I. Scheurmann: Konturen und Konjunkturen der Denkmalpflege

Cover
Titel
Konturen und Konjunkturen der Denkmalpflege. Zum Umgang mit baulichen Relikten der Vergangenheit


Autor(en)
Scheurmann, Ingrid
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
504 S., ca. 200 SW- und Farb-Abb.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Saupe, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Ingrid Scheurmann, seit mehr als zwei Jahrzehnten für die Deutsche Stiftung Denkmalschutz tätig und seit 2013 zugleich Honorarprofessorin an der Technischen Universität Dortmund, widmet sich in ihrem Buch „Konturen und Konjunkturen der Denkmalpflege“ zentralen Debatten dieser Disziplin seit dem frühen 19. Jahrhundert. Versammelt sind neben neuen auch einige wiederveröffentlichte Aufsätze, dazu Interviews und reichhaltiges Bildmaterial. Aus Scheurmanns „Collage“ (S. 13), die sich gegen allzu eindeutige Narrative der Fachgeschichte wenden will, ergibt sich eine problemorientierte Geschichte des Denkmalpflege-Diskurses, die teils häufiger, teils weniger rezipierte Debatten und Theorien beleuchtet und dabei zugleich Lücken in Kauf nehmen will.

Den Schwerpunkt bilden deutschsprachige Diskussionen, doch werden zugleich transnationale Bezüge herausgestellt – etwa in Bezug auf den internationalen Diskurs der Denkmalpflege um 1900, im Hinblick auf die Kriegsdenkmalpflege während des Ersten Weltkriegs, bei der Diskussion der Denkmalwürdigkeit von Bauten der Nachkriegsmoderne bis hin zur (künftigen) Denkmalfähigkeit von Smart Cities. Neben der historischen Einordnung geht es also um eine aktuelle Positionsbestimmung der Denkmalpflege, die sich zunehmend inter- und transdisziplinär versteht und sich gegenüber den Ansprüchen der Zivilgesellschaft weiter öffnen muss. Dabei hat sie mit der Pluralisierung von Geschichtsbildern und Geschichtsinteressen zu kämpfen, denen die Denkmalpflege seit den 1970er-Jahren mit einer vielfachen Erweiterung des ehedem bildungsbürgerlich und national konnotierten Denkmalbegriffs begegnet ist. In der gleichen Zeit hat sich auch die Zahl der in Deutschland gelisteten Denkmale mehr als versiebzigfacht: Rund eine Million Denkmale zählte 2018 das Statistische Bundesamt und 36.000 Personen waren 2016 mit denkmalpflegerischen Aufgaben beschäftigt.1

Einen wesentlichen Kern des Buchs machen die titelgebenden „Konjunkturen“ der Denkmalpflege aus, die Scheurmann der Disziplingeschichtsschreibung folgend nach den Anfängen zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie den Arbeiten Eugène Viollet-le-Ducs und John Ruskins besonders um 1900 im Zuge des Heidelberger Schlossstreits, 1975 mit dem Europäischen Denkmalschutzjahr und um 1990 in der Auseinandersetzung über eine „postmoderne Denkmalkultur“ sieht. Die Autorin versteht es, die Zentralität der Debatten zu relativieren, wenn sie das Augenmerk auf eine sich an Symbolbauten orientierende Denkmalpflege im Ersten Weltkrieg oder auf den Umgang mit den Bauten der Nachkriegsmoderne richtet. Gerade die als anästhetisch und „unwirtlich“ (Alexander Mitscherlich 1965) wahrgenommene Nachkriegsmoderne war als Kontrast grundlegend für die Wiederentdeckung von Altstädten und Gründerzeitvierteln in den 1970er- Jahren, ein Horizont, der für den Umgang mit der DDR-Architektur oder mit dem „Brutalismus“ bis heute prägend ist. Dass die Bauten der Nachkriegsmoderne überhaupt als denkmalwürdig anerkannt werden, dafür ist eine der modernen Architektur und Stadtplanung gegenüber kritisch aufgeschlossene Denkmalpflege geradezu notwendig, wie Scheurmann zeigt. Denn sie darf sich nicht bildorientiert an einem historisch äußerst variablen Geschmack des Schönen orientieren oder allein auf den „Alterswert“ (Alois Riegl 1903) setzen, sondern muss die Relevanz des Erhalts auf vielfache Weise für die und in der Gesellschaft begründen: weiterhin durch die Bestimmung eines architekturgeschichtlichen Kunstwerts, insbesondere aber durch die Reflexion des historischen Werts und der Relevanz des Bauerbes für eine sich stets wandelnde Gesellschaft mit unterschiedlichen sozialen Gruppen und Schichten, um letztlich „ein differenziertes Bild des Gestern und Heute zu bewahren – und besser – zu vermitteln“ (S. 335).

