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Titel
Panzer in Prag. Der fotografische Blick auf die Invasion von 1968


Autor(en)
Winkler, Martina
Erschienen
Düsseldorf 2018: C. W. Leske Verlag
Anzahl Seiten
229 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Betscher, Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft, Universität Bremen

Der Prager Frühling ist im Westen vor allem mit ikonischen Bildern seines gewaltsamen Endes durch die Invasion der Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 verbunden. Fotografien von demonstrierenden Menschenmengen und sowjetischen Panzern in tschechoslowakischen Städten, allen voran Prag, sind durch Printmedien und Filme popularisiert worden. Hieran anknüpfend hat Martina Winkler ihr jüngstes Buch zum „fotografischen Blick auf die Invasion von 1968“ mit „Panzer in Prag“ betitelt, welches pünktlich zum 50. Jahrestag des Einmarsches erschienen ist.

Auf der Basis umfangreicher Recherchen in Archiven, Bibliotheken und Privatbeständen ist der breit gefächerte Materialbestand der Fotografien zur militärischen Beendigung der tschechoslowakischen Reformbewegung von Martina Winkler erstmals erschlossen und auf ausgesprochen gut lesbare Art zugänglich gemacht worden. Professionelle Fotodokumentationen, umfangreiches, bislang nicht veröffentlichtes Amateurmaterial, Pressebilder und private Fotoalben bilden die Grundlage ihrer Erkundungen einer „visuellen Grammatik, Rhetorik und Orthografie“ (S. 171) des Ereignisses. Ihr Erkenntnisinteresse formuliert Winkler wie folgt: „Wie kann ein solches Ereignis fotografisch festgehalten werden und welche Art von Bilder lohnt es sich später zu sammeln und zu erhalten? Welche visuellen Codes stehen für die Wahrnehmung der Invasion, welche machen die Unrechtmäßigkeit des Vorgehens am besten deutlich?“ (ebd.) Anhand verdichteter Themen und Motive bahnt sich Martina Winkler in essayartigen Kapiteln einen Weg durch den heterogenen Bestand an Fotografien mit dem Ziel, „ein schönes Buch“ (S. 37) zu machen. Und das ist ihr gelungen. Das Buch erinnert mit seinen zahlreichen, teils großformatigen Schwarz-weiß-Bildern in hoher Druckqualität sowie mit Blick auf sein Format, Design, Papier und Layout an einen Ausstellungskatalog.

Nach einer ereignisgeschichtlichen Einführung definiert Winkler ihren Zugang zur Fotografie als historische Quelle und verortet das Buch damit in der Fachdebatte der Visual History, die sich nicht nur als bloße „Geschichte der Bilder“ auffasst, sondern als „umfassende Geschichte des Sehens und Zeigens“ (S. 33). Dementsprechend versteht sie Fotografie als „gesellschaftliches Aktionsfeld“ (S. 35), in dem das materielle Bild nur ein – wenn auch zentrales – Element neben Akteuren, Institutionen und Technologien darstellt. Ein wenig schade ist es hier, wie in den meisten Werken der Visual History, dass die theoretischen Ansätze der visuellen Anthropologie, wie sie u.a. von Gillian Rose entwickelt wurden, nicht rezipiert werden.1 So könnte z.B. der dort entwickelte Begriff des „scopic regime“ (im Deutschen zumeist mit Blickregime übersetzt) die gesellschaftlichen Bedingungen des Sehens als reproduktive und konstruktive Praxis und als Aushandlung von Machtrelationen im dialogischen Verhältnis zwischen Betrachter/in und Fotografie stärker in den Blick rücken. Hier wird eine Lücke in der interdisziplinären Auseinandersetzung mit Bildern sichtbar, die in Zukunft noch zu bearbeiten sein wird.

Martina Winkler unterteilt ihr 223 Seiten umfassendes Buch in 14 Unterkapitel, die sich mal an ikonenhaften Motiven (Panzer, Kinder, architektonische Wahrzeichen der Stadt), mal an berühmten Einzelbildern (Josef Koudelkas „Panzer auf der Čech-Brücke“), mal an übergreifenden Themen („Das Ende einer langen Freundschaft“, „Der Prager Frühling, die Invasion und die Medien“ oder „Der Ausnahmesportler und die Politik“) und mal an Verwendungskontexten („Zeitschriften im Ausnahmezustand“, „Fotos in Sammlungen und ihre Geschichten“, „Fotografien im Film: Teresas Mara in ‚Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins‘“) orientieren. Diese Freiheit im Umgang mit dem Material, welches nicht streng „systematisch oder theoriegebunden“ (S. 36) erschlossen wird, macht das Buch zu einem besonderen Leseerlebnis. Angelehnt an Roland Barthes findet sich hier das punctum wieder, der Moment in der Fotografie, der Winkler besonders besticht und nach dem sie ihr Material sortiert und ausgewählt hat. Dennoch haftet ihrer Vorgehensweise keineswegs etwas Beliebiges an. Vielmehr legt Martina Winkler überzeugend dar, welche Bedeutung das Fotografieren als dokumentierende und widerständige Praxis auf Seiten der Prager Bevölkerung hatte und welche Bedeutungen den oben genannten Motivverdichtungen zukommen. Jedes Kapitel bildet für sich eine geschlossene, aber mit den anderen Kapiteln verbundene Einheit, in der jeweils ein anderer Aspekt, ein anderes Motiv, eine andere Veröffentlichungsform im Zentrum steht. Auf diese Weise nähert sich Winkler den Bildern von vielen Perspektiven und wird somit der Polysemie, der nicht festgelegten Semantik dieses Mediums, besser gerecht als manch andere Arbeit, die versucht, fotografische Bilder in die stringente linear-argumentative Form einer Monografie zu pressen.

