M. Baran-Szoltys u.a. (Hrsg.): Galizien in Bewegung

Titel
Galizien in Bewegung. Wahrnehmungen - Begegnungen - Verflechtungen


Herausgeber
Baran-Szoltys, Magdalena; Dvoretska, Olena; Gude, Nino; Janik-Freis, Elisabeth; Faßmann, Heinz
Reihe
Wiener Galizien-Studien 1
Erschienen
Göttingen 2018: V&R unipress
Anzahl Seiten
290 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Rochow, Institut für Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung

In Anlehnung an die im Mai 2015 von den Doktorandinnen und Doktoranden des Wiener Doktoratskollegs „Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe“1 veranstaltete Konferenz „Galizien in Bewegung. Wahrnehmungen – Begegnungen – Verflechtungen“ entstand der vorliegende gleichnamige Sammelband. Er dokumentiert zunächst die Ergebnisse der Konferenz, reicht zugleich aber über diese hinaus, da für die Publikation weitere Autor/innen für die Publikation gewonnen werden konnten. Außerdem wird mit ihm eine neue Schriftenreihe bei Vienna University Press begründet: Die Wiener Galizien-Studien, die fortan unter der Herausgeberschaft renommierter Galizien-Expertinnen und Experten erscheint.2 Dem damit einhergehenden Erwartungsdruck wird dieser erste Band, so viel sei zu Anfang bereits verraten, durchaus gerecht. Er bietet trotz einiger Mängel ein gelungenes Beispiel für interdisziplinäre Ansätze, mit denen die historische Region Galizien erschlossen werden kann. Der Band überzeugt durch seine klare Gliederung in vier Sektionen, denen ein Vorwort von Christoph Augustynowicz, eine Einleitung der Herausgeber/innen sowie ein Beitrag von Alois Woldan zu Ivan Frankos Roman „Dlja domašn‘oho ohnyšča“ vorangestellt sind. Letzterer stimmt literaturwissenschaftlich auf den Band ein, indem Informationen zu Identität, Zugehörigkeit und sozialen Themen aus dem Roman Frankos extrahiert werden.

Den ersten Teil „Imaginationen eines Konstrukts“ leitet Christof Schimsheimer mit einem Vergleich Galiziens mit den Kresy als polnischem Erinnerungsort ein. Nach einer facettenreichen Gegenüberstellung kommt er zu dem Schluss, dass beide Mythen miteinander verwoben sind und nur zusammen als Teile eines Mythos „des Osten“ verstanden werden können. Es schließen sich drei literaturwissenschaftliche Beiträge an, die die Zeit nach 1989 in den Mittelpunkt rücken: Jagoda Wierzejska untersucht den Umgang mit Galizien in der polnischen Belletristik und Magdalena Baran-Szołtys die Nostalgie in der polnischen Galizien-Reiseliteratur. Olena Dvoretska legt überzeugend dar, wie in Taras Prochas‘kos Roman „Neprosti“ anhand der Darstellung des karpatischen Raumes mittels eines „kulturell-historischen“ Blicks ein Mitteleuropamythos erzeugt wird, der sich im Wesentlichen mit dem Mitteleuropakonzept deckt, wie es in den politischen Debatten der 1990er-Jahre Anwendung fand.

Laryssa Cybenko führt mit ihrer Darstellung zur „Schenke“ als Nicht-Ort in der galizischen Literatur den Fokus der vorherigen Sektion im zweiten Teil, der die Überschrift „Begegnungsorte des Transfers“ trägt, fort. Ihr folgen Nino Gude mit einer Untersuchung der ukrainischen Schule in Przemyśl als jüdisch-ukrainischer Begegnungsort, Patrice Dabrowski zur Rolle und Wahrnehmung der Juden in der Tatra besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie Sebastian Paul mit einem Beitrag zu ostgalizischen Einwanderern in der osttschechoslowakischen Podkarpatská Rus nach dem Ersten Weltkrieg. Elisabeth Janik-Freis schließt diesen Teil mit ihrer Darstellung der Veränderungen im preußischen Grenzregime im Falle des Grenzortes Myslowitz ab.

Den dritten Teil “Politische und konfessionelle Mobilisierung” eröffnet Katherine Younger mit einem Beitrag zu den komplexen Loyalitätsbeziehungen der griechisch-katholischen Kirche zum Zaren- und zum Habsburgerreich zwischen 1863 und 1882. Inhaltlich schließt Zoriana Melnyk daran an, indem sie die Rolle der griechisch- und der römisch-katholischen Kirche während der Massenmobilisierungen in den Jahren 1902 und 1907 hervorhebt und vergleicht. Vladyslava Moskalets und Alina Molisak beschäftigen sich hingegen mit der Rolle der jüdischen Bevölkerung, wobei Moskalets die komplexe Situation und Wahrnehmung der Juden im Bereich der Ölförderung in Boryslav in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts thematisiert. Molisak hingegen macht die Rezeption des Frankismus in Olga Tokarczuks Roman „Księgi Jakubowe“ zum Gegenstand ihrer Darstellung.

