Die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus

: Religionsfreiheit in Ungarn. Verfassungspolitik und -wirklichkeit am Beispiel kleiner Religionsgemeinschaften in Ungarn 1845–1945 unter besonderer Berücksichtigung der Horthy-Zeit. Berlin 2016 : Duncker & Humblot, ISBN 978-3-428-14820-2 700 S. € 139,90

: Aberkannt!. Die Verfolgung von Jehovas Zeugen im Nationalsozialismus und in der SBZ/DDR. Berlin 2017 : Metropol Verlag, ISBN 978-3-86331-379-1 350 S. € 19,00

Besier, Gerhard; Stokłosa, Katarzyna (Hrsg.): Jehovas Zeugen in Europa – Geschichte und Gegenwart. Band 3: Albanien, Bulgarien, Deutschland, Jugoslawien, Liechtenstein, Österreich, Polen, Schweiz, Tschechoslowakei und Ungarn. Berlin 2018 : LIT Verlag, ISBN 978-3-643-14127-9 1018 S. € 24,90

Nerdinger, Winfried (Hrsg.): Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in München 1933–1945. Publikation zur Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum München. Berlin 2018 : Metropol Verlag, ISBN 978-3-86331-401-9 279 S. € 36,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim B. Müller, Forschungsstelle, Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg

Für eine ihrer letzten Aktionen versammelte die im Dezember 2018 gestorbene Ljudmila Alexejewa, Grande Dame und Chronistin der sowjetischen Dissidenz, alte und neue Mitstreiter zur Unterstützung der christlichen Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas (oder „Jehovas Zeugen“), die in der westlichen wie der russischen Öffentlichkeit nur wenig Aufmerksamkeit und Anerkennung genießt, aber den dissidentischen Kreisen aus jahrzehntelanger Leidensgenossenschaft vertraut ist.1 In Russland ist die Gemeinschaft seit April 2017 wie zu Sowjetzeiten erneut verboten, viele Gläubige sind Ausgrenzung und Verfolgung ausgesetzt, ganze Familien, vom Kinder- bis ins Greisenalter, werden zumindest vorübergehend verhaftet, Berufsverbote verhängt, Bildungskarrieren von Jugendlichen und Kindern zerstört, gegen eine wachsende Zahl von Glaubensangehörigen Prozesse mit vorab schon feststehendem Ergebnis geführt. Selbst EU-Bürger wie der Däne Dennis Christensen sind davon betroffen, der in einem von Vertretern der internationalen Gemeinschaft beobachteten Verfahren über mehrere Instanzen zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde, weil er den falschen Glauben hat. „Memorial“ und internationale Menschenrechtsorganisationen bezeichnen Christensen – und andere inhaftierte Zeugen Jehovas – als politische Gefangene.2 In einer Sitzung des Menschenrechtsrats beim Präsidenten wies am 11. Dezember 2018, unmittelbar nach Alexejewas Tod, die Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann Wladimir Putin auf die absurde Situation hin, dass von 489 in Russland als extremistisch oder terroristisch eingestuften Organisationen 404 nationale und lokale Gemeinden der Zeugen Jehovas sind, also zu einer religiösen Gruppe gehören, die nicht nur für christlichen Pazifismus, Gewaltfreiheit und Antirassismus bekannt ist, sondern auch im Nationalsozialismus die Teilnahme am Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion verweigerte und aus deren Reihen beinahe alle wegen Kriegsdienstverweigerung im Zweiten Weltkrieg hingerichteten Deutschen kamen.3

Die politischen Gefangenen wie Christensen werden vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ziehen. Seit Jahrzehnten rufen Jehovas Zeugen den EGMR gezielt zur Etablierung und Erweiterung individueller Freiheitsrechte an. Sie sind zu Avantgardisten der Bürger- und Menschenrechte geworden und dabei geradezu eine Partnerschaft mit dem Gericht eingegangen, wie der amerikanische Juraprofessor James T. Richardson, einer der wichtigsten Beobachter der Rechtsprechung des EGMR zur Religionsfreiheit, feststellt: „Jehovah’s Witnesses have filed more religion-related cases than any other religious group before the European Court of Human Rights [...]. The legal prowess and remarkable accomplishments of the Witnesses in this very important arena rival the jurisprudential record accomplished in the United States, Canada, and some other nations. The Witnesses are serving a particularly important role in helping establish religious freedom within former Soviet-dominated nations, as the legal record achieved to date in the [EGMR] clearly demonstrates“.4 Allerdings hat Russland zuletzt nicht nur wiederholt EGMR-Urteile de facto ignoriert, sondern droht damit, den Europarat zu verlassen.5

