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Titel
Bestseller. Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten


Autor(en)
Magenau, Jörg
Erschienen
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
René Schlott, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Welche Brisanz Bestsellerlisten zukommen kann, war im vorigen Jahr zu erleben, als das fremdenfeindliche Pamphlet „Finis Germania“ des Historikers Rolf Peter Sieferle (1949–2016) zunächst auf der monatlichen NDR-Sachbuchbestenliste erschien und später auch noch auf die wöchentliche Bestsellerliste im SPIEGEL gelangte. Von dieser anhand von Verkaufszahlen erstellten Liste verschwand es kurze Zeit später – aufgrund eines redaktionellen Eingriffs. Zuvor war bekannt geworden, dass ausgerechnet ein SPIEGEL-Redakteur durch sein alleiniges Votum in der Auswahljury für eine Platzierung des rechtsradikalen Traktats auf der NDR-Sachbuchbestenliste gesorgt hatte. Damit geriet der SPIEGEL in einen doppelt peinlichen Rechtfertigungszwang und die NDR-Sachbuchbestenliste wurde daraufhin sogar ganz eingestellt. Die Ironie der Geschichte: Der Verlag, in dem Sieferles Schrift erschien, wirbt bis heute (Stand: 22.05.2018) mit den Platzierungen des Buches auf den beiden prominenten Listen. Und erst der mediale Wirbel um das Buch machte es zum wahren Bestseller.

„Erfolg ist die Bedingung des Erfolgs.“1 Diesen und anderen paradoxen Eigenlogiken und spezifischen Mechanismen der Entstehung von Bestsellern geht der Journalist und Germanist Jörg Magenau in seinem Buch nach, das in seiner Komposition sowohl eine buchbasierte Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik darstellt als auch eine Verlags-, Marketing- und Buchdesignhistorie bietet, indem der Autor etwa auch die sich wandelnden Covergestaltungen der Bestseller und ihre verkaufsfördernde Bedeutung anspricht. Mit dem Skandal um Sieferles Buch beschäftigt sich Magenau auf mehreren Seiten und konstatiert, dass der SPIEGEL durch seinen Eingriff in die Bestsellerliste den Rechten in die „propagandistischen Karten“ (S. 103) gespielt habe: „Eine Bestsellerliste ist schließlich keine Bestenliste und keine Wohlfühlveranstaltung.“ (S. 102)

En passant erzählt Magenau die abenteuerliche Entstehungsgeschichte der Bestsellerlisten, die 1895 in dem US-amerikanischen Branchenmagazin „The Bookman“ begann, das die erste Liste zunächst als „Markenschutz“ gegen Raubkopien und zur Unterstützung der Originalausgaben veröffentlichte. 1927 erschien die erste deutsche, verkaufsbasierte Bestsellerliste in der „Literarischen Welt“ – mit Hermann Hesses „Steppenwolf“ auf dem ersten Platz. Im Gegensatz zur US-Branche sah das „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ in der Veröffentlichung solcher Listen jedoch kein absatzförderndes Instrument, sondern vielmehr ein „Symptom für eine Verflachung des geistigen Lebens“ (zitiert auf S. 94). Ein Jahr später wurde die Liste wieder eingestellt. Erst 1957 startete die ZEIT mit dem „Seller-Teller“ einen neuen Versuch. Darin wurden die Titelnennungen ausgewählter Buchhändler summiert und auf einer monatlichen Fünferliste entsprechend platziert. Obwohl das Ansehen der ZEIT-Liste noch im selben Jahr vom Skandal um den englischen Klempnermeister Cyril Henry Hoskins erschüttert wurde, der als vermeintlicher tibetischer Lama mit dem Namen Lobsang Rampa das buddhistische Esoterik-Buch „Das dritte Auge“ verfasst hatte und damit auf Platz eins des „Seller-Tellers“ gelandet war, bestand die Liste in dem Hamburger Wochenblatt bis zum Jahr 1974 fort.

In thesenstarken Kapiteln interpretiert Magenau auf originelle Weise die Bestseller der vergangenen 70 Jahre als Seismographen für politische und kulturelle Entwicklungen der Bundesrepublik. Den Erfolg von Ephraim Kishon in den 1970er-Jahren etwa wertet er als Beitrag zur deutsch-israelischen Aussöhnung und den Siegeszug des „Parfums“ von Patrick Süskind Mitte der 1980er-Jahre erklärt er mit einer von Ängsten erfüllten Gesellschaft, die im Roman eine Möglichkeit zu deren Bewältigung gefunden habe. Magenaus Diktum „Kein Bestseller ohne eine Stimmung, die ihn trägt“ (S. 41), deckt sich dabei mit aktuellen soziologischen Untersuchungen zur Buchproduktion.2