Den letzten und kürzesten Teil “Identitätsstiftende Projektionsflächen” bilden die Beiträge von Olha Voznyuk zur Bedeutung von polnischen und ukrainischen Anthologien für die Konstruktion einer galizischen Identität in den 1830er-Jahren und von Anton Kotenko, der aufzeigt, mit welchen Mitteln um 1900 ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Ukrainern im Russischen Reich und in Österreich-Ungarn geschaffen werden sollte. Kotenko geht dabei insbesondere auf die pan-ukrainische Sommerschule in Lemberg im Jahre 1904 ein.

Den Herausgeber/innen ist es gelungen, die sehr verschiedenen Texte so zusammenzubringen, dass ein roter Faden zu erkennen ist. Dennoch hätte dem Band eine stärkere redaktionelle Überarbeitung gut getan, wie ein Blick auf die großen Unterschiede hinsichtlich Argumentation, Empirie und Formalia der einzelnen Beiträge verdeutlicht. Probleme stellen etwa die unterschiedlich starke theoretische Untermauerung der Beiträge oder unzulässige Verallgemeinerungen aufgrund mangelnder Quellenbasis dar. Letztere schwächen z.B. Nino Gudes Darstellung, die ansonsten wichtige Impulse liefert. Während einige Beiträge (wie etwa die von Patrice Dabrowski, Olena Dvoretska oder Katherine Younger und Alois Woldan) durch ihre klare Argumentationsstruktur und ihren konzise umrissenen Untersuchungsgegenstand hervorstechen, ist anderen Autor/innen dies weniger gut gelungen. So wirkt Laryssa Cybenkos Beitrag mit einem Vergleich von fünf unterschiedlichen literarischen Werken äußerst ambitioniert und gleichzeitig mit Foucaults Heterotopie-Konzept und Augés Nicht-Orten theorieüberladen. Ein ähnliches Problem lässt sich auch bei Jagoda Wierzejska beobachten, die neben Foucault noch Jan Assmann und Pierre Nora in ihre methodischen Überlegungen einbezieht, es aber versäumt, sich mit deren Ansätzen hinreichend auseinanderzusetzen. Darüber hinaus fällt auf, dass die Überschriften nicht immer adäquat den Inhalt der dazugehörigen Texte beschreiben. So geht es in Anton Kotenkos Text gerade einmal auf einem Drittel der Seiten um jene Sommerschule, die im Titel erwähnt wird.

Auch in der formalen Gestaltung ist der Band disparat: So scheinen einige Texte ohne strukturierende Zwischenüberschriften eher Buchkapiteln zu ähneln, während andere mit ihrer klaren Struktur zum Verständnis des jeweiligen Themas beitragen. Dass die Autor/innen sich der jeweiligen Ortsnamen in unterschiedlichen Sprachen bedienen, verblasst vor diesem Hintergrund fast. In Bezug auf Alois Woldans Beitrag, der ohnehin eine Sonderstellung im Band einnimmt, wie die Herausgeber/innen bereits im Vorwort herausstellen, sei bemerkt, dass die formale Heraustrennung aus den vier Sektionen, für die Struktur des Bandes wenig förderlich ist. Zusammen mit dem Fehlen eines vorangestellten zusammenfassenden Abstracts, wie er bei den anderen Texten zu finden ist, bringt der Artikel eine gewisse Unruhe in den Band, anstatt die Bedeutung von Woldans Beitrag zu unterstreichen. Nicht zuletzt erscheint die Einleitung der Herausgeber/innen mit ihren bereits recht detaillierten Zusammenfassungen der Beiträge vor dem Hintergrund der Kürze der Texte und den jeweiligen Abstracts etwas redundant. Stattdessen wäre ein Schlusswort wünschenswert gewesen, das die doch sehr unterschiedlichen Aufsätze noch einmal gedanklich zusammenbringt und einen Ausblick anbietet.

Dennoch wiegt das, was Band eins der Wiener Galizien-Studien leistet, die genannte Kritik auf. Trotz der prominenten Stellung literaturwissenschaftlicher Untersuchungen bietet er auf überschaubarem Raum einen facettenreichen Einblick in die neuesten Ergebnisse der Galizienforschung, die die Beitragenden angemessen in den aktuellen Forschungsstand einbetten. Damit ist auch das erklärte Ziel der Herausgeber/innen, nämlich die Bandbreite der Aneignungen des historischen Galiziens abzubilden, erreicht. Die Ansätze, die einem inter- und transdisziplinären Kredo folgen, stehen einerseits exemplarisch für die Richtung, die dieser Forschungsbereich eingeschlagen hat. Andererseits geben sie Impulse für weitere Untersuchungen auch über die Grenzen des historischen Galiziens hinaus.

Anmerkungen:
1 Konferenzbericht „Galizien in Bewegung. Wahrnehmungen – Begegnungen – Verflechtungen“, 20.05.2015 – 22.05.2015, Wien, in: Polnische Akademie der Wissenschaften, http://www.viennapan.org/index.php/de/vermittlung/veranstaltungen/2015/245-de/veranstaltungsberichte/veranstaltungsberichte-2015-de/822-galizien-in-bewegung (01.08.2018).
2 Neben diesen ersten hier rezensierten Band ist als Band zwei der Reihe Stephanie Weismanns „Das Potenzial der Peripherie. Leopold von Sacher-Masoch (1836–1895) und Galizien“ ebenfalls 2017 erschienen.

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