J. A. Miller: Turkish Guest Workers in Germany

Cover
Titel
Turkish Guest Workers in Germany. Hidden Lives and Contested Borders, 1960s to 1980s


Autor(en)
Miller, Jennifer A.
Reihe
German and European Studies 28
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 271 S.
Preis
$ 32.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Zeppenfeld, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Geschichte der Arbeitsmigration untersuchten deutschsprachige Historikerinnen und Historiker bisher oft im Hinblick auf politische und wirtschaftliche Strukturen; kultur- und alltagsgeschichtliche Aspekte wurden seltener in die Überlegungen einbezogen. Erst seit wenigen Jahren haben sich einschlägige Forschungsprojekte entwickelt, die den Fokus verschieben. Arbeiten zum Leben von Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik legen hingegen umso öfter anglo-amerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor1, so jüngst auch Jennifer A. Miller mit ihrer Studie „Turkish Guest Workers in Germany. Hidden Lives and Contested Borders, 1960s to 1980s“.

Zu Beginn führt Miller die beiden Aspekte ein, die sie in ihrer Arbeit miteinander verbinden möchte: zum einen die „hidden lives“ am Beispiel ihrer Protagonistin Elif, die 1964 als 20-jährige „Gastarbeiterin“ nach West-Berlin kam, sich dort schließlich dauerhaft niederließ und als Stellvertreterin für die Biografien ihrer Landsleute in der Bundesrepublik vorgestellt wird (S. 3–8); zum anderen die „contested borders“, die Geschichte des 20. Jahrhunderts als ein von Kriegen und (Post-)Kolonialismus geprägtes Zeitalter mit Grenzverschiebungen, Migration und Ausbeutung von Arbeitskräften durch zentraleuropäische Staaten. In der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg ergab sich daraus vor dem Hintergrund des Kalten Krieges letztlich das „Gastarbeiterregime“ (S. 9–21).

Miller stellt in ihrer Studie, deren frühere Version schon 2008 als Dissertation angenommen wurde2, die Perspektiven und Erfahrungen der Migrantinnen und Migranten aus der Türkei selbst in den Fokus (S. 24). Eine methodische Einführung sowie eine kritische Reflexion der Oral History als Zugang wären wünschenswert gewesen, ebenso eine genauere Beschreibung des thematischen Zuschnitts und eine stärkere Einbettung in die Forschungslandschaft. So beschreibt Miller in ihrer Einleitung etwa ausführlich das paradox anmutende kollegiale, teils freundschaftliche Verhältnis zwischen deutschen „Trümmerfrauen“ als Zeuginnen der NS-Zeit und neuankommenden ausländischen „Gastarbeiterinnen“ (S. 5ff., S. 141f.), verzichtet dabei aber gänzlich auf die Einbeziehung neuer und viel diskutierter Forschungsergebnisse.3

Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile: Im ersten Teil (Kapitel 1 bis 3) beleuchtet Miller die behördlichen Intentionen der Bundesrepublik und der Türkei anhand des Bewerbungsprozesses im Heimatland, die Reise in die Bundesrepublik sowie das Sozialleben in betrieblichen Wohnheimen. Im zweiten Teil (Kapitel 4 und 5) widmet sie sich der privaten Mobilität und den in mehrfacher Hinsicht grenzüberschreitenden Beziehungen türkeistämmiger Männer in Ost-Berlin sowie der Rolle von Arbeitsmigrantinnen und -migranten in westdeutschen Streiks der frühen 1970er-Jahre.

Im ersten Kapitel „The Invitation“ betont Miller, dass vor allem für Bewerber aus ländlichen anatolischen Gebieten bereits mit dem Weg zu den bundesdeutschen Anwerbestellen in Städten wie Istanbul oder Ankara das „Gastarbeiterwerden“ begann. Angesichts des langwierigen Bewerbungsverfahrens (S. 39, S. 43ff.) sei dieser erste Schritt zur Beschäftigung in der Bundesrepublik in die herkömmlichen Überlegungen zu den Anwerbeabkommen einzubeziehen. Miller stellt hier vor allem die medizinische Tauglichkeitsuntersuchung der Bewerber durch deutsche Ärzte und die damit verbundenen emotionalen Eindrücke verschiedener Zeitzeugen heraus.

