St. Geroulanos u.a.: The Human Body in the Age of Catastrophe

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Titel
The Human Body in the Age of Catastrophe. Brittleness, Integration, Science, and the Great War


Autor(en)
Geroulanos, Stefanos; Meyers, Todd
Erschienen
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
$ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bettina Zangerl, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

„Why don’t we die daily?” Diese Frage, 1926 vom Physiologen Walter Bradford Cannon formuliert, eröffnet die medizinhistorische Studie von Stefanos Geroulanos und Todd Meyers The Human Body in the Age of Catastrophe. Cannons Frage kann als Ausdruck einer Verwunderung gelesen werden, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die medizinischen Disziplinen umtrieb. Die Erfahrungen mit den Verletzungen des Ersten Weltkriegs, insbesondere mit „wound shock“, stellten Ärzte und Physiologen, Praktiker und Theoretiker gleichermaßen vor ein Problem: Die körperlichen Reaktionen verwundeter Soldaten erwiesen sich als höchst inkonsistent und waren dementsprechend unvorhersehbar. Den Umgang medizinischer Denker mit der Herausforderung, welche der Krieg für ihre Fachgebiete konstituierte, untersuchen die Autoren, indem sie dem Netz physiologischer und medizinischer Konzepte und Theorien nachgehen, das sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts insbesondere in England herausbildete. Im Zentrum der Studie stehen Theorien der körperlichen und neurologischen Integration, das heißt des Zusammenspiels von Teilprozessen im Ganzen des menschlichen Körpers. Die Untersuchung solcher Theorien – etwa zur Homöostase, zum Blutkreislauf, zu Hormonen, Organen oder neurologischen Prozessen – zeigt, wie sich eine Idee des Körpers als eine integrierte und gleichzeitig fragile Einheit ausformte und verbreitete.

Eine der Stärken der Studie besteht darin, einen „Denkstil”1 zu identifizieren, der scheinbar kaum zusammenhängende Theorien, etwa Ernest Henry Starlings Hormon-Theorie und Sigmund Freuds Trieb-Theorie, zusammenführt. Verbindendes Element im Denken Starlings und Freuds war die Idee körperweiter unbewusster Prozesse, welche nicht nur interne Abläufe regulieren, sondern sich auch auf Befinden und Verhalten auswirken. Ausgehend von der Physiologie und ihren bekanntesten Vertretern entwickeln die Autoren die Geschichte der Ausbreitung einer neuen Denkweise über körperliche Prozesse in jenen Wissenschaften, die sich mit den Wunden des Krieges beschäftigen, wie Neurologie, Chirurgie und Endokrinologie und andere.

Der Erste Weltkrieg offenbarte die Grenzen der vorherrschenden physiologischen Theorien und Modelle, welche die unterschiedlichen Effekte der Verletzungen nicht erklären konnten. Soldaten mit geringen Verletzungen starben, andere mit gravierenderen Läsionen überlebten. Wie die Ärzte und Chirurgen an der Front praktisch und die Physiologen in der Heimat theoretisch auf diesen Mangel an Vorhersehbarkeit und Generalisierbarkeit reagierten, verfolgen die Autoren mit Fokus auf die Problematik der internen Regulation, die sich unter Umständen gegen den eigenen Körper richten und so zum Tod führen kann. Dies veränderte die Vorstellung davon, was unter einer Wunde zu verstehen sei. Die Frage nach der Lokalisierbarkeit und Sichtbarkeit von Verletzungen wurde in der medizinischen Literatur der Zeit auch durch die Diagnose „shell shock“ aufgeworfen. Die gängige historiographische Deutung, die in dieser funktionalen Störung einen wissenschaftshistorischen Vorläufer der Konzeption „Trauma“ zu erkennen meint, wird durch den gelungenen Nachweis des physiologischen Gehalts der Diagnose von den Autoren in Frage gestellt.2 Mit Blick auf die Physiologie zur Zeit des Ersten Weltkriegs legen sie die starke Verwobenheit physiologischer, psychologischer und biologischer Theorien offen. Dadurch dass die Autoren den hohen Verwandtschaftsgrad von „wound shock“ und „shell shock“ aufzeigen, mahnt die Studie dazu, den konzeptuellen Rahmen der Zeit, der sich durch eben jene Verwobenheit und nicht durch eine klare Distinktion von Physiologie und Psychiatrie auszeichnete, ernst zu nehmen.

Im „biomedical no-man’s-land“ (S. 79) des Krieges häuften sich Fälle, für welche die gängigen diagnostischen Klassifikationen nicht ausreichten. Einen methodischen Ausweg aus diesen Wirren unsichtbarer Verletzungen und unvorhersehbarer Krankheitsverläufe suchte man in Fallstudien. Auf diese Weise wollten Theoretiker und Praktiker dem Mangel an Kategorien und Klassifikationen begegnen. Im dritten Kapitel des Buches argumentieren Geroulanos und Meyers, dass hieraus eine neue Aufmerksamkeit gegenüber dem Patienten und eine paradoxe Form von Individualität resultiert sei: Angesichts der Pluralität der Krankheitsverläufe war die Medizin auf konkrete Individuen zurückgeworfen, ohne jedoch aus dem Einzelfall allgemeine Regelmäßigkeiten gewinnen oder die Entwicklung des Einzelfalls basierend auf allgemeinen Regelmäßigkeiten prognostizieren zu können.