Der Bezug zur Dissidenz hilft aber über die aktuellen Fälle hinaus, Denken und Praxis der Gruppe besser zu verstehen, deren Geschichte in den hier zu besprechenden Bänden untersucht wird. Wenn auch unterschiedliche Länder im Mittelpunkt der Studien stehen, tauchen immer wieder Motive auf, die sich mit Konzepten aus der sowjetischen und ostmitteleuropäischen Dissidenz in eine auch für Nichtgläubige nachvollziehbare Sprache übersetzen lassen. Gewaltlosigkeit, Kriegsdienstverweigerung, eine radikale Vision menschlicher Gleichheit fügten sich mit anderen Glaubenssätzen und einer dem Selbstverständnis der Gruppe zufolge am Urchristentum orientierten religiösen Praxis der öffentlichen Mission zu einer Lebensweise, die Václav Havels „In-der-Wahrheit-leben“ nicht nur wegen des emphatischen, bei Zeugen Jehovas auf permanente individuelle wie kollektive Bibellektüre gegründeten Wahrheitsbegriffs nahekommt. Sie verstehen sich als Bürger einer „parallelen Polis“, um einen anderen Begriff aus dem Umfeld der Charta 77 zu zitieren; nur dass diese parallele Polis, das himmlische Gottesreich, als apolitischer Gegenentwurf zu den herrschenden irdischen Mächten angelegt ist. Das in christlicher Tradition stehende politische Neutralitätskonzept führt ebenso wie der Pazifismus und die vielfach bestätigte Gesetzestreue, wo nicht die Glaubensfreiheit betroffen ist, jeden politischen Extremismus-Vorwurf ad absurdum. Sie sind friedfertige Bürger, die auf ihre Art jenseits der politischen Kontexte leben. In den sowjetischen Lagern und den kommunistischen Gefängnissen entstanden persönliche Berührungszonen zwischen der politischen Dissidenz und den dissidentischen Zeugen Jehovas. Die konspirativen Treffen, Untergrunddruckereien und klandestinen Missionsaktivitäten der Gläubigen, der Schmuggel von Schriften und persönlichen Zeugnissen – auch Dokumenten der Verfolgung – sowohl in die als auch aus den sowjetisch dominierten Staaten über Zwischenstationen in Skandinavien, Österreich oder der Schweiz, die Übernahme der internationalen Menschenrechtssprache und das Appellieren an die durch den Helsinki-Prozess eingerichteten Gremien oder die als moralische Instanz behandelte „Weltöffentlichkeit“ gehören zu den nicht zufälligen Parallelen zwischen diesen beiden scheinbar so unterschiedlichen Sphären der Dissidenz.

Der für seinen Einsatz für kleinere Religionsgemeinschaften bekannte evangelische, früher in Heidelberg und Dresden lehrende Kirchenhistoriker Gerhard Besier bringt mit dem gewaltig dimensionierten dritten Band sein Sammelwerk über „Jehovas Zeugen in Europa“ zum Abschluss. Wieder bestechen die Vielfalt der Perspektiven auf die hier mittel- und südosteuropäischen Geschichten der Glaubensgemeinschaft und der Mut der beiden Herausgeber, neben Besier die an der Süddänischen Universität lehrende Historikerin Katarzyna Stokłosa, auch aus der Religionsgemeinschaft und ihren Archiven stammende Forschung einzubeziehen. Besier gehört auch zu den Gründern und Herausgebern der Zeitschrift „Religion – Staat – Gesellschaft“, die neben religionswissenschaftlichen, historischen oder juristischen Beiträgen renommierter Fachleute auch solider wissenschaftlicher Arbeit aus den Innenräumen religiöser Minoritäten eine Stimme gibt. Diesem Publikationsforum ist ein beeindruckender, methodisch reflektierter Einblick in die Frühgeschichte und die Entwicklung der Glaubensdoktrin der Zeugen Jehovas zu verdanken, den die in der amerikanischen Zentrale der internationalen Glaubensgemeinschaft arbeitende Historikerin Jolene Chu, eine Schülerin der großen Holocaustforscherin Sybil Milton, verfasst hat. Beinahe zehn Prozent der im 19. Jahrhundert als Bibelforscherbewegung entstandenen Zeugen Jehovas, wie diese sich seit den 1930er-Jahren nennen, waren anfangs offenbar protestantische Geistliche, gerade auch aus afro-amerikanischen, mit rassistischer Diskriminierung konfrontierten Gemeinden im Süden der Vereinigten Staaten.6

