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Titel
Wo stehen unsere Truppen?. NVA und Bundeswehr in der ČSSR-Krise 1968


Autor(en)
Wenzke, Rüdiger
Reihe
Militärgeschichte der DDR 26
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 595 S., 275 SW- und 7 farb. Abb.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Hilger, Deutsches Historisches Institut Moskau

Der Autor hat sich Jahrzehnte intensiv mit der Geschichte der Nationalen Volksarmee (NVA) und insbesondere auch mit ihrer Rolle während des so genannten Prager Frühlings befasst. Hierbei konnte er nicht nur in akribischer Feinarbeit nachweisen, dass nennenswerte ostdeutsche Verbände 1968 nicht mit in die Tschechoslowakei einmarschierten. Darüber hinaus erweiterten die Arbeiten Wenzkes unsere Kenntnisse über Perzeptionen der Krise durch Soldaten der NVA.1 Mit der vorliegenden Arbeit fasst der Autor nun seine und andere neuere Forschungsergebnisse zur militärischen Intervention zusammen (S. 8). Somit kommen hier auch Quellen anderer osteuropäischer Teilnehmer zum Tragen. Das Literaturverzeichnis weist ebenfalls einige Titel aus Osteuropa aus, daneben im Übrigen fast durchweg deutschsprachige und so gut wie keine weiteren anderssprachlichen Arbeiten.2 Demgegenüber erweitert der Verfasser die Perspektive zusätzlich, indem er die militärischen Aktivitäten und Debatten gerade der Bundeswehr einbezieht. Die im zweiten Hauptteil des Buchs präsentierten Dokumente fokussieren dabei ganz auf die feindlichen deutschen Brüder. Sie werden in der voluminösen Einleitung von knapp 200 Seiten mitverarbeitet, so dass die fehlende Kommentierung der Archivalien kein Manko darstellt.

Mit dieser Anlage lässt sich mithilfe des Bands das deutsch-deutsche Missverhältnis der 1960er-Jahre anhand des Geschehens von 1968 durchdeklinieren. Tatsächlich war man beispielsweise in Bonn bemüht, die angebliche Teilnahme der NVA am Einmarsch gebührend negativ herauszustellen. Auf der anderen Seite interpretierte der ostdeutsche Minister für nationale Verteidigung, Armeegeneral Heinz Hoffmann, die Bonner „politischen Aktionen gegenüber der CSSR“ vor dem 20. August als Versuch, „über Prag in Polen und in die DDR einzudringen“ (S. 361). Für das Gesamtgeschehen waren Bonner und Ostberliner Befindlichkeiten jedoch eher zweitrangig. Die NVA marschierte nicht mit, und das obwohl die politische und militärische Führung der DDR mit einer aktiven Beteiligung ihren Bündniswert demonstrieren und steigern wollte. Offenbar verzichtete Moskau auf Drängen der pro-sowjetischen Kräfte in Prag auf eine massive ostdeutsche Beteiligung vor Ort. Derweil war man sich in der Bundesrepublik wohl bewusst, dass in derartigen Krisensituationen des Kalten Kriegs international relevante Entscheidungen in der NATO und vor allem in Washington getroffen wurden.

Daneben werfen die Dokumente immer wieder interessante Schlaglichter auf die Intervention. Sie zeigen beispielsweise für die DDR erneut Kritik innerhalb der NVA am Einmarsch auf. Diese speiste sich nicht zuletzt aus der Befürchtung, dass die Krise zu einem großen Krieg eskalieren könnte. Hinsichtlich der Bonner militärischen Beobachter wird deutlich, wie fragil zumindest zu Beginn der Informationsstand war. Die erste Meldung vom 21. August frühmorgens berief sich auf dpa-Berichte. Im weiteren Verlauf gingen dann Erkenntnisse und Bewertungen des bundesdeutschen Nachrichtendienstes, des Bundesinnenministeriums und des Militärs immer wieder auseinander (S. 403, 414, 477). Dabei mussten sich alle westlichen Militärstäbe eingestehen, dass dem Ostblock im Ernstfall auch gegen die NATO eine „taktische Überraschung“ gelingen würde (S. 450). Derartige zeitgenössische Einschätzungen und Meldungen über militärische Bereitschaft, Ausrüstung und Leistungsvermögen in Ost und West, die der Verfasser im Detail zusammenträgt, erlauben eine kritische Analyse der militärischen Kapazitäten im Kalten Krieg, die für zukünftige Diskussionen von Bedrohungsvorstellungen, Planspielen und generell militärischen Dimensionen wichtige Grundlagen an die Hand gibt. Immerhin war der NATO und Bonn im Grunde von Anfang an klar, dass die gewaltige Militärmacht des Warschauer Pakts im August 1968 nicht auf den Westen zielte. Europa befand sich zu diesem Zeitpunkt keineswegs am „Rand eines „heißen“ Krieges“ (S. 1, dagegen S. 7f.). Unsicherer waren indes die unmittelbaren Perspektiven für Jugoslawien und vor allem für Rumänien. Auch hier erwiesen sich westliche Ängste letztlich als unbegründet.3

