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Titel
Voluntas auditorum. Forensische Rollenbilder und emotionale Performanzen in den spätrepublikanischen quaestiones


Autor(en)
Criste, Cristian
Reihe
Kalliope 15
Erschienen
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Günther, Institute for the History of Ancient Civilizations (IHAC), Northeast Normal University Changchun, China

Dies Buch ist eine wichtige Studie. Denn das Problem der Verankerung der überlieferten römischen Gerichtsreden der Späten Republik – und damit sind vor allem diejenigen Ciceros als direkt auf uns gekommene gemeint – im wirklichen Leben hat die Forschung schon in mannigfacher Hinsicht beschäftigt. Fragen nach dem Verhältnis von schriftlicher und nicht erhaltener mündlicher Fassung, nach rhetorischen Topoi oder realistischen Darstellungen der Gerichtsredner, nach dem Wert von Fakten gegenüber dem sozialen Status der Prozessparteien und deren Fürsprechern oder nach gerechten, offenen oder von vorneherein feststehenden Entscheidungen haben Generationen von Wissenschaftlern umgetrieben und zu keinem einhelligen Urteil geführt. Cristes Münchener Dissertationsschrift nimmt diese Probleme auf Grundlage theoretischer Modellbildung sowie durch Austesten seiner daraus entwickelten Ansätze an einzelnen Gerichtsreden Ciceros in den Blick.

Fulminant startet er dabei in seiner Einleitung (S. 11–48) mit der Beobachtung, dass die Perspektive des Hörers, dessen Einsichten, Emotionen und Erwartungen eine wichtige Rolle im Geflecht zwischen Rednern, Prozessgegnern, Richtern und Publikum wie dem entsprechenden Setting gespielt hätten. Er enttarnt damit Gerichtsreden als dynamische Kommunikationsprozesse, die an bestimmte Rollenerwartungen und -erfüllungen aufgrund gesellschaftlicher Normen, Werte und Traditionen gebunden gewesen seien. Obschon man das Verhältnis zwischen derlei institutionellen Rahmen und dadurch geprägten Personen – ein Ansatz, der letztlich auch von der Neuen Institutionenökonomie auf wirtschaftliche Sachverhalte angewandt wird – noch tiefergehender diskutieren könnte (man denke nur an unterschiedliche Grade der Übernahme solcher Ordnungsrahmen bei verschiedenen Personen bzw. Gruppen oder die Modifikation bis hin zur Brechung von derlei Erwartungsrahmen durch den Redner1), schafft sich Criste dadurch einen neuen und erfrischenden Zugang zu den Gerichtsreden, deren bisherige Erforschung er zudem präzise zusammenfasst. Konkret konzentriert er sich dabei hauptsächlich auf die Rollentypen und -interdependenzen zwischen Verteidiger und Ankläger (Teil 1) und dann in geringerem Maße auf den Einsatz wie die Wirkung von Emotionen in der Performanz der jeweiligen Rede bzw. des jeweiligen Redners (Teil 2).

Nach einem kurzen Gang in die sozio-kulturelle Welt der römischen Gerichte und insbesondere der „stehenden Gerichtshöfe“ (quaestiones perpetuae) der Späten Römischen Republik (S. 49–62), die eben nicht als von der Gesellschaft und deren Regularien abgesonderte, rein juristisch erfassbare Institutionen anzusprechen seien2, und einer zu Recht klaren Bejahung der Spiegelung der mündlich vorgetragenen Rede in der überlieferten Fassung (S. 62–69), macht Criste mit Recht auf die unterschiedliche Terminologie moderner wie antiker Normen und Rollenerwartungen aufmerksam. Er gibt dabei einen kurzen Einblick in die moderne Sozialforschung und in die antiken lateinischen Begrifflichkeiten wie mos, persona bzw. Wertvorstellungen wie honestum oder constantia (S. 72–81).