Die fundamentale Bibellektüre dieser Zirkel war auch eine Gegenbewegung von Gläubigen gegen den Kulturprotestantismus und seine angelsächsischen Entsprechungen, zugleich zog die radikale Praxis internationaler christlicher Bruderliebe ohne Klassen-, National- und Rassengrenzen nicht nur viele sozial Unterdrückte in ihren Bann, sondern auch gegen die Staatskirchen rebellierende christliche Sinnsucher. Das zeigen fast durchgängig auch die Studien in „Jehovas Zeugen in Europa“, wobei es ein wenig ironisch anmutet, dass die Geschichtsschreibung zu dieser Gemeinschaft, die das Nationalstaatsprinzip ignoriert, nach Ländern geordnet ist. Der schon bei den vorherigen Bänden zu West-, Süd-, Nord- und Osteuropa monierte Mangel eines genuin europäischen, transnationale Verflechtungen herausarbeitenden Kapitels wird durch die die jüngsten europäischen Entwicklungen in pessimistischem Tonfall streifende Einleitung des Herausgebers nicht kompensiert. Hier ist eine Chance vertan, so aber auch ein Weg für künftige Forschungen markiert worden. Doch ermöglicht der Blick auf marginalisierte, „subalterne“ soziale Gruppen wie die Bibelforscher/Zeugen Jehovas erneut Einsichten in größere historiographische Zusammenhänge: Hegemoniale Narrative werden aufgebrochen, übersehene Fragen einer Geschichte der Demokratie, der Menschenrechte, des Pluralismus sichtbar, alternative Periodisierungen denkbar.7

Auch in Deutschland gehörte ein zuvor lutherischer Prediger zu den Gründerfiguren der Bibelforscher/Zeugen Jehovas im 19. Jahrhundert, aber ebenso finden sich darunter ein Lehrer, ein Molkereibesitzer, ein adliger Gutsbesitzer, ein Berliner Straßenbahnschaffner – und etliche Frauen. Besier fasst in seinem Beitrag den historischen Forschungsstand präzise zusammen und legt zugleich eine Einführung in die religionsgeschichtlichen Genealogien und die dogmatische Entwicklung dieser „christlichen, chiliastischen, nichttrinitarischen Religionsgemeinschaft“ vor (S. 129). Die staatskirchlichen Strukturen erschwerten die Etablierung im Kaiserreich, doch als der amerikanische Pastor Charles Russell, Autor der meisten Bibelforscherschriften der ersten Jahrzehnte, 1912 Berlin besuchte, kam es zum Verkehrschaos. Schon früh erwiesen sich die Bibelforscher/Zeugen Jehovas als Meister der modernen Massenkommunikation bis hin zur multimedialen Verkündung ihrer Botschaft. Der Durchbruch kam in der Weimarer Republik, als die Druckschriften der Glaubensgemeinschaft millionenfache Auflagen auf Deutsch erlebten. Es war kein Zufall, dass sowohl die völkische Rechte als auch Vertreter der ihren Privilegien nachtrauernden Großkirchen von dieser Gruppe mitunter geradezu besessen waren, die so internationalistisch und antimilitaristisch auftrat, gerade auf die hebräische Bibel stark Bezug nahm und immer wieder als prozionistisch verstanden wurde, zugleich kommunikativ so modern agierte. Das Feindbild war überdimensioniert angesichts von nie mehr als 30.000 Gläubigen. Allerdings dürfte die Zahl derer, die Bibelforscher-Veranstaltungen besucht haben, in die Hunderttausende gegangen sein. Die Brüning-Regierung verteidigte noch die Religionsfreiheit der Zeugen Jehovas, mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler war ihr Schicksal besiegelt.