Im zweiten Kapitel „In Transit“ beschreibt sie, wie die Arbeitsmigranten aus der Türkei per Zug nach München kamen.4 Die 48 Stunden lange Fahrt in überfüllten Abteilen war durch mangelhafte hygienische Zustände geprägt. Für die Autorin standen diese Zugfahrten zum einen in einer gewissen Tradition der Deportationszüge des „Dritten Reiches“ (S. 69ff.), zum anderen interpretiert sie solche Erfahrungen der Mobilität als elementar für die Transformation zum „Gastarbeiter“ (S. 73ff.). Die Argumente der ersten beiden Kapitel hätten mit einer theoretisch fundierten Diskussion der Kategorien Körper und Raum unter Umständen noch deutlicher herausgearbeitet werden können.

Das dritte Kapitel „Finding Homes“ widmet sich dem Ankommen und Leben in der Bundesrepublik. Miller beschreibt das Sozialleben in Wohnheimen, die von den Arbeitgebern zur Verfügung gestellt wurden, sowie die Interaktion zwischen Zugewanderten und Verwaltungspersonal. Etwas unklar bleibt in diesem Kontext Millers Interpretation zur Sichtbarkeit der Arbeitsmigranten. Zunächst argumentiert sie, die Unterbringung in betrieblich angebotenen Wohnheimen „kept workers out of public view“ (S. 82), während sie später das teilweise exzessive Ausgehverhalten vor allem von weiblichen Arbeitskräften beschreibt (S. 96ff.). Die individuelle Wohnungssuche der sich niederlassenden Arbeitsmigranten auf dem privaten Immobilienmarkt wird zum Abschluss des Kapitels nur angerissen.

Das vierte Kapitel „Contested Borders“ schildert auf Grundlage von Akten der DDR-Staatssicherheit das Mobilitätsverhalten männlicher Türkeistämmiger zwischen West- und Ost-Berlin zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung romantischer und sexueller Beziehungen mit Ost-Berliner Frauen – eine originelle Perspektive auf die Teilungsgeschichte Berlins. Miller beschreibt hier (leider ohne konkrete Belege) das vermeintliche Paradox, dass Arbeitsmigranten, die in der Bundesrepublik und in West-Berlin als „Easterners“ wahrgenommen wurden, ihre Attraktivität auf Frauen in Ost-Berlin über ihr als „westlich“ konnotiertes Auftreten generierten (S. 114). Für die Türkeistämmigen selbst, so Miller, eröffnete sich in Ost-Berlin „ironically, more privacy than could be found in West Germany, the true ‚host country’“ (S. 108). Dass die Grundlage dieser Ausführungen jedoch umfangreiche Überwachungsprotokolle bilden, die zum Teil von IMs gefertigte Fotos der Paare im Bett enthielten (S. 116), bleibt unreflektiert. Auch Millers abschließende These, dass Türken, die eine langfristige Beziehung in Ost-Berlin unterhielten, nach dem Anwerbestopp von 1973 häufiger als andere Landsleute in der Bundesrepublik bzw. in Berlin blieben (S. 134), lässt sich kaum empirisch nachweisen.

Im fünften Kapitel „Imperfect Solidarities“ untersucht die Autorin die Rolle von türkeistämmigen Arbeitsmigranten bei den zahlreichen Streiks zu Beginn der 1970er-Jahre – ausführlich anhand des Streiks beim Automobil-Zulieferer Pierburg in Neuss von 1973. Sie argumentiert, dass Erfolge, die gerade durch die Arbeitsniederlegung von Migranten erreicht wurden, Unterschiede zwischen Deutschen und „Gastarbeitern“ egalisiert hätten und Ausländer damit gar zu „German workers“ geworden seien (S. 136, S. 160). Angesichts der in den vorherigen Kapiteln betonten Repressionen gegenüber „Gastarbeitern“ in der Bundesrepublik wirkt dieses nun eingeführte Narrativ einer Art langen Geschichte des Ankommens recht überraschend.

