T. Kühne: Das Netzwerk „Neu Beginnen“ und die Berliner SPD nach 1945

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Titel
Das Netzwerk „Neu Beginnen“ und die Berliner SPD nach 1945.


Autor(en)
Kühne, Tobias
Reihe
Berliner Beiträge zur Ideen- und Zeitgeschichte 2
Erschienen
Anzahl Seiten
504 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Bebnowski, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Nach einigen Jahren der Stille erlebt die Forschung zu den sozialistischen „Zwischengruppen“, die sich nach dem Bruch von Sozialdemokratie und Kommunismus während der 1920er-Jahre nicht vorbehaltlos einer der beiden politischen Hauptströmungen der Arbeiterbewegung anschließen wollten, eine kleine Konjunktur.1 Einer der wichtigsten und wohl einflussreichsten Zusammenschlüsse, der zudem die Zeit von Illegalität und Exil während des Nationalsozialismus überdauerte, war die 1929 gegründete Gruppe Neu Beginnen. Ursprünglich als Leninistische Organisation (Org) mit dem Ziel einer Zusammenführung von SPD und KPD gegründet, traten ihre Mitglieder in beide Parteien ein (nach 1945 auch in die SED). Nach dem Zweiten Weltkrieg besetzte diese Gruppe vor allem innerhalb der West-Berliner SPD wichtige Schaltstellen. Anders als es der leninistische Ursprung suggeriert, war Neu Beginnen in dieser Zeit jedoch stramm auf dem rechten Parteiflügel anzutreffen und befürwortete einen restriktiven Parteimodernisierungskurs. Das umschloss nicht nur eine vorbehaltlose Anerkennung der Westbindung, sondern einen harten Antikommunismus.

Diese erstaunlichen ideologischen Wandlungen nachzuzeichnen ist eines der Ziele des Historikers Tobias Kühne im hier rezensierten Buch, für das eine 2014 an der Technischen Universität Berlin eingereichte Dissertation die Vorlage bildet. Kühne ist nicht der einzige jüngere Historiker, der sich in den letzten Jahren mit Neu Beginnen auseinandergesetzt hat. Der inzwischen an der Yale University lehrende Terence Renaud widmete sich zunächst dem schillernden Karl B. Frank im New Yorker Exil und anschließend dem Ideentransfer zwischen der Organisation und der erstarkenden Neuen Linken nach dem Zweiten Weltkrieg.2 Zuletzt hat Scott Krause in einem Aufsatz und seiner mit dem Willy-Brandt-Preis für Zeitgeschichte prämierten Dissertation auf die im US-Exil entstandenen Verbindungen der Mitglieder von Neu Beginnen mit amerikanischen Entscheidungsträgern hingewiesen.3

Diese an US-amerikanischen Universitäten entstandenen Projekte werden deshalb etwas ausführlicher genannt, weil sie eine Kontrastfolie zu Kühnes Buch bilden. Bei ihm geht es in erster Linie um das Wirken der Gruppe innerhalb der Berliner Nachkriegs-SPD und lediglich am Rande um ihre internationale Vernetzung. Mehrfach hebt der Autor hervor, dass nur in Berlin und später in West-Berlin entscheidende Netzwerkstrukturen bestanden und genutzt werden konnten. Mit Blick auf Renaud betont Kühne denn auch die Ergänzung der Projekte bei nur wenigen Überschneidungen (S. 19).

Herausgekommen ist eine in sich schlüssige Abhandlung. Kühnes Stärke liegt in der metikulösen Nachzeichnung von Entwicklungspfaden und politischen Entscheidungen, die durch sein großes Wissen um das Wirken der Protagonisten überzeugt. Hierfür sorgt die Quellenarbeit des Autors unter Rückgriff auf viele, teilweise erstmalig erschlossene Nachlässe, früherer Mitglieder von Neu Beginnen. So sind zwei Kapitel den Lebensläufen und der generationellen Einordnung des Netzwerks gewidmet. Biographische Muster werden dabei in der Herkunft jüngerer Mitglieder aus der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) der Jahre 1922–1933 erkennbar; ältere entstammten tendenziell kommunistischen Milieus. Was die generationelle Verortung angeht, erläutert Kühne drei mögliche Ansätze. Neben der „skeptischen Generation“ und der „Generation Godesberg“ ist dies auch die am Beispiel des Nationalsozialismus gebildete „Generation des Unbedingten“, deren Übertragung auf das vorliegende Thema trotz Kontextualisierung diskussionsbedürftig ist.

Das Kernziel des Buches, den Einfluss von Neu Beginnen auf die Berliner Nachkriegs-SPD nachzuzeichnen, ist nicht nur wegen der konspirativen Haltung der Protagonisten schwierig zu erfüllen. Der Autor erklärt, dass ein Einfluss des Netzwerks Neu Beginnen auf die SPD ausschließlich in West-Berlin nachweisbar sei. Allerdings habe dieser keinesfalls einer Steuerung der Partei entsprochen (S. 45f.). Kühne gelingt es dennoch – als guter Kenner von Neu Beginnen und der Berliner Sozialdemokratie –, dieses kapillare Wirken in der Partei zu beschreiben. Es ist eine Leistung, die wichtigen Wandlungen und politischen Entscheidungsprozesse innerhalb der SPD vor diesem Hintergrund einzuordnen. Kühne stellt den Einfluss des Netzwerks als „Anflanschung“ an den bürokratischen Parteiapparat heraus (Kap. 9.4, dort auch in Anführungszeichen). Die Mitglieder von Neu Beginnen nahmen dabei stets Positionen in der Parteibürokratie ein, etwa Sekretärs- oder Geschäftsführerposten. Gerade hier ließ sich als klandestin operierendes Netzwerk ein beträchtlicher Einfluss auf die Partei entfalten. Souverän erklärt Kühne dabei auch das Paradox, dass das Netzwerk ausgerechnet auf dem Höhepunkt seiner Machtausdehnung zusammenbrach. Die „Entnetzung“ erklärt sich aus dem abnehmenden Außendruck: Nach der Klärung der Machtverhältnisse zugunsten der Parteirechten waren konspirative Parallelstrukturen nicht mehr nötig, tendenziell sogar hinderlich (S. 387). Das Netzwerk war den angesichts gewandelter politischer Koordinaten veränderten Anforderungen nicht gewachsen.