Die vorliegende Darstellung selbst konzentriert sich indes vor allem auf „genuin militärische“ Aspekte und liefert damit eine sicherlich grundsolide, doch sehr traditionelle, faktenorientierte militärgeschichtliche Beschreibung (S. 3, 9). Sie setzt mit der Aufschlüsselung der Manöver und Übungen der späteren Interventionsmächte ein. Im Nachhinein erwiesen sie sich als nahezu perfekte Vorbereitung auf die Intervention. Ihre Kombination erlaubte es, Militär zusammenzuziehen, es adäquat vorzubereiten und genaue Kenntnisse der Verhältnisse vor Ort zu erlangen. Die militärischen Maßnahmen liefen aber keineswegs zwangsläufig auf eine Intervention hinaus. Hier misst der Autor den Aktivitäten der sowjetischen Armee in der komplexen Moskauer Entscheidungsfindung in Moskau in meinen Augen zu viel Eigengewicht bei (S. 57f.).

Die weitere Darstellung widmet sich ausführlich der Rolle der NVA in der sogenannten Operation ‚Donau‘. Hier belegt Wenzke erneut ausführlich einerseits die aktive Unterstützung des Gesamtunternehmens, andererseits die fehlende Präsenz ostdeutscher Großkontingente jenseits der eigenen Grenze. Daneben beschreibt der Autor die Aufgaben und Maßnahmen der anderen verbündeten Armeen in der Tschechoslovakei. Anschließend referiert der Autor die westliche Reaktion, wobei die Lagebeurteilungen sowie die sehr zurückhaltenden direkten Maßnahmen der Bundeswehr im Rahmen der NATO im Vordergrund stehen. Eine abschließende Synopse „militärisch und militärpolitisch relevanter Ereignisse und Handlungen“ vom 20. August bis zum 21. Oktober 1968 rundet das Bild ab (S. 195-228). Sie illustriert ganz nebenbei auch noch einmal den engen Zugriff des Autors, wenn es etwa unter dem 23. September heißt: „10.34 [Uhr]. Der Oberkommandierende der Vereinten Streitkräfte, Marschall Jakubovskij, landet in Marxwalde. 16.00 [Uhr]. Ulbricht, Honecker und Armeegeneral Hoffmann empfangen Marschall Jakubovskij in Ost-Berlin.“ (S. 226)

Die Gesamtbilanz der Lektüre muss daher ambivalent ausfallen: Der detaillierten Grundlagenforschung steht eine recht begrenzte Reichweite der reduzierten Gesamtanalyse gegenüber. Im Ganzen bietet der Band neben einer faktenreichen, in Teilen nahezu minutiösen Beschreibung der militärischen Intervention Informationen für Untersuchungen, die die engen Grenzen dieser hier praktizierten Betrachtungsweise sprengen müssen.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Rüdiger Wenzke, Die NVA und der Prager Frühling 1968. Die Rolle Ulbrichts und der DDR-Streitkräfte bei der Niederschlagung der tschechoslowakischen Reformbewegung, Berlin 1995; ders., NVA-Soldaten und der Prager Frühling, in: Wolfram Wette (Hrsg.), Der Krieg des kleines Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992, S. 363–378.
2 Zu denken wäre für die internationale Perspektivierung u.a. an Jeremi Suri, Power and Protest. Global Revolution and the Rise of Detente, Cambridge 2003. Im engeren Kontext Karen Dawisha, The Kremlin and the Prague Spring, Berkeley 1984, sowie Mihai Retegan, In the shadow of the Prague Spring. Romanian foreign policy and the crisis in Czechoslovakia, 1968, Oxford 2000.
3 Vgl. Lagebüro beim Präsidenten des BND, Aufzeichnung über die politische und militärische Lagebeurteilung durch „Fleurop“-Partner, 2. bis 4. September 1968, in: Andreas Hilger / Armin Müller, „Das ist kein Gerücht, sondern echt.“ Der BND und der ‚Prager Frühling‘, Marburg 2014, S. 150f.

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