdifferenzierung des massenmedialen Angebots und der Entstehung von Jugend-, Gegen- und Protestkulturen betrachtet sie unterschiedliche Nutzergruppen und deren spezifische Aneignungspraktiken und Bedeutungszuschreibungen an das neue Medium. In der Zusammenschau mit den in der Öffentlichkeit geführten Diskussionen um angemessene und weniger wünschenswerte Formen des Medienkonsums im Allgemeinen sowie der Nutzung von Kassetten(rekordern) im Besonderen gelingt es ihr, die Entstehung und Entwicklung der „Kassettenkultur“ in der Bundesrepublik Deutschland als einen von zahlreichen unterschiedlichen Akteuren aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft beeinflussten Prozess zu veranschaulichen.

In ihrer Argumentation und der Wahl der Untersuchungsperspektiven, die die Hersteller- ebenso wie die Nutzerseite in den Blick nehmen, lehnt sie sich an die Ideen des „Circuit of Culture“ an, den Paul du Gay, Stuart Hall und Linda Janes bereits Ende der 1990er-Jahre ihrer Geschichte des Sony Walkman zugrunde legten.3 Das Kapitel führt zu der zentralen Erkenntnis, dass es der Kassette aufgrund ihrer vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten und ihrer bereits im technikhistorischen Überblickskapitel herausgestellten leichten Bedienbarkeit und mobilen Einsetzbarkeit gelang, ganz unterschiedliche Konsumentengruppen mit je eigenen Ansprüchen von sich zu überzeugen. So seien Kassetten(rekorder) zum festen Bestandteil verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen geworden – eine nicht ganz neue Einsicht, die so oder so ähnlich bereits in den Arbeiten von Paul du Gay, Heike Weber und der Verfasserin dieser Zeilen formuliert wurde.4 Gleichwohl gelingt es Pia Fruth, auf Basis ihres breit gefächerten Streifzugs durch die Lebenswelten ganz unterschiedlicher Nutzergruppen die Kassette als ein „ideales Begleitmedium“ (S. 332) des gesellschaftlichen Wertewandels und der Ausdifferenzierung von Lebensstilen in Deutschland zwischen den 1960er- und den 1990er-Jahren zu porträtieren.

Dieses Ergebnis bestätigt sich ebenso im dritten Hauptkapitel, das die Kassette als Medium der Kommunikation betrachtet: Durch ihren niedrigen Preis, ihre Mobilität und die einfache Technologie wurde sie zu einem Medium, das Einkommens-, Bildungs-, Milieu- und Altersgrenzen überwand und eine Partizipation an medialen sowie individuellen Kommunikationsprozessen ermöglichte.

In allen drei Kapiteln verwendet Pia Fruth vielfältiges Quellenmaterial – Unterlagen aus dem Archiv der Firma Philips ebenso wie Werbeanzeigen diverser Hersteller, Presseberichte und eigens geführte biografische Interviews. Bedauerlicherweise bleiben die Kriterien für die Auswahl der Zeitzeugen im Dunkeln und ein Quellenverzeichnis sucht der Leser vergebens; auch die Forschungsliteratur zur Kassette als Bestandteil der bundesrepublikanischen Medienlandschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist nicht ganz so spärlich, wie es die Einleitung glauben macht, wenn sie konstatiert, die „Kassette als solche [sei] nirgends wissenschaftlich in den Fokus genommen worden“ (S. 28).

Nichtsdestotrotz gelingt es Pia Fruth, über die Mikroebene der Kassette einen Blick auf die Makroebene der gesellschaftlichen Entwicklung zu werfen und eine Geschichte der 1960er- bis 1990er-Jahre zu erzählen. Zahlreiche Produkte der Unterhaltungselektronikbranche konkurrierten und koexistierten in deutschen Haushalten, ebenso wie traditionelle Werte und (Musik-)Konsummuster wiederholt in Frage gestellt wurden und sich stetig wandelten. Aufgrund ihrer Vielfältigkeit begleitete und überdauerte die Musikkassette mitsamt ihrer zahlreichen Abspiel- und Aufnahmegeräte diese Prozesse und Umbrüche.

Anmerkungen:

1 <http://www.musikindustrie.de/absatz>, (26.08.2018).
2 Stellvertretend sind zu nennen: David Morton, Off the Record. The Technology and Culture of Sound Recording in America, New Brunswick 2000; Klaus Neumann-Braun / Axel Schmidt, Artikel “Musikkassette/Tonband”, in: Hans-Otto Hügel (Hg.), Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart 2003, S. 329-394; Monika Röther, The Sound of Distinction. Phonogeräte in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Objektgeschichte (1957-1973), Marburg 2012; Kilian Steiner, Ortsempfänger, Volksfernseher und Optaphon. Die Entwicklung der deutschen Radio- und Fernsehindustrie und das Unternehmen Loewe 1923-1962, Essen 2005; Heike Weber, Das Versprechen mobiler Freiheit. Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy, Bielefeld 2008.
3 Paul du Gay / Stuart Hall / Linda Janes, Doing Cultural Studies. The Story of the Sony Walkman, London 1997.
4 du Gay u.a., The Story of the Sony Walkman; Weber, Das Versprechen mobiler Freiheit; Röther, The Sound of Distinction.