Für die Denkmalpflege bleibt die historische Substanz die Ausgangsbasis allen Tuns: Sie ist als „Authentifizierungsinstanz“ (S. 411) gefordert, und zwar indem sie auf die Bewahrung, die Analyse und den Stellenwert des materiell Überlieferten abhebt (S. 407). Dabei muss die bei Scheurmann noch durchscheinende Berufung auf die historische Originalsubstanz freilich mit einigen Paradoxa leben, denn wo ist das Alte nicht schon durch konservierende und restaurierende Maßnahmen oder einfach durch den Gang der Zeit verändert und überformt? Gerade in ihrer Auseinandersetzung mit dem Topos des Authentischen, der ja oft genug allein die Sehnsucht nach einer vermeintlich besseren Vergangenheit ausdrückt, greift Scheurmann die Frage auf, wie sich die Denkmalpflege zur Welle der Rekonstruktionen und historisierenden Neubauten – insbesondere der Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer – verhalten soll. Kritisiert worden ist diese neue und zugleich alte2 Lust an der Rekonstruktion in zahlreichen Debattenbeiträgen; von „Trugbildern“ und „Scheinaltertümern“ (Georg Dehio) bis zu „Attrappen“ und „unterkomplexen Simulationen“ (Michael Falser) wurde gesprochen.

Ähnlich wie Winfried Nerdinger weist Ingrid Scheurmann, die als Denkmalpflegerin freilich der Komplettrekonstruktion historischer Stadtbilder oder Bauten wenig abgewinnen kann, in der Geschichte des Konservierens nun Konjunkturen eines Rekonstruktionsbedürfnisses nach, das es vor dem Hintergrund der Vorstellung eines idealen „Schauwerts“ nicht allzu schwer hat, vervollständigende und ergänzende bis hin zu Komplett-Rekonstruktionen zu befördern. Während die Bewahrer der überlieferten Originalsubstanz und Rekonstruktionsgegner in teils ungeahnten Allianzen mit dem aus heutiger Sicht nationalkonservativen Dehio (1850–1932) argumentieren, können die Rekonstruktionsbefürworter ebenso auf zahlreiche prominente Beispiel-Bauten verweisen, etwa den nach Originalplänen im 19. Jahrhundert vollendeten Kölner Dom (S. 404). Die beiden populären, in Gänze niemals zu verwirklichenden Optionen, nämlich das weitgehende Bewahren des Vorgefundenen einerseits sowie andererseits der Wunsch, alles möge wieder entstehen, wie es einmal war (und zwar selbst dann, wenn kaum etwas die Zeitläufe überstanden hat), spielen in der Diskussion um den Erhalt verschiedener Zeitschichten immer wieder eine Rolle. Da bei Komplett-Rekonstruktionen der Denkmalschutz eigentlich keine Rolle spielt, können sich hier die Fachleute nur einbringen, um für den Erhalt multipler, politisch und gesellschaftlich bedeutsamer und disparater Zeitschichten im Stadtraum zu plädieren.

Scheurmann beklagt insgesamt eine zunehmende „Verunklarung des Denkmalbegriffs“ aufgrund seiner zahlreichen Erweiterungen, eine „Aufweichung des Authentizitätsbegriffs“, den „Verlust eines verbindlichen Wertfundaments“ (S. 261), die „Vermeidung von Grundsatzdiskussionen“ in der Denkmalpflege (S. 411), schließlich eine fehlende Selbsthistorisierung der Disziplin, besonders im Hinblick auf ihre eigene Rolle über die Systemwechsel hinweg. Kann aber, wie die Autorin vorschlägt, der „Denkmalisierung der Landschaft“ (Willibald Sauerländer) und der attestierten Krise der Denkmalpflege mit einer Rezeption der Debatten um Erinnerungskultur, mit dem Einbezug der Transkulturalitäts- und der Partizipationsforschung (S. 261) entgegengearbeitet werden? Diese Fragen bleiben letztlich offen.