Sodann arbeitet er auf solider Quellengrundlage die verschiedenen Rollentypen, das Kernstück seiner Arbeit, heraus (S. 83–239). Er geht dabei sowohl auf die unterschiedlichen Motivationslagen zur Übernahme eines Verteidigungsmandats respektive der Anklage als auch auf die beiderseitigen Rollenanforderungen, besonders in Bezug auf Alter, Redegewandtheit und Einfluss (auctoritas) ein. Es gelingt ihm dabei, neben einer Vielzahl von Einzelbeobachtungen, das Bild eines beständigen und dynamischen Austarierens dieser Faktoren zwischen allen beteiligten Gruppen (Redner beider Seiten, Prozessparteien, Richter und Publikum) herauszustellen. Anstatt starre Kategorien und Verhaltensmuster anzunehmen, weist Criste vollkommen einsichtig auf das Konzept der ausgleichenden Gerechtigkeit (aequitas) hin, das es beispielsweise einem jüngeren Ankläger erlaubte, forscher und herausfordernder als einem schon fest in der soziopolitischen Elite verankterten patronus aufzutreten3, dessen auctoritas stets mit Zurückhaltung eingesetzt werden musste, sollte diese nicht als Überheblichkeit und Beschränkung der „Freiheit“ des anderen oder gar des gesamten populus Romanus zugunsten von Eigeninteressen erscheinen. Auch die Verschleierung rhetorischer Standardmuster oder die absolute Orientierung auf die eigentlich unangreifbare Richterautorität erklärt er schlüssig mit der auf Konsens ausgerichteten allgemeinen Erwartung nach aequitas, so dass – eine wichtige Schlussfolgerung – die Waffen zwischen beiden Parteien in der Regel etwa gleich verteilt worden seien. Tatsächlich habe eine Aufklärung der Wahrheit im Vordergrund gestanden, nur sekundär hätten moralisches Gebahren oder Netzwerke in Entscheidungen mit hineingespielt, da dies stets eine Störung der Balance bedeutet hätte.

Obwohl man gerade bezüglich letzterer These zur Vorsicht und allzu schneller Idealisierung angesichts der damals allgegenwärtigen Machtspiele auch im Gerichtsverfahren warnen muss, scheint dem Rezensenten besonders das Konzept der dynamischen Aushandlungskommunikation zur Übertragung auf andere Aspekte (nicht nur) der Gerichtsrhetorik geeignet: Es dürfte etwa die situationsbedingt anders akzentuierte Füllung von allein durch mos definierten Wertbegriffen ebenso erklären helfen wie das Operieren mit bestimmten anderen Rollenerwartungen, etwa das eines guten bzw. schlechten pater familias, um entweder die Position des eigenen Mandanten zu stärken oder des Gegners zu schwächen. Inwieweit und in welchen Situationen in dieser Argumentationssphäre dann noch auf aequitas seitens der Gerichtsredner geachtet worden ist, wäre eine lohnende weitergehende Forschungsfrage.

Im zweiten, kürzeren Teil beschäftigt er sich dann mit Emotionen vor Gericht (S. 243–355). Auch hier begibt sich Criste zunächst wieder tief in die antiken Konzeptionen wie modernen Theorien, bevor er sich des konkreten Einsatzes von Emotionen in der forensischen Praxis widmet. Dass emotionale Termini und Gesten wie Scham (pudor) oder die feinen Abstufungen von Furcht wie Angst (allen voran metus und timor) dabei bewusst eingesetzt wurden, um diese oder jene Rolle zu zeichnen, diese Emotionen also sozial „eingebettet“ waren, ist zwar nicht erstaunlich, fügt sich jedoch gut in das Gesamtbild einer Gerichtsrhetorik ein, die auf Gehör und Akzeptanz bei den Richtern respektive Zuhörern stoßen wollte und hierzu alle verfügbaren Mittel heranzog.

Die dichte und mit Fachtermini aus den Sozial- wie Kommunikationswissenschaften durchsetzte Arbeit, die dadurch eine hohe Lese- und Konzentrationsfähigkeit erfordert, kann auch gut über das Stellen- sowie Sachregister erschlossen werden (S. 383–399 und 400–404), etwa wenn man an der Kontextualisierung bestimmter sozialer Rollen in einzelnen Reden interessiert ist. In summa darf man dem Autor zu einer Arbeit gratulieren, welche der Forschung weit über rhetorische Studien zu Cicero hinaus Impulse zu geben vermag.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu das Modell des Rezensenten hinsichtlich der Analyse antiken ökonomischen Denkens, das nicht allein von der Außenperspektive arbeitet, sondern auch diese Innenverhältnisse beleuchtet: Sven Günther, Framing the Financial Thoughts of Aeneas Tacticus. New Approaches of Theory to Economic Discourses in Antiquity, in: Journal of Ancient Civilizations 29 (2014), S. 77–86; ders., (K)einer neuen Theorie wert? Neues zur Antiken Wirtschaftsgeschichte anhand Dig. 50,11,2 (Callist. 3 cognit.), in: Gymnasium 124 (2017), S. 131–144.
2 Vgl. dazu jetzt auch den Sammelband: Paul J. Du Plessis (ed.), Cicero’s Law. Rethinking Roman Law of the Late Republic, Edinburgh 2016.
3 Siehe zu den meist jüngeren Anklägern auch die soziopolitischen Erwägungen von Catherine Steel, Early Career Prosecutors. Forensic Activity and Senatorial Careers in the Late Republic, in: Paul J. Du Plessis (ed.), Cicero’s Law. Rethinking Roman Law of the Late Republic, Edinburgh 2016, S. 205–227.

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