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Titel
Die Un-Ordnung der Grenze. Mobiler Alltag zwischen Sachsen und Böhmen und die Produktion von Migration im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Lehnert, Katrin
Reihe
Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 56
Erschienen
Anzahl Seiten
461 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Sigrid Wadauer, Universität Wien

Migrationsgeschichte ist heute ein außerordentlich umfangreicher und ausdifferenzierter Forschungsbereich. Forschungen zu kleinräumigen und temporären Formen der Mobilität sind dennoch nach wie vor eher selten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Kleinräumigen und temporären Mobilitäten wurde oft weniger Signifikanz zugeschrieben als staats-grenzüberschreitenden, transkontinentalen und permanenten Migrationen. Sie sind zudem auch in vielen Fällen schwerer rekonstruierbar. Allerdings hat die Forschung auch gezeigt, dass es zahlreiche Verbindungen und Übergänge zwischen verschiedenen Migrations- und Mobilitätsformen gibt. Zudem ist das, was als Mobilität, Migration und/oder Sesshaftigkeit begriffen wurde, auch Gegenstand und Produkt historischer Auseinandersetzungen und Kategorisierungsprozesse. Katrin Lehnerts Studie – eine überarbeitete Version ihrer Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München – setzt nicht voraus, was als Migration, Mobilität oder Sesshaftigkeit galt, sie macht sich am Beispiel der südlichen Oberlausitz des 19. Jahrhunderts, also des Grenzgebiets zwischen dem Königreich Sachsen, der preußischen Provinz Schlesien und dem österreichisch-ungarischen Kronland Böhmen, die Herstellung von Mobilitäten und Sesshaftigkeiten, die Erzeugung eines „modernen“ Migrations- und Grenzregimes zum Gegenstand. Sie untersucht dafür rechtliche und kognitive Unterscheidungen, Kategorisierungen, Hierarchisierungen und – mehr oder minder erfolgreiche – Regulierungen und Kontrollen von Mobilität und Sesshaftigkeit. Methodisch orientiert sich die Studie an der Mikro- und Alltagsgeschichte bzw. historischen Anthropologie. Sie ist dabei mehr an Handlungsweisen denn an Mentalitäten, Identitäten oder Fremdheitserfahrungen interessiert. Ziel der Autorin ist es, nicht bloß räumliche Mobilität, sondern vielmehr die Arbeits- und Lebenswelt in diesem Grenzgebiet zu skizzieren und somit Migrations- und Gesellschaftsgeschichte zu verbinden. Der Fokus der Arbeit liegt auf unterbäuerlichen, landlosen Schichten. Die Mehrheit der Quellen entstammt einem administrativen Kontext, wobei insgesamt ein sehr vielfältiges Spektrum an Materialien herangezogen und dargestellt wird.

