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Titel
Stalin. Der Herr des Terrors


Autor(en)
Altrichter, Helmut
Reihe
Diktatoren des 20. Jahrhunderts
Erschienen
München 2018: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
352 S., 14 Abb.
Preis
€ 16,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fabian Thunemann, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Biographien gehen immer. Lebensbilder über Diktatoren natürlich noch besser. Die Reihe "Diktatoren des 20. Jahrhunderts" ist daher nicht nur naheliegend, sondern verspricht auch Absatz bei der historisch interessierten Leserschaft. Während bislang nur die vielbeachtete Biographie über Benito Mussolini von Hans Woller und der Band über Robert Mugabe von Christoph Marx zur Verfügung stand, liegt mit Helmut Altrichters Stalinbild nun der nächste Band der Reihe vor.

Schwerlich kann sich ein Biograph über genrespezifische Gepflogenheiten hinwegsetzen; den Rahmen der Erzählung markieren stets Wiege und Bahre. Auch Altrichter also macht seine Leser in elf Kapiteln mit den wesentlichen Stationen vertraut, spannt das politische Wirken Stalins auf zwischen Kindheit und Jugend in Gori und Tiflis und dem Tod des Diktators in Kunzewo. Dass Altrichter die historiographischen Eigenheiten der Biographik natürlich bewusst sind, wird gleich zu Beginn des außerordentlich gut lesbaren Textes deutlich. So unterstreicht er, dass sich „Der Herr des Terrors“ – so der Untertitel der Studie – keinesfalls psychopathologisch herleiten ließe, also letztlich die Aussagekraft früher Prägungen für das politische Wirken fragwürdig bleiben müsse (S. 8f.). Allerdings erfährt der Leser nur wenige Seiten später, dass die Kindheit „prägende Jahre“ gewesen seien für den „Schusterjungen, der trotz Schulbildung ein Underdog geblieben war, der die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung hasste, den Adel und die Bourgeoisie und ihre Helfer und Helfershelfer“ (S. 14). Eine Spannung, die nicht entschärft wird und wohl dem Genre geschuldet ist.

In den folgenden Kapiteln behandelt Altrichter Stalins Wirken im Untergrund und in der Verbannung, die Etablierung seiner Netzwerke und die Hinwendung zu Lenin, den er erstmals im Dezember 1905 im finnischen Tampere traf. Es geht um Stalins Rolle während der Unruhen 1905–1907, die unterschiedlichen revolutionären Gruppen der damaligen Zeit, einer Zeit zwischen utopischer Träumerei und Terrorismus; schließlich um Stalins Wirken während der Revolution 1917 und im anschließenden Bürgerkrieg. Gerade hier folgt Altrichter der etablierten Lesart, dass Stalin sich durch seine zupackende Art empfohlen habe: „Der war Realist durch und durch und nie ein Fundamentalist mit unaufgebbaren Glaubenssätzen und Überzeugungen gewesen, sondern immer »offen« für Fragen der Machtsicherung und des Machtausbaus“ (S. 97). Diese Deutung ist ebenso plausibel wie sie den Ruch wohl nie wird ganz loswerden werden können, womöglich selbst Ausdruck einer erfolgreichen Legendenbildung zu sein. Jedenfalls sollte Stalin später, als mit dem Kult um seine Person auch die ersten Stücke seiner Hagiographie zusammengesetzt wurden, selbst an eben genau dieser Typisierung mitwirken, weil er ein gutes Gespür für seine Stärken und Schwächen hatte und weil er wusste, dass er als Theoretiker einem Lenin, Trotzki oder Bucharin nicht das Wasser reichen konnte. Zumindest wird im ersten Drittel des Buches von Altrichter noch einmal mehr als deutlich, dass es nicht unbedingt die unmittelbar hervorstechendsten Charaktere sind, die sich historisch durchsetzen.