Bis Juni 1933 in allen deutschen Ländern verboten, wurde die Religionsgemeinschaft ungeachtet von Appellen an die Regierung, in denen die apolitische Natur ihrer Mission betont wurde, von Anfang an unerbittlich verfolgt. 10.700 deutsche Zeugen Jehovas und 2.700 aus den besetzten Ländern erlitten direkte Verfolgung, die meisten von ihnen kamen in Haft. Etwa 2.800 Zeugen Jehovas aus Deutschland und 1.400 weitere aus dem vom Nationalsozialismus besetzten Europa waren in Konzentrationslagern, oft für viele Jahre; in den frühen Konzentrationslagern gehörten sie zu den größten Häftlingsgruppen, auch noch in der Anfangszeit des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück. 1.250 der Verfolgten waren minderjährig, 600 Kinder wurden den Eltern entrissen und in die NS-Fürsorgeerziehung gegeben. Mindestens 1.000 deutsche und 600 nicht-deutsche Zeugen Jehovas verloren durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft ihr Leben. Unter den Toten sind die mindestens 282 wegen Kriegsdienstverweigerung Hingerichteten (S. 188). Besier bringt seine Leserschaft auch im Hinblick auf die Verfolgung in SBZ und DDR auf den neuesten Stand. Wenigstens 681 NS-Opfer waren auch unter sowjetischer Besatzung oder danach in der ostdeutschen Republik schweren Repressionen ausgesetzt, 65 Zeugen Jehovas überlebten die DDR-Haft nicht (S. 226). Für das Ministerium für Staatssicherheit wurden die Zeugen Jehovas schnell zum bevorzugten Feindobjekt. Zersetzungsarbeit wurde jedoch nicht nur im Innern der Glaubensgemeinschaft versucht. Das Propagandamaterial der Stasi wurde von westdeutschen Massenmedien und „Sektenpfarrern“ gern übernommen (S. 218). Der Einfallsreichtum der Zeugen Jehovas bei der Überwindung der Verfolger, die Organisation ihres dissidentischen Lebens im Untergrund sind wiederkehrende Themen.

Für die Bundesrepublik stellt Besier fest, die Zeugen Jehovas seien dort „marginalisiert und diffamiert“ worden. Vor allem kirchliche „Sektenjäger“ taten sich dabei von den späten 1960er- bis in die 1990er-Jahre hervor (S. 231f.) in Kontinuität zur 1921 gegründeten evangelischen „Apologetischen Centrale“, die auch in Kooperation mit dem NS-Staat die Bibelforscher bekämpfte (S. 166–169). Seine Darstellung zeigt, dass durch diese anhaltende Kampagne der Ruf der Zeugen Jehovas „schwer beschädigt wurde und fortan Teile der Bevölkerung“ ihnen mit „Misstrauen und Vorbehalt“ begegneten und bis heute begegnen – ein erschreckend anschauliches Beispiel dafür, welche Wirkung Vorurteilsbildung und Skandalisierung durch gesellschaftlich angesehene Kräfte entfalten können, vor allem gegen Minderheiten (S. 233). Nicht nur weitere Beispiele aus dem langwierigen Rechtsverfahren um die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts, das Jehovas Zeugen vor dem Bundesverfassungsgericht für sich entscheiden konnten, machen diesen Befund plausibel. Ähnliches zeigen die Beiträge über Bulgarien, gestützt unter anderem auf Material des dortigen Helsinki-Komitees, das auch in der EU-Gegenwart des südosteuropäischen Staates helfend eingreifen muss (zum Beispiel S. 121), oder über Österreich (S. 370ff.). Dem Donaustaat sind gleich zwei Kapitel gewidmet, eine konzise historische Darstellung des Historikers Timon Jakli und des Juristen Reinhard Kohlhofer sowie die vor allem auf die KZ-Häftlinge fokussierte Studie der Kulturwissenschaftlerin Gerti Malle. Die nicht unerheblichen Dopplungen hätten sich durch strengere Eingriffe der Herausgeber vermeiden lassen, wobei der Band grundsätzlich hervorragend lektoriert ist, abgesehen von dem über alle Beiträge verstreuten falschen Gebrauch des Verbs „statuieren“, wo „konstatieren“ gemeint ist.

Erhellend sind auch die Studien über die Tschechoslowakei vom leitenden Wissenschaftler des Zentraleuropäischen Büros der Zeugen Jehovas, Wolfram Slupina, über die Schweiz, verfasst von der Zeugen-Jehovas-Forscherin Esther Martinet, sowie über Polen von Aleksandra Matelska, einer Literaturwissenschaftlerin, die sich hier auch auf ihre Dissertation stützt. Matelska lässt besonders deutlich das Leiden der Kinder und Jugendlichen unter den Zeugen Jehovas etwa im Jugend-KZ Litzmannstadt hervortreten (S. 481–485). Das Ende der nationalsozialistischen Besatzung brachte jedoch keine Freiheit, sondern zunächst brutale Verfolgung, darunter die Folterung und Ermordung der 15-jährigen Henryka Żur durch katholische und antikommunistische Fanatiker (S. 519), bevor die Überwachung und Repression durch den kommunistischen Geheimdienstapparat einsetzte – mit für den sowjetischen Herrschaftsbereich ungewöhnlichen Lockerungen und Verhandlungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaft seit den 1970er-Jahren.

