Cover
Titel
Ethnographic Peace Research. Approaches and Tensions


Herausgeber
Millar, Gearoid
Reihe
Rethinking Peace an Thinking Studies
Erschienen
Basingstoke 2017: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
XIV, 285 S.
Preis
€ 146,99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Nils Zurawski, Institut für kriminologische Sozialforschung, Universität Hamburg

Der Sammelband Ethnographic Peace Research (EPR) wagt gleichzeitig den Versuch, Friedensforschung sowohl mit neuen Impulsen zu versorgen, als auch zu zeigen, dass der so vorgestellte Ansatz in sehr unterschiedlichen Kontexten nutzbar ist. Das ist ein insgesamt hoher Anspruch, der zum Teil erfüllt werden kann, zum Teil nicht klar sichtbar wird. Die Motivation für einen solchen Band liegt, wie der Herausgeber Gearoid Millar selbst schreibt, darin, dass Forscher bisher oft versagt haben, Konflikte adäquat zu analysieren, sie zu erklären und generell zu verstehen. Darüber hinaus sieht Millar ein Problem darin, dass Konfliktforscher bisher nur wenige nachhaltige Ansätze für einen Weg aus dem Konflikt hin zum Frieden aufgezeigt haben (S. 1). Mit dieser Kritik hängt der Anspruch hoch.

Der Band verfolgt daher das Ziel, das „Erleben von Konflikt und Frieden“ (S. 1) in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen. Die Ethnographie wird dabei als der zentrale Ansatz identifiziert, um den Fragen nach dem „Warum“, aber vor allem dem „Wie“ eines Konfliktes bzw. des Friedens näherzukommen. Dazu werden Grundprinzipien formuliert, die allesamt weder neu, noch überraschend sind – zumindest dann nicht, wenn man sich bereits vor diesem Band mit Ethnographie und ethnographischen Methoden befasst hat. Für eine schwerpunktmäßig politikwissenschaftlich orientierte Friedensforschung mag das anders aussehen, so suggeriert es jedenfalls der Sammelband. Zentral dabei ist die konsequent durchgehaltene Perspektive des „Lokalen“, also in der Forschung die Erfahrungen der lokalen Akteure als Dreh- und Angelpunkt zu nutzen.

Die deutlich formulierten Ziele eines solchermaßen fokussierten Ansatzes können durchaus anspruchsvoll genannt werden. Dazu gehören, dass EPR die Möglichkeiten schafft, um Konflikte auf verschiedenen Ebenen zu analysieren und zu verstehen; weiter, dass EPR hilft zu verstehen, wie sich Friedensprozesse auf lokale Gemeinschaften auswirken; was wiederum Möglichkeiten eröffnen soll, alternative Praktiken der Friedensschaffung zu finden; um letztlich lokalen Akteuren ganz praktisch in ihrer Arbeit helfen zu können (S. 2). Mit dem letzten Punkt will der Herausgeber ganz programmatisch EPR zu einem Werkzeug emanzipatorischer Forschung machen, durchaus im Sinne eines action research (S. 9f). Dieser sehr programmatische Start setzt den Rahmen für die insgesamt zehn Kapitel, die anhand von Fallstudien und einzelnen Forschungen die Rolle und Bedeutung von EPR illustrieren sollen.

Das wirklich Erfrischende an den zehn Kapiteln ist, dass sie ihre Aufgabe ernst nehmen und sehr unterschiedlich mit dem Thema EPR umgehen; das gilt für ihre theoretischen und methodologischen Interessen als auch für die Regionen, aus denen sie Beispiele bringen bzw. die als Grundlage ihrer Reflexionen dienen – u. a. französische Banlieues, den Molukken, Ost-Timor, Kanada oder Sierra Leone. Birgit Bräuchler wendet sich in ihrem Aufsatz noch einmal dem Ansatz selbst zu und kontextualisiert ihn theoretisch. Ihr Anliegen ist, EPR als Teil eines cultural turn zu verstehen. In diesem Sinne sieht sie vor allem die selbstverständliche Interdisziplinarität der EPR als entscheidenden Faktor für dessen Erfolg bzw. für seine Bedeutung an. Ich stimme zu, dass Interdisziplinarität wichtig ist, um anthropologisch auf einen Konflikt zu schauen; nur wird nicht ganz klar, was damit praktisch gemeint sein kann, jenseits von anthropologischer Praxis, die diese Ganzheitlichkeit ohnehin im Programm hat. Anhand ihres Beispielfalls, den Molukken, zeigt sie, wie EPR wirken und vor allem wie damit normative Ansprüche einer Mainstream-Friedensforschung entkräftet werden können.