Die Vorderbühne betritt Stalin in den letzten zwei Dritteln des Buches. Altrichter beschreibt, mit wieviel Chaos die Partei in den Jahren von der Revolution bis zum Ende des Bürgerkriegs zu kämpfen hatte, und hebt das Organisationstalent Stalins hervor, das er als von Lenin 1922 ins Amt gehobener Leiter, als Generalsekretär des Zentralkomitees bewies. Danach führt Altrichter seine Leser mit angenehm unaufgeregtem Stil an den für eine Biographie unerlässlichen Stationen vorbei. Zunächst erzählt er von den Diadochenkämpfen nach Lenins Tod, während derer wunderbar zu erkennen ist, dass Stalin sich als eben der Realist mit Machtinstinkt erwies, den Altrichter bereits an früherer Stelle als so ausschlaggebend für Lenins Wertschätzung beschrieben hatte. Es folgen die Jahre des Ersten Fünfjahrplans, in denen Stalin das Dorf mit den Methoden des Bürgerkrieges unterwarf und Millionen Tote in Kauf nahm; danach die Jahre des Großen Terrors, die in der Forschung immer wieder als Enigma klassifiziert werden, sich allerdings trotz aller Zweifel als schierer Gewaltrausch zweifelsfrei festhalten lassen. Auch im Zweiten Weltkrieg beschritt Stalin bekannte Pfade: „die Wege der Propaganda, der Abschreckung, der Repression, der gewaltsamen Durchsetzung der Ziele ohne Rücksicht auf Verluste“ (S. 253). Als Stalin nach dem Krieg die Opfer des deutschen Angriffs und der Besatzung auf sieben Millionen bezifferte, vermied er wohl bewusst die Nennung einer deutlich höheren Zahl – nach heutigen Berechnungen spricht man von 27 Millionen toten sowjetischen Soldaten und Zivilisten –, da sie durchaus mit seiner erbarmungslosen Kriegsführung hätte in Verbindung gebracht werden können. Auf den letzten Seiten porträtiert Altrichter den alternden Diktator, der seine, die sowjetischen, Interessen in der Nachkriegsordnung durchzusetzen verstand und schließlich als sklerotischer Machtpolitiker – natürlich die Überlieferung mit dem drohenden Finger aufgreifend – auf seiner Datscha in Kunzewo verstarb.

Verfasser von Biographien werden sich bestimmt gern von dem bekannten Diktum von Ralph Waldo Emerson motivieren lassen, dass es keine Geschichte, sondern eigentlich nur Biographien gebe. So unbestreitbar, ja geradezu tautologisch ein solcher Hinweis erscheinen mag, so sehr bleibt die Biographik doch stets mit dem Graben konfrontiert, der sich zwischen einem letztlich biologisch determinierten Lebensabriss und einer umfassenderen Geschichte auftut. Daher fallen Biographien über historisch prägende Figuren selten durch steile Thesen oder die Wissenschaft wachrüttelnde Neuinterpretationen auf, sondern meist eher Nuancen, die seitens der Biographik für das Gesamtgefüge bedeutsam sind.1 Dem Autor ist daraus jedoch kein Vorwurf zu machen; er hat nichts anderes versprochen. Misst man also die Arbeit am selbstgesteckten Ziel, dann hat Altrichter eine gut lesbare Biographie für „eine breitere, historisch interessierte Leserschaft“ (S. 339) vorgelegt.

Mit Kritik am Verlag allerdings soll hier nicht gespart werden, da er seinem eigenen Autor aus Platzgründen die Fußnoten und einen entsprechenden Anmerkungsapparat versagte. Dabei hat nicht nur eine interessierte Leserschaft ein Recht darauf, ernst genommen und zumindest mit den basalen Standards wissenschaftlichen Arbeitens konfrontiert zu werden, sondern auch die Verlage selbst sollten sich ernst nehmen, wenn sie Bücher auf den Markt bringen, die sich eigenem Bekunden zufolge auf der Höhe der Forschung befinden, Thesen und Zitate dann aber nicht zu überprüfen sind.

Anmerkung:
1 Stephen Kotkin beispielsweise hat daher für seine Arbeit über Stalin eine Richtung eingeschlagen, die sich am ehesten als Verknüpfung von Biographik und Global Studies verstehen lässt. Vgl. Stephen Kotkin, Stalin. Volume I: Paradoxes of Power, 1878–1928 und Stalin. Volume II: Waiting for Hitler, 1929–1941, Penguin Press 2014/2017.

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