Der Beitrag über die Schweiz führt an den Knotenpunkt der europäischen Aktivitäten der internationalen Religionsgemeinschaft. In Bern war das Zentraleuropäische Büro der Zeugen Jehovas angesiedelt, dessen Nachfolgeeinrichtung sich heute in Deutschland befindet. Nicht nur Informationsströme, Schriften- und Materialschmuggel liefen über die Schweiz, auch Flüchtlinge wurden hier aufgenommen, Landgüter in den Kriegsjahren erworben und bestellt, auf denen die aus Deutschland und anderen vom Nationalsozialismus beherrschten Ländern geflüchteten Zeugen Jehovas unterkommen und arbeiten konnten. Auch Juden wurde geholfen, in die Schweiz zu gelangen, mitunter auf „illegalem“ Wege, was allerdings Gewissenstaten einzelner Zeugen Jehovas waren. In der Schweiz wurden auch alle Berichte über NS-Verbrechen und die Verfolgung der deutschen und europäischen Glaubensgeschwister gesammelt und publiziert – darunter 1938 das Buch „Kreuzzug gegen das Christentum. Moderne Christenverfolgung. Eine Dokumentensammlung“, das nicht nur die Verfolgung von Zeugen Jehovas, sondern auch von Juden und von Angehörigen der Bekennenden Kirche erwähnte, mit denen man sich solidarisierte. Dieses Buch gehört zu den großen, unbekannten Zeugnissen der Emigrationsliteratur; es stieß auf beträchtliche Resonanz in der Schweizer Presse, Dietrich Bonhoeffers Lehrer Karl Barth steuerte eine Art Ehrenerklärung für die Zeugen Jehovas bei, und Thomas Mann nahm es nicht nur persönlich von leitenden Mitarbeitern des Zentraleuropäischen Büros entgegen, sondern hielt die Begegnung in seinem Tagebuch fest und stellte den Zeugen Jehovas einen enthusiastischen Brief für die Buchbewerbung zur Verfügung: „Sie haben Ihre Pflicht getan, indem Sie mit diesem Buch vor die Öffentlichkeit traten, und mir scheint, einen stärkeren Appell an das Weltgewissen kann es nicht geben“ (S. 664). Bedeutende Juristen in der Schweiz hatten keine Berührungsängste gegenüber Jehovas Zeugen, deren Religionsfreiheit als Prüfstein eines demokratischen und pluralistischen Verfassungsstaates angesehen wurde. Bekannte Sozialdemokraten waren unter den Anwälten des Zentraleuropäischen Büros ebenso wie der prominente jüdische Jurist Georges Brunschvig, der viele Jahre auch dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund vorstand.8 Brunschvig vertrat die Zeugen Jehovas etwa in dem Berner Prozess, der sich 1935/36 an den Prozess um die „Protokolle der Weisen von Zion“ anschloss. Auch die Schweizer radikale Rechte und NS-Schergen im Ausland bekämpften die Glaubensgemeinschaft (S. 629–635), die überraschend oft im Mittelpunkt des zeitgenössischen Interesses stand. Das Schweizer Beispiel deutet auch die Spielräume und Nuancierungen innerhalb der Religionsgemeinschaft an: Abweichend von der internationalen, in der amerikanischen Zentrale geprägten Lehrmeinung entschied sich die Schweizer Führung um Franz Zürcher in den letzten Kriegsjahren zu einem taktischen Zugeständnis gegenüber der Schweizer Regierung. Kriegsdienstverweigerung wurde zur rein individuellen Gewissensentscheidung erklärt, um ein landesweites Verbot von Jehovas Zeugen abzuwenden, ohne dass sich an deren christlich-pazifistischer Praxis etwas geändert hätte. Diese lokale Variation, die nach Kriegsende wieder beendet wurde, stieß auf scharfe Kritik nicht nur in den USA, sondern auch unter den eigenen Gläubigen in der Schweiz.