„Stalingrad“ von Theodor Plievier, wenige Monate nach Kriegsende 1945 im Aufbau-Verlag erschienen und rasch in mehr als einer halben Million Exemplaren verkauft3, führte den Besiegten – mit seiner drastischen Darstellung an Remarques „Im Westen nichts Neues“ erinnernd – die Sinnlosigkeit des verlorenen Krieges noch einmal vor Augen. Doch wenige Jahre später schienen sich die Deutschen einen weiten zeitlichen Abstand zur unmittelbaren Vergangenheit zu wünschen und machten das Buch „Goetter, Graeber und Gelehrte. Roman der Archaeologie“ zum Bestseller. Autor war der Rowohlt-Lektor Kurt W. Marek, der das Buch unter dem Pseudonym C.W. Ceram veröffentlichte, weil er sich davon abgrenzen wollte, dass er mit dem Landser-Roman „Wir hielten Narwik“ schon 1941 einen Bestseller gelandet hatte und danach in eine Propagandaeinheit der Wehrmacht eingezogen worden war.

Die thematische, nicht chronologische Gliederung von Magenaus Buch hat Vorteile für die inhaltliche Interpretation, aber Nachteile für die Lesbarkeit und zeitliche Orientierung innerhalb des Werkes. Zudem ist dem Autor die Sprache an einigen Stellen zu salopp geraten. Die schon im Untertitel angelegte „Wir“-Form, in der der gesamte Band verfasst ist, inkludiert die Leserin und den Leser in eine imaginierte Gruppe und stellt Magenaus individuelle Interpretationen als kollektive Erfahrung dar – als sei die (west-)deutsche Gesellschaft der Nachkriegsjahrzehnte weitgehend statisch geblieben. Schade und inhaltlich nicht plausibel ist es, dass Magenau die Beschäftigung mit der DDR mit dem lapidaren Hinweis ablehnt, dort habe kein freier Buchmarkt geherrscht. Autorinnen wie Christa Wolf tauchen deshalb nur sporadisch über den Umweg der bundesdeutschen Bestsellerlisten auf.

Magenau ist ein anregendes und unterhaltsames, allerdings kaum analytisches und wenig systematisches Werk gelungen, dessen wissenschaftlicher Wert trotz eines vor allem auf Sekundärliteratur basierenden Fußnotenapparates begrenzt ist. Dennoch lohnt sich die Lektüre – nicht zuletzt als Impuls zur Beschäftigung mit der Frage, warum in zwei Epochenjahren der Bundesrepublik, 1968 und 1989, im ersten Fall ausgerechnet Erich von Däniken mit „Erinnerungen an die Zukunft“ und im zweiten Fall gerade Franz Alt mit „Jesus – der erste neue Mann“ die Bestsellerlisten anführten.

In der historischen Rückschau der letzten Jahrzehnte konstatiert Magenau einen generellen Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften auf den Bestsellerlisten zugunsten der Naturwissenschaften, eine Abwendung „vom Primat der Geschichtsbetrachtung zur Naturorientierung“ (S. 83), von Eugen Kogons „SS-Staat“ 1946 zu Peter Wohllebens „Das geheime Leben der Bäume“ 2015 und Maja Lundes „Geschichte der Bienen“ 2018. Diese interessante These vermag allerdings nicht ganz zu überzeugen, wenn man sich etwa die Erfolge der Bücher von Daniel Goldhagen („Hitlers willige Vollstrecker“, 1996) und von Christopher Clark („Die Schlafwandler“, 2013) vor Augen führt.

Bestsellerlisten wurden und werden gerade von Geisteswissenschaftler/innen oft kritisch betrachtet, denn was der Masse gefällt – so das etwas fragwürdige Argument –, kann keine Qualität haben. Für den Buchmarkt zeigt Magenau jedoch, dass es Bestseller geben kann, die nicht nur kurzfristige Verkaufserfolge sind, sondern sich auch langfristig als literarische Klassiker etablieren, darunter die Werke von Gabriel García Márquez, Siegfried Lenz und Heinrich Böll. Selbst zum Bestseller geworden ist Jörg Magenaus Buch über Bestseller allerdings (noch) nicht.

Anmerkungen:
1 Jörg Magenau, Erich von Däniken. Was waren die Bestseller im Jahr 1968? Und was verraten sie uns über die damalige Zeit?, in: Der Freitag, 15.03.2018, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/erich-von-daeniken (22.05.2018).
2 Clayton Childress, Under the Cover. The Creation, Production, and Reception of a Novel, Princeton 2017. Siehe dazu die Besprechung von Carlos Spoerhase, Making of Gegenwartsliteratur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.11.2017, S. 12, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/wie-entsteht-eigentlich-ein-roman-15281796.html (22.05.2018), sowie Ekkehard Knörer, Fata, Libelli, in: Merkur 72 (2018), Heft 3, S. 57-66, https://www.merkur-zeitschrift.de/2018/02/20/fata-libelli-literaturkolumne/ (22.05.2018).
3 Für die Zahlen rekurriert Magenau auf Christian Adam, Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945, Berlin 2016. Siehe dazu die Rezension von Ute Schneider, in: H-Soz-Kult, 10.06.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25751 (22.05.2018).