Alle Beiträge liefern sehr gute und hoch interessante Einzelfälle, die zeigen, was man gewinnen kann, wenn man sich dem „Lokalen“ zuwendet, wenn man reflexiv an ein Thema und die Forschungsergebnisse herangeht und was das für eine Friedensforschung bedeutet. Ohne alle Beiträge hier im Einzelnen zu besprechen, möchte ich zwei hervorheben, die mir besonders gefallen haben. Zum einen den Beitrag über die Erfahrungen einer Ethnographie in den Pariser Banlieues von Luuk Sloter; zum anderen den Beitrag von Maren Tomforde über das Forschen in militärischen Zusammenhängen. Der letztere ist deshalb so interessant, weil gerade das Militär ein schwieriger Untersuchungsgegenstand ist, unter anderem was den Zugang angeht, und Forscher/innen sich nicht selten dem Vorwurf ausgesetzt sehen, sie seien bestellt, kontrolliert und würden unter Umständen nur Genehmes publizieren dürfen. Gerade daher sind Tomfordes Einlassungen wichtig, auch weil sie als Forscherin an einer Einrichtung der Bundeswehr in Deutschland beschäftigt ist. Ihre Feldforschung hat in Afghanistan stattgefunden, einem Land, in dem die Bundeswehr seit 18 Jahren aktiv ist und, so könnte man argumentieren, nicht in der Lage war, Frieden zu schaffen. Hinzufügen müsste man dann aber auch, dass es nicht unbedingt an der Bundeswehr lag, dieses nicht zu erreichen. Maren Tomfordes Untersuchung fokussiert auch hier im Sinne der EPR auf das Lokale und schafft, wie sie selbst sagt, ein neues Verständnis für die Lage der Soldaten, für ihre Wahrnehmung auf Frieden und Konflikte – eine Perspektive, die oft vergessen wird bzw. nicht durch sie selbst erzählt wird, sofern es um die Armee als Mittel der Politik geht, nicht um die Menschen darin.

Den Band beschließt der Herausgeber Gearoid Millar mit einer Reflexion der Beiträge im Lichte des Programms der EPR. Er fragt, welche konstruktiven Spannungen derartige interdisziplinäre Unternehmungen hervorbringen können. Eine dieser Spannungen besteht in der methodologischen Ausrichtung von Friedensforschung, genauer gesagt in ihrer qualitativen oder quantitativen Richtung. Das ist einigermaßen überraschend, da ich diesen Richtungsstreit ethnographisch für ausgestanden halte, während er in der Politikwissenschaft dem Autor zufolge aber noch besteht. Zentral in der Betrachtung der in der Einleitung vorgetragenen Aspekte von EPR ist die Hinwendung zum Lokalen, dem so genannten local turn. Es scheint, als stehen und fallen alle anderen Aspekte hiermit bzw. gruppieren sich um diesen Ansatz, z. B. wenn es um die nötigen Reflexionen der Forschung oder ihre möglicherweise emanzipatorischen Wirkungen geht. Das macht Millar in dem Abschlusskapitel noch einmal sehr deutlich.

Insgesamt handelt es sich bei dem Sammelband um eine interessante Lektüre, in der mit Blick auf eine politikwissenschaftliche und an Governance-Strukturen ausgerichtete Friedensforschung ein alternatives Programm entworfen wird. Für Anthropologen sind darin vor allem die empirischen Beispiele interessant, denn das Programm selbst ist hier eingeübte Praxis und oft einfach nur selbstverständlich. Für alle, die jedoch unzufrieden mit herkömmlichen Ansätzen oder auf der Suche nach neuer Inspiration sind, die wissen wollen, wie sich ein local turn empirisch und theoretisch-methodologisch in einem Programm umsetzen lässt, für die ist der Band eine Fundgrube von Ideen, Vorschlägen und Argumenten. Insofern wird das Anliegen deutlich – die Besonderheit und auch die Dringlichkeit einer ethnographisch orientierten Friedensforschung wird allerdings nur dann ersichtlich, wenn man bisher der Anthropologie und besonders der Ethnographie (die ja nicht auf diese beschränkt ist) eher fern stand oder diese nicht zum eigenen methodischen Werkzeugkoffer gehört haben. Insofern spricht der Titel wohl eher solche Forscher/innen an, die sich als Ethnographen Aspekten der Friedensforschung zuwenden wollen. Ich hoffe aber, dass auch andere Friedensforscher sich auf das Neue einlassen werden und somit eine Erweiterung des erkenntnistheoretischen und methodologischen Repertoires vornehmen wollen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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