Mit Besiers drei Bänden ist der noch sehr uneinheitliche aktuelle Forschungsstand zur Geschichte der Zeugen Jehovas in Europa festgehalten. Dass noch sehr viel mehr getan werden kann, zeigen drei weitere Neuerscheinungen zu diesem Thema. Der eindrucksvolle Katalog zur Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums München „Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in München 1933–1945“ präsentiert eine Fülle von Dokumenten sowie von Fotografien von Verfolgten, die dieser Geschichte Namen und Gesichter und eine Vielzahl von persönlichen Geschichten geben. In den wissenschaftlichen Beiträgen resümiert Detlef Garbe als führender Historiker seine Forschungen, Hans Hesse zeigt den Zusammenhang zwischen dem Widerstand der Zeugen Jehovas und der Verankerung der Wehrdienstverweigerung im Grundgesetz auf, Wolfgang Benz würdigt den Widerstand der Zeugen Jehovas gegen den Nationalsozialismus, skizziert die lange Zeit ausgebliebene Entschädigung, die erneute Verfolgung in der DDR und die Hürden der offiziellen Erinnerung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Das einzige Bundesland, das bisher Jehovas Zeugen wie alle anderen NS-Opfergruppen auch in seine Veranstaltungen zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus einbezieht, ist Baden-Württemberg.

Im Zusammenhang mit einer Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück entstand Falk Berschs Buch „Aberkannt! Die Verfolgung von Jehovas Zeugen im Nationalsozialismus und in der SBZ/DDR“, das in der Schriftenreihe der Brandenburger Beauftragten zur Aufarbeitung der Folgen kommunistischer Diktatur erschienen ist. Dieses Buch ist die wohl wichtigste Gesamtdarstellung zur Geschichte der deutschen Zeugen Jehovas seit dem Standardwerk von Detlef Garbe. Bersch fasst nicht nur luzide die jüngste Forschung zusammen – darunter die maßgeblichen, weiterhin fortschreitenden Arbeiten zur Kriegsdienstverweigerung im Ersten und Zweiten Weltkrieg von Marcus Herrberger9 –, er diskutiert auch historisch reflektiert die Ähnlichkeiten und Unterschiede der politischen Systeme und ihrer Repressionen gegen Zeugen Jehovas. Am Anfang kommt der mehr als partielle Pluralismus der Weimarer Republik zum Vorschein – fast alle der mehr als 4.500 Verfahren gegen die Bibelforscher wurden von diesen vor deutschen Gerichten gewonnen, der Polizeipräsident von Magdeburg, wo sich die deutsche Zentrale der Zeugen Jehovas befand, unterstützte die Glaubensgemeinschaft noch im September 1932. Anders sah es in Bayern maßgeblich auf Drängen katholischer Kräfte aus; dort wurden die Bibelforscherschriften im November 1931 verboten. Dass die antinationalsozialistische Aufklärung der Zeugen Jehovas in den folgenden Jahren oft auch polemisch die Katholische Kirche als faschistisch attackierte, beruhte nicht zuletzt auf diesen historischen Erfahrungen.

Selbst im Ausland traten Vertreter der Weimarer Republik mitunter als Fürsprecher der Bibelforscher auf, wie die von Peter Brandt betreute Hagener Dissertation von Annegret Dirksen über „Religionsfreiheit in Ungarn“ am Beispiel des (nicht benannten und falsch als „deutschen“ bezeichneten) preußischen Kultusministers Adolf Grimme zeigt (S. 263–265). Wer noch tiefer in die Geschichte der ungarischen Zeugen Jehovas einsteigen will, als die beiden sich gut ergänzenden Kapitel des Kirchenhistorikers Zoltán Rajki und des Historikers und früheren Direktors des Budapester Holocaust Memorial Center Szabolcs Szita im Besier-Band ermöglichen, findet bei Dirksen eine unendliche Fülle des Materials. Der Darstellung hätte eine deutliche Straffung gut angestanden, doch wird die deutschsprachige Forschung wohl nicht so leicht wieder auf eine so umfassend auf den originalsprachlichen Quellen beruhende Leistung zurückgreifen können. Diese Arbeit ist damit weit über ihr Thema hinaus von Bedeutung. Das besondere Verdienst Dirksens ist es, die Spezifika der Zeugen Jehovas in den doppelten Kontext sowohl weiterer dissidentischer religiöser Minoritäten als auch der politischen Entwicklung des Horthy-Staates einzuordnen. Damit erreicht sie eine historische Tiefenschärfe, die vielen der Arbeiten über Jehovas Zeugen fehlt. Die Gewaltlosigkeit der Zeugen Jehovas und anderer Gruppen, vor allem der Nazarener-Kirche, wurde als Ablehnung des außenpolitischen Revisionismus und des zur Politik erklärten Militarismus verstanden. Die Behörden, die einen enormen Aufwand trieben, um diese kleinen Gruppen zu überwachen und zu zerstören, und immer wieder an dogmatische Verständnisgrenzen stießen, unterstellten dabei oft einen Bezug zum internationalen Marxismus (etwa S. 356f., S. 359f.). Auch Antisemitismus spielte eine Rolle bei den Angriffen auf Jehovas Zeugen (etwa S. 410). Erschütternd sind die Berichte grausamer Verfolgung während des Krieges.