Zum Schluss beleuchtet Scheurmann die Frage, wie die Denkmalpflege sich gegenüber den Heritage Studies und den von ihnen modifizierten Kulturerbe-Konzepten behaupten kann. Der meist institutionenkritische Heritage-Ansatz, der in seinen zahlreichen Formen heute sozialkonstruktivistisch davon ausgeht, dass jede Kulturerbe-Tradierung eine Aneignungspraxis darstellt, und programmatisch fordert, dass die Bewahrung des Kulturerbes nicht allein eine Aufgabe von Nationalstaaten sei, sondern seine gesellschaftliche Stütze in der Beteiligung zunehmend ausdifferenzierter, transkultureller und transnationaler Communities finden solle, ist dabei für die staatlich institutionalisierte Denkmalpflege in Deutschland eine Herausforderung – selbst dann, wenn sie seit geraumer Zeit auf eine breitere gesellschaftliche Teilhabe zielt. Gibt es also statt eines postmodernen Denkmal-Kultus heute einen „nachmodernen Heritage-Kultus“, einen Übergang von einem „substanzbasierten zu einem identitätsorientierten Erbekonzept“ (S. 470)? Die Fragen erscheinen nach der Lektüre als zu breit und zu eng zugleich, als dass sie sich schlüssig beantworten ließen: Um materielle Ankerpunkte für Identität, wenn man diesen Begriff überhaupt nutzen möchte, ging es der Denkmalpflege stets – zunächst um nationale und heimatgebundene, später um sozial diversifizierte und heute zunehmend transkulturelle bzw. postmigrantische Identitäten. Die Herausforderung, der sich die Denkmalpflege gerade bei diesem letzten Punkt stellen muss, ist die Entdeckung und Ausweisung transkultureller Bezüge, die vormals oft allein aus nationalen und regionalen Perspektiven gedeutet wurden (S. 59–67).

Dass die Denkmalpflege eine eminent politische Angelegenheit darstellt, ist von anderen Forschern stärker hervorgehoben worden, etwa wenn die in der Disziplin heute zentralen Begriffe wie Authentizität und Identität als Instrumente eines politischen und nationalen Diskurses dechiffriert wurden oder aber angesichts des „Denkmalwahns“ der Deutschen entnervt gefordert wurde, zu „denken“ statt zu „denkmalen“.3 Ihre „Collage“ bietet Ingrid Scheurmann den Vorteil, Schwerpunkte setzen und Lücken sichtbar machen zu können. Einige seien aus Sicht des Rezensenten benannt: So hätte man im Anschluss an die Ausführungen zur Kriegsdenkmalpflege und zum Wirken des rheinischen Provinzialkonservators Paul Clemen (1866–1947) gern näher erfahren, wie dieser Ansatz, der sich notgedrungen und willfährig zugleich dem Schutz von Symboldenkmälern verschrieben hatte, im weiteren Verlauf des 20. Jahrhundert fortwirkte, bis dieses Konzept bei Scheurmann selbst anhand des Syrienkriegs kritisch diskutiert wird. Kann es etwa unter der Hand als Vorläufer von Welterbe-Auszeichnungspraxen und ihren Unique Selling Points gelten – und wie gestaltete sich die Kriegsdenkmalpflege im Zweiten Weltkrieg?4 Zudem hätte man, geht es doch am Rande auch um die Rekonstruktion ostdeutscher Innenstädte nach dem Fall der Mauer, gern etwas mehr über die Relevanz der Denkmalpflege in der DDR erfahren. Und angesichts der im Buch verdeutlichten Herausforderungen für die Denkmalpflege durch moderne, oft wenig langlebige Baustoffe fragt man sich, ob nicht auch die Praxis, also der konkrete Umgang mit dem Materiellen in einer Geschichte der Denkmalpflege heute eine größere Rolle spielen müsste. Das Buch regt insofern zum Nachfragen, Nachdenken und Weiterforschen an.

Anmerkungen:
1 Siehe BKULT. Debatten zur Baukultur, 02.04.2013, http://bkult.de/de_DE/773.brauchen_wir_weniger_denkmalschutz (18.12.2018), und https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2018/06/PD18_208_216.html (18.12.2018).
2 Winfried Nerdinger (Hrsg.), Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte, München 2010 (Begleitband zur Ausstellung des Architekturmuseums der Technischen Universität München in der Pinakothek der Moderne, 22. Juli bis 31. Oktober 2010). Siehe auch die Ausstellungsrezension von Rudolf Fischer, in: H-Soz-Kult, 23.10.2010, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-141 (18.12.2018).
3 Michael S. Falser, Zwischen Identität und Authentizität. Zur politischen Geschichte der Denkmalpflege in Deutschland, Dresden 2008; Winfried Speitkamp, Die Verwaltung der Geschichte. Denkmalpflege und Staat in Deutschland, 1871–1933, Göttingen 1996; Wolfgang Wippermann, Denken statt denkmalen. Gegen den Denkmalwahn der Deutschen, Berlin 2010.
4 Siehe dazu etwa Sandra Schlicht, Krieg und Denkmalpflege. Deutschland und Frankreich im Zweiten Weltkrieg, Schwerin 2007.