Zunächst gibt Lehnert einen kurzen Überblick über Genese und Konzepte der historischen Migrationsforschung. Hier wie in der Darstellung selbst nimmt die Autorin immer wieder auch auf die politische Interpretierbarkeit verschiedener Forschungsannahmen – etwa der Normalität von Sesshaftigkeit und/oder Migration – Bezug. Der empirische Hauptteil des Buchs ist nach Aspekten von Raum bzw. Grenzen strukturiert. Im ersten Abschnitt skizziert die Autorin die „Genealogie des oberlausitzisch-böhmischen Grenzgebiets“, bespricht die historische Entwicklung des Grenzverlaufs, der staatlichen Zugehörigkeit bzw. des Staatsbürger- und Heimatrechts und die Auseinandersetzungen um verschiedene böhmische Enklaven in Sachsen. Anschließend wird das Grenzgebiet als konfessioneller Raum diskutiert – in diesem Zusammenhang werden etwa (staats-)grenzüberschreitender Kirchen- oder Schulbesuch und Debatten über gemischtkonfessionelle Ehen angesprochen. Der nächste Abschnitt thematisiert wirtschaftliche Aspekte, die Etablierung von Zollkontrollen und deren Umgehung durch Schmuggel. Im Abschnitt „politischer Raum“ werden vor allem Fragen des Passwesens und der staatlichen Personenkontrolle angesprochen und auch in einem größeren europäischen Kontext diskutiert. Die nach sozialen Kriterien selektive Kontrolle, Lenkung, aber auch Ermöglichung von Mobilität ist auch Thema des folgenden Abschnitts „sozialer Raum“. Lehnert stellt hier ein Spektrum der – unterschiedlich dauerhaften oder temporären – arbeitsbedingten Mobilität dar, von Wanderungen von TagelöhnerInnen oder FabrikarbeiterInnen bis hin zu Wanderhandel und Vagabundage. Solche Praktiken, die sich über mehr oder minder lange Lebensphasen erstrecken konnten, werden auch anhand biographischer Einzelbeispiele illustriert. Manche dieser Mobilitätsformen, etwa die Wanderungen von Frauen und Armen, sind in zeitgenössischen Bevölkerungs-Statistiken kaum abgebildet, von der quantifizierenden Migrationsforschung wurden sie dementsprechend oft nur unzureichend berücksichtigt. Lehnerts Studie bestätigt einmal mehr, dass Migrationen nicht in eine Richtung verliefen und dass Land-Stadt-Mobilität nur eine unter vielen Formen der Mobilität war. Im sechsten Abschnitt „Grenzgebiet als ethnisierter Raum“ werden bereits in den vorangegangenen Kapiteln immer wieder angesprochene antislawische sowie antisemitische Ressentiments und Rassismen noch einmal im Zusammenhang mit politischen Debatten zu Arbeitskräftemangel, Migration und deren Kontrollen ausführlicher zum Gegenstand gemacht. Auch der Anteil zeitgenössischer wissenschaftlicher Forschungen an diesen Ideologien und Denkweisen kommt hier zur Sprache. Im „Rückblick und Ausblick“ wird der Versuch unternommen, die dargestellten Aspekte noch einmal zusammenzudenken.

Lehnert thematisiert also verschiedene Aspekte von Grenzraum und verschiedene Arten von Grenze, die nicht zwangsläufig in eins fallen. In ihrer Darstellung setzt sie nicht die Bedeutung einer Grenze voraus, sondern untersucht, was für wen in welcher Hinsicht als Grenze galt, wie Grenzen praktisch durchgesetzt wurden, wie sie in den Köpfen verankert wurden und/oder unterlaufen wurden. Grenzen sind, wie sie zeigt, nicht per se anerkannt und wirksam, sie werden hergestellt, wahrgenommen, oft aber auch ignoriert und in Frage gestellt. Das besondere Augenmerk gilt den Konflikt- und Störfällen, dem Nicht-Funktionieren von Kontrollen, dem „Eigensinn“ der Bevölkerung. Die Autorin rekonstruiert dabei jeweils unterschiedliche Perspektiven der Beteiligten, verschiedene Wahrnehmungen und Bewertungen und führt dies in zahlreichen Einzelbeispielen und Facetten aus. Zwar liegt der Schwerpunkt auf Quellen und Perspektiven der Oberlausitz bzw. Sachsens, es werden jedoch immer auch Gesetze sowie politische und administrative Praktiken der Habsburgermonarchie angesprochen. Die jeweils ans Ende der Abschnitte gestellten Zusammenfassungen erleichtern es, dem Argumentationsgang zu folgen. Darüber hinaus wird die Darstellung durch Bild- und Kartenmaterial ergänzt. Eine der Leitideen der Arbeit ist es, die herkömmliche Dichotomie zwischen Makro- und Mikro-Geschichte zu vermeiden. Industrialisierung, Durchsetzung des Kapitalismus, Modernisierung, ein „modernes Grenzregime“, „moderne“ souveräne Territorial-Staatlichkeit, der National- und Zentralstaat bleiben jedoch Flucht- und Referenzpunkte dieser quellen- und detailreichen Arbeit. Dabei zeigt die Studie eindrücklich, dass wir es nicht mit linearen, konflikt- und friktionsfreien Entwicklungen und nicht mit einem singulären Akteur „Staat“, sondern mit komplexen Konstellationen und vielfältigen involvierten Parteien und Interessen zu tun haben. Das evozierte „moderne Grenzregime“, die durchgesetzte Territorialstaatlichkeit stellen dabei weder notwendigen Endpunkt noch alternativlose Form einer historischen Entwicklung dar.1

Anmerkung:
1 Zu aktuellen theoretischen Debatten über Staat und Raum siehe etwa auch Stefan Nellen / Thomas Stockinger, Staat, Verwaltung und Raum im langen 19. Jahrhundert, in: Administory 2 (2017), S. 3–34.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/