Als eigentliches Herz der Studie – von dem ausgehend die anderen Textteile ihren Sinn erhalten und in dem sich die These der Autoren exemplarisch nachvollziehen lässt – erscheint das fünfte Kapitel, in welchem die Untersuchungen des Physiologen Walter Cannon im Fokus stehen. Geroulanos und Meyers erschließen dem Leser, wie Cannon ausgehend von seiner Forschung zu Bewegungen im Verdauungstrakt und der theoretischen Integration der Effekte von Emotionen zu seiner Vorstellung des Körpers als integrierte „fluid matrix“ (S. 146) kam; wie er also von dem eingeschränkten Blick auf einen spezifischen Teil des Körpers und dessen Funktionsweise schlussendlich zu einer umfassenden Homöostase-Theorie gelangte.

Zu einem erneuten Auftritt kommt Cannon im unterhaltsamen sechsten Kapitel, wo er als Mediator in einen Streit zwischen Lawrence J. Henderson, Yandell Henderson und John B. S. Haldane intervenierte. Die Autoren betten so Aspekte der Theorieentwicklung in personelle und institutionelle Gegebenheiten ein. Ausgehend von Claude Bernards milieu intérieur werden die Körpermodelle in der Physiologie der Nachkriegszeit untersucht. Die Autoren zeigen, wie die medizinischen Denker, in diesem Teil auch Biochemiker, mit Individualität umgingen, die in ihren Untersuchungen gleichzeitig als Untersuchungsobjekt, ontologische Kategorie und hermeneutisches Instrument fungierte. Diesen Überlegungen liegt stets die Frage nach dem eigentlichen Ursprung und Ort der Handlungsmacht, der „agency“ zugrunde, die nicht einem autonomen, willensfreien oder bewussten Individuum attribuiert wurde, sondern der inneren körperlichen Umgebung des Organismus.

Aus der Arbeit der Physiologen gingen diverse Konzepte hervor – unter anderem „Integration“, „Equilibrium“, „Kollaps“ und „Krise“ –, die als Metaphern und Denkfiguren eine weit über die Grenzen der Physiologie, Medizin und Neurowissenschaften hinausreichende diskursive Wirkkraft entfalteten. Dieser wird im dritten Teil des Buches Rechnung getragen, indem die Effekte dieser Konzepte auf Denken und Sprache der Ökonomie, Politik, Kybernetik und des internationalen Rechts beschrieben werden. Die geschichtswissenschaftliche Kenntnis von der diskursiven Zirkulation und narrativen Wirkung biologischer Konzepte wie Evolutionstheorie, Bakteriologie oder Zelltheorie wird so um eine Analyse der physiologischen Integrationsrhetorik erweitert. Die Autoren thematisieren den interdisziplinären Austausch sowie explizite Bezugnahmen von Sozialwissenschaftlern, Anthropologen und Ökonomen auf die Protagonisten der Studie3 und zeigen, wie letztere ihre medizinisch-biologischen Konzepte zur Beschreibung von Gesellschaft nutzbar machten. Umgekehrt analysieren sie, wie wissenschaftsexterne Faktoren die medizinische Theoriebildung bedingten: Die Vorstellungen von Individualität werden auch in Relation zur Expansion des Wohlfahrtstaates in der Zwischenkriegszeit und zur Kritik an einem entpersonalisierten und standardisierten Gesundheitswesen verortet.

Indem sie scheinbar disjunkte Theoretiker zueinander in Beziehung setzen und gut erforschte wissenschaftshistorische Episoden rekombinieren, gelingt es den Autoren überzeugend, die Existenz eines bestimmten Denkstils nachzuweisen. Es liegt auch am Gegenstand der physiologischen Integration selbst, dass sie sich mit einer gelegentlich unübersichtlichen Pluralität von Protagonisten und Konzepten beschäftigen und unterschiedliche historiographische Zugänge verweben: Medizingeschichte, „conceptual history“, „intellectual history“ und historische Epistemologie. Gerade dies macht die Studie eminent anschlussfähig. Die Effekte physiologischen Nachdenkens über das Verhältnis von Einzelteil zu Ganzem, von Biologie und Individualität, Integration, Komplexität und Fragilität auf die Wissenschaft jener Zeit illustrieren Geroulanos und Meyers kenntnis- und detailreich. Medizinische Aussagen werden in geistesgeschichtlichen Kontexten verortet, wodurch die Rolle von Medizinern als Intellektuelle dieser Zeit spürbar wird. So vermögen es die Autoren schließlich auch, vermeintlich bekannte Gestalten der Medizin, Physiologie und Neurologie der ersten dreißig Jahre des 20. Jahrhunderts in neuem Licht erscheinen zu lassen und weisen der Physiologie den ihr gebührenden Platz unter den intellektuellen Kräften dieser Zeit zu.

Anmerkungen:
1 Jonathan Harwood, Styles of Scientific Thought. The German Genetics Community (1900–1933), Chicago 2012.
2 Dazu auch Allan Young, The Harmony of Illusion, Princeton 1995.
3 Unter anderem John Maynard Keynes, Lewis Mumford, Georges Canguilhem, Claude Lévi-Strauss.