Allein Falk Bersch, dessen Titel „Aberkannt!“ auf den Stempel hinweist, mit dem in der DDR Zeugen Jehovas, die Konzentrationslager überlebt hatten, der Status als Opfer des Faschismus wieder entzogen wurde, gelingt es jedoch, den Opfern, den Menschen selbst eine Stimme zu geben. Im Mittelpunkt seines klug komponierten Buches stehen neun biographische Porträts von Einzelpersonen und Ehepaaren, die diese in zwei deutschen Diktaturen verfolgten Menschen selbst sprechen lassen. Bersch hat Selbstzeugnisse, Behördeneingaben oder Aussagen vor Gericht zusammengetragen und rekonstruiert eine überaus vielfältige Lebens- und Gedankenwelt von Gläubigen, die in ihrer Gemeinschaft verbunden waren, zugleich aber scharfe individuelle Profile aufwiesen und trotz ihrer christlichen „Neutralität“ politisch reflektiert argumentierten. So erklärte etwa am 15. Juni 1950 der Schlosser Karl Pützmann, der jahrelang und mit schweren Folgen die Konzentrationslager Sachsenhausen, Wewelsburg und Ravensbrück durchlitten hatte und nun plötzlich nicht mehr „Verfolgter des Naziregimes“ sein sollte: „Dadurch [...], dass man versucht, einen Druck auf uns auszuüben, uns zu zwingen, für eine bestimmte politische Richtung, ja für Politik überhaupt einzutreten, werden die Gewissensfreiheit und andere Grundrechte freier Menschen abgeschafft. Jeder, der in der Nazizeit mit uns in der einen Front des Widerstandes gestanden hat, der mit uns unter denselben Bedingungen eingekerkert war, kennt unsere schon damals neutrale Stellung politischen Dingen gegenüber. Damals waren alle, ob Bibelforscher, Kommunisten oder andere, Gegner des Naziregimes und wurden alle gleich angesehen. Ist es nun demokratisch, wenn man unter Missachtung der erlittenen Qualen heute einfach einem Menschen das Recht ein [Opfer des Faschismus] zu sein, streitig macht? Ist nicht eine der Tugenden der Demokratie, dass man die Meinung anderer achtet, auch wenn man nicht damit übereinstimmt?“ (S. 221).

Aus den Konzentrationslagern haben sich Berichte von Juden oder von Sinti und Roma erhalten, die von Solidarität und Hilfe durch Zeugen Jehovas, von Menschlichkeit am unmenschlichsten Ort Zeugnis ablegen. Auch außerhalb der Lager waren Zeugen Jehovas bereit, Juden oder auch Kommunisten zu verstecken und ihnen zum Überleben zu verhelfen, wie Bersch zeigt. Der Forschungsstand verbietet den Rückfall in alte ideologische Fronten. Man kann der erinnerungspolitisch so erfahrenen Bundesrepublik gerade in Zeiten, in denen der Schutz von Minderheiten fragiler erscheint und die Demokratie – die so lange funktioniert hat als ein delikat ausbalanciertes System von checks and balances, das die Menschenwürde und Grundrechte ins Zentrum stellt – von Kräften innerhalb und außerhalb dieser Republik zur Tyrannei der Mehrheit umgedeutet wird, nur wünschen, sich ohne Wenn und Aber zu diesen von unterschiedlichen deutschen Staaten verfolgten historischen Heldinnen und Helden aus einer dissidentischen religiösen Minderheit zu bekennen und, wie es allen Opfergruppen des Nationalsozialismus versprochen wurde, auch den im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Zeugen Jehovas in Europa endlich ein zentrales Denkmal in Berlin zu errichten.