Offen bleibt in der Studie der historiografische Konnex von staatlicher Planung und individueller Erfahrung. Miller stützt sich neben einigen türkischsprachigen Quellen (meist Zeitungsartikeln) vor allem auf zwei archivalische Korpora: Akten des Bundesarchivs und der Stasi-Unterlagenbehörde (BStU). Der Kontrast zwischen der politisch-administrativen, zeitgenössischen Überlieferung und der individuellen, retrospektiven Erzählung der Oral-History-Interviews wird nicht aufgelöst. So ist zu fragen, ob die in jedem Kapitel angeführten lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Protagonistin Elif und anderer nicht eher affirmative Anekdoten der größeren behördlichen Erzählperspektive bleiben. Nützlich gewesen wäre außerdem ein gelegentlicher kontrastiver Abgleich mit Biografien von Arbeitsmigranten anderer Herkunftsländer, um zu prüfen, ob die Geschichte der Migrantinnen und Migranten aus der Türkei als Beispiel oder Sonderfall zu verstehen ist.

Jennifer A. Miller hat ein ansprechend geschriebenes Buch über die erste Generation der westdeutschen „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“ aus der Türkei vorgelegt. Mit der Einbeziehung des Aufbruchs in der Heimat sowie der privaten Aufenthalte in Ost-Berlin wählt sie dabei einen innovativen Zugriff auf die bundesrepublikanische Migrationsgeschichte. Angesichts des breit gestreuten Themenspektrums ihrer fünf Hauptkapitel, die jeweils nur rund 25 bis 30 Seiten umfassen (und deren sehr kurze Titel für die erste Orientierung wenig hilfreich sind), wären dezidiertere Erläuterungen und Belege zu den teils ungewöhnlichen Interpretationen sowie die stärkere Einbeziehung der relevanten Literatur wünschenswert gewesen.5 Im Hinblick auf den gewählten Buchtitel, der eine Geschichte von türkischen „hidden lives“ im Deutschland der 1960er- bis 1980er-Jahre ankündigt, ist einzuwenden, dass die ersten beiden Kapitel – der Logik von Argumentation und Aufbau folgend – (noch) nicht in Deutschland spielen; ein weiteres widmet sich dem Sonderfall von Ausflügen nach Ost-Berlin. Nur dort wirft Miller außerdem vereinzelte Schlaglichter in die 1980er-Jahre. In den übrigen Kapiteln hingegen reichen ihre Darstellungen kaum über das Jahr 1973 hinaus, das auch den zeitlichen Endpunkt der Dissertation markierte. Der Buchtitel erscheint so zu breit angelegt. Millers Anspruch, „to fundamentally shift the history of the guest worker program“ (S. 27), wirkt damit etwas überzogen. Als schlankes Überblickswerk zu vielfältigen Aspekten der Entstehung türkischer „Gastarbeit“ eignet sich das Buch dennoch; es bietet auch einige interessante Impulse, die vertieft werden sollten.

Anmerkungen:
1 Jetzt z. B. Sarah Thomsen Vierra, Turkish Germans in the Federal Republic of Germany. Immigration, Space, and Belonging, 1961–1990, Cambridge 2018.
2 Volltext unter https://rucore.libraries.rutgers.edu/rutgers-lib/24727/PDF/1/play/ (12.12.2018).
3 Leonie Treber, Mythos Trümmerfrauen. Von der Trümmerbeseitigung in der Kriegs- und Nachkriegszeit und der Entstehung eines deutschen Erinnerungsortes, Essen 2014; rezensiert von Stephan Scholz, in: H-Soz-Kult, 27.11.2014, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22991 (12.12.2018).
4 Siehe generell auch Bettina Severin-Barboutie, Multiple Deutungen und Funktionen. Die organisierte Reise ausländischer Arbeitskräfte in die Bundesrepublik (1950er –1970er Jahre), in: Geschichte und Gesellschaft 44 (2018), S. 223–249.
5 Beispielhaft hier Georg Herbstritt, „Gastarbeiter“ beim MfS. West-IM nichtdeutscher Herkunft, in: Deutschland Archiv 37 (2004), S. 79–89; Felix Heinrichs, „Ihr Kampf ist unser Kampf“. Der Pierburg-Streik im Jahr 1973, in: Novaesium 2013, S. 99–119.