Die besondere Stärke des Buches liegt darin, dass die Bilder stets sozial-, kultur- und politikgeschichtlich kontextualisiert werden, so dass der/die Leser/in fast nebenbei ein gutes Grundwissen über die Ereignisse im August 1968 geliefert bekommt. Wo es für das Verständnis der Motive oder der Bedeutung der Fotografien notwendig ist, zieht Winkler zusätzliche Quellen hinzu. In „Panzer Nr. 23“ zeigt sie zum Beispiel, dass die Bedeutung des Panzers als zentrales Bildelement der Fotografien nur vor dem Hintergrund der Bedeutungsgeschichte des Motivs verstehbar ist: Die russischen Panzer waren bis 1968 ein durch Literatur, Kinderbücher und Medien stark popularisiertes Motiv, mit dem die Befreiung vom Faschismus und die Freundschaft zur Sowjetunion symbolisch aufgeladen wurde (S. 91ff.). So ordnet sie das von ihr untersuchte Bildmaterial immer wieder synchron und diachron in transnationale Bild- und Motivtraditionen ein (vgl. S. 52). Entsprechend der Ähnlichkeit mit einem Ausstellungskatalog verfügen die Kapitel nur über wenige Endnoten, was dem ästhetischen Gesamtdesign gut tut, für historisch Interessierte zuweilen jedoch ein wenig schade ist.

Der leichthändige Ebenenwechsel zwischen der Bildanalyse und den Fotografien als materiellen Objekten, der historischen Kontextualisierung, dem Fotografieren als soziale und ästhetische Praxis des Alltags, der kontemporären Funktion, den zeitgenössischen Publikations- und Verwendungsweisen sowie dem Nachleben der Fotografien, kommt dem komplexen „Aktionsfeld Fotografie“ auf besondere Weise nahe. 1968 zogen zahlreiche Menschen mit Kameras durch die Städte, dokumentierten das Geschehen und schufen anschließend eine visuelle narrative Ordnung in ihren Alben. Andere Fotografien wurden zeitgenössisch gar nicht verwendet, häufig nicht einmal entwickelt. Diese Praxis verdeutlicht die Funktion der Fotografie unmittelbar nach der Invasion: Die Bilder wurden nicht in erster Linie zum Zeigen angefertigt. Vielmehr argumentiert Winkler, dass das Fotografieren an sich eine Form des Realisierens, der widerständigen Praxis und der Verarbeitung war. Die Fassungslosigkeit über den Einmarsch der vormals Verbündeten, über die Aggressivität der militärischen Reaktion auf die friedliche Reformbewegung und die Todesopfer kommt in vielen der Bilder zum Ausdruck. In den Kapiteln „Alltag und Invasion“ und „Kinder der Okkupation“ zeigt die Autorin, dass der Schock in eine vielfach verwendete Bildsprache mündete: die Darstellung von Gegensätzen wie Alltag – Militär oder Panzer – Kind. So belegt Winkler zum Beispiel, dass das Motiv der Aktentasche keine beliebige Nebensächlichkeit darstellt. Vielmehr werden in ihm das überraschende Moment der Invasion mitten im Alltag, die plötzliche Gegenwart der Panzer auf dem Weg zur Arbeit, die Absurdität des Zusammenspiels von Alltag und Ausnahmezustand erkennbar (S. 45). Das Buch Winklers bezieht seine Stärke auch aus punktuellen transnationalen Vergleichen. Sie weist beispielsweise darauf hin, dass die Bildikone des Aufstands vom 17. Juni 1953 in Ostberlin (Steine werfende Jugendliche) durch den Zuschnitt des Bildes den aktiven Widerstand gegen die sowjetischen Panzer ins Zentrum rückt, während die Bilder aus Prag eher Passivität und Gewaltlosigkeit evozieren.

Martina Winkler ist es gelungen, ihre Aussagen aus den von ihr zusammengestellten Bildgruppen heraus zu entwickeln, ohne dem Versuch zu unterliegen, diese in Eindeutigkeit aufzulösen. „Das Bild erzählt nicht eine Geschichte, sondern es eröffnet sehr viele verschiedene Erzählungen“ (S. 10). „Panzer in Prag“ ist aufgrund seines bisher unbekannten Quellenmaterials und durch seinen fundierten und zugleich kaleidoskopartigen Zugang zu den Fotografien ausgesprochen lesenswert und stellt damit im besten Sinne einer Public History nicht nur für die Fachöffentlichkeit einen großen Gewinn dar.

Anmerkung:
1 Gillian Rose, Visual Methodologies. An Introduction to Researching with Visual Materials, 4. überarb. Aufl., Oxford 2016.

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