Sie gehörten immer zu den ersten, die von den Feinden der Freiheit, der Demokratie, des Pluralismus attackiert wurden. Mit Blick auf Russland und Entwicklungen in einigen europäischen Ländern bleiben Sätze aus der erwähnten Verfolgungsdokumentation von 1938 im Sinn haften, deren menschenrechtliche Klarheit und politische Hellsichtigkeit erstaunlich sind: „Diese Berichte sind ein gellender Alarmruf. Nicht allein, um jenen Kämpfern für christliche Geistesfreiheit zu Hilfe zu eilen, die dort in Deutschland durch Mord, Folterung, Boykott und seelische Martern aller Art mit Ausrottung bedroht werden. [...] Vielmehr gilt dieser Alarmruf aller übrigen, von Diktaturfesseln noch nicht geknebelten, aber überall umsponnenen Welt: Eure Menschenrechte, Eure elementarsten Freiheiten sind in Gefahr! Was Ihr in Jahrhunderten kultureller Entwicklung errungen zu haben glaubt, über Nacht kann es zusammenbrechen!“10 Man kann nur hoffen, dass Besier mit seiner düsteren Vermutung nicht recht behält, dass – nach der langen Phase der Religionsfreiheit, die demokratische Rechtsstaaten garantieren – die erneut zunehmende Verfolgung von Jehovas Zeugen im 21. Jahrhundert der Vorbote einer globalen „autoritären Roll-Back-Bewegung“ ist.

Anmerkungen:
1 Übersetzung des Offenen Briefes: https://www2.stetson.edu/~psteeves/relnews/180619b.html (01.06.2019); zu Jehovas Zeugen in der Sowjetunion vgl. Emily B. Baran, Dissent on the Margins. How Soviet Jehovah’s Witnesses Defied Communism and Lived to Preach About It, Oxford 2014.
2 Vgl. Russlands „Extremisten“. Zeuge Jehovas zu 6 Jahren Straflager verurteilt, FAZ, 08.02.2019, S. 3; https://www.hrw.org/news/2019/02/06/russia-jehovahs-witness-convicted; https://www.rferl.org/a/russia-jehovahs-witness-sentence/29741057.html; https://www.memorial.de/index.php/7703-in-russland-ist-die-gewissensfreiheit-eine-fiktion; https://www.amnesty.org/en/latest/news/2019/05/russia-prison-sentence-confirmed-for-danish-prisoner-of-conscience-jailed-for-his-faith/; https://www.amnesty.de/sites/default/files/2019-02/019_2019_DE_Russland.pdf (01.06.2019).
3 Vgl. https://www.bbc.com/russian/news-46598425; https://www.rferl.org/a/kremlin-to-look-into-complaints-jehovah-s-witnesses-being-persecuted/29662787.html (01.06.2019).
4 James T. Richardson, Update on Jehovah’s Witnesses before the European Court of Human Rights. Implications of a Surprising Partnership, in: Religion, State & Society 45 (2017), S. 232–248, hier S. 232.
5 Europarats-Parlamentarier heben Sanktionen gegen Russland auf, in: NZZ, 25.06.2019, https://www.nzz.ch/international/der-europarat-streitet-ueber-russland-ld.1491311?mktcid=nled&mktcval=107_2019-06-25&kid=nl107_2019-6-24019-6-24 (26.06.2019).
6 Vgl. Jolene Chu, „No Creed but the Bible“. The Belief System of Jehovah’s Witnesses, in: Religion – Staat – Gesellschaft 16 (2015), S. 109–175.
7 Vgl. Tim B. Müller, Rez. von Gerhard Besier / Katarzyna Stokłosa (Hrsg.), Jehovas Zeugen in Europa. Geschichte und Gegenwart, Bde. 1–2, Berlin 2013–2015, in: H-Soz-Kult, 03.12.2015, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25255 (02.07.2019).
8 Vgl. Hannah Einhaus, Für Recht und Würde. Georges Brunschvig. Jüdischer Demokrat, Berner Anwalt, Schweizer Patriot (1908–1973), Zürich 2016.
9 Vgl. Marcus Herrberger, Die deutschen Bibelforscher im Ersten Weltkrieg – zwischen militärischem Ungehorsam und christlichem Gewissen, in: Religion – Staat – Gesellschaft 16 (2015), S. 33–74; ders. (Hrsg.), Denn es steht geschrieben: „Du sollst nicht töten!“ Die Verfolgung religiöser Kriegsdienstverweigerer unter dem NS-Regime mit besonderer Berücksichtigung der Zeugen Jehovas (1939–1945), Wien 2005.
10 Franz Zürcher, Kreuzzug gegen das Christentum. Moderne Christenverfolgung. Eine Dokumentensammlung, Zürich u.a. 1938, S. 194.

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