Der Einfluss der „Leute von Neu Beginnen“, so eine aus Harold Hurwitz' Forschungen übernommene Beschreibung, zeigt sich in allen zentralen Richtungsentscheiden der beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte. Der auch biographisch ähnlich geprägte Parteireformer Willy Brandt wurde von Neu Beginnen protegiert (Kap. 10). Verdiente Parteilinke wie Willy Kressmann oder der 20 Jahre jüngere Harry Ristock wurden unter Mithilfe von Neu Beginnen aus der Partei gedrängt – hier aber übernahm sich das Netzwerk bereits; Ristock gelangte rasch wieder in wichtige Parteiämter (Kap. 11). Auch der Beitrag des Netzwerks im Kampf gegen eine Fusion mit der SED, ein seltener Schulterschluss mit der Parteilinken um Franz Neumann, wird anhand der Debatten im fusionsbereiten West-Berliner Bezirk Neukölln geschildert (Kap. 9).

Kühne gelingt es, diese Entwicklungsprozesse auch sprachlich souverän abzubilden. Dabei agiert der Autor mitunter jedoch fast zu selbstbewusst. Ein Grund liegt wohl darin, dass Kühne gegen einen auch von den Mitgliedern des Netzwerks überhöhten Mythos anschreiben möchte. Der Eindruck, Spitzenpolitiker wie Ernst Reuter oder Otto Suhr hätten zu Neu Beginnen gehört, wird korrigiert. Das letzte Kapitel widmet der Autor sogar den Einflussversuchen des Netzwerks auf die Geschichtsschreibung (Kap. 12). Raum für Ambivalenzen lassen die mitunter apodiktisch vorgetragenen Schlüsse, denen hier und da eine dichtere Belegstruktur geholfen hätte, vor allem in den ersten Kapiteln wenig. So wirkt es mitunter, als ob die Diskussion für beendet erklärt werden solle – ein Beispiel: „Die Gruppe in London war also weniger ein Subnetzwerk als eine Ansammlung politisch isolierter Trabanten, die um die ‚Sonne‘ Walter Loewenheim kreisten.“ (S. 106)

Bei allen wichtigen Informationen, Korrekturen und gut nachvollziehbaren Schlüssen überzeugt Kühnes Narrativ gerade in der Frage, warum aus der Leninistischen Organisation ein „konsensliberales“ und „antikommunistisches“ Netzwerk des rechten SPD-Flügels wurde, nicht vollends. Dies liegt auch am methodischen Zugang über das Konzept des Netzwerks, der für den Untersuchungsort Berlin passt, darüber hinaus aber zu restriktiv wirkt. Das Netzwerk in Kühnes Sinne setzt große Kohäsionskräfte voraus. „Nicht ein einzelner dünner Strang machte jemanden zu einem Teil von Neu Beginnen, sondern die mehrfache Vernetzung und Anerkennung durch die Altvorderen.“ (S. 41) Auf diese Weise geraten vor allem im Exil entstandene persönliche Verbindungen aus dem Blick, und es entsteht ein mitunter zu binnenlogischer Erklärungsansatz. Scott Krauses einleuchtendes Argument, dass die Mitglieder von Neu Beginnen gerade durch die Zeit im Exil zu Einfluss gelangten, weil sie den amerikanischen Besatzungsbehörden und politischen Mittlern als unbelastet vom Nazismus galten, hat hier keinen Raum.4

Kühne präsentiert stattdessen eine etwas zu geradlinig wirkende Erzählung, in der Neu Beginnen als „charismatische Sekte“ den Ursprung bildet. Der Weber'sche Idealtypus scheint hier auch aufgrund der rigorosen Schulungstätigkeiten und des psychologischen „Knackens“ der Bewerber zu passen (Kühne spricht in Kap. 4 etwas leichtfertig von „therapeutischen“ Erzählungen und Diskursen). Dennoch wünschte man sich, zumal bei einem als Leninistische Organisation gestarteten Zusammenschluss, einen Vergleich etwa zu den Bolschewiki. Hinweise auf Schriften Lenins oder zumindest kurze ideologische Skizzen des Leninismus finden sich indes nicht. So stellt sich die Frage, ob das Wirken der Sekte Neu Beginnen nur manipulatorisch war oder eine konspirative Notwendigkeit, um Linientreue zu erzwingen. Dies freilich wäre nicht weniger stark zu kritisieren. Als Sekte hätten sich die Mitglieder an den konkurrierenden Gurus Walter Loewenheim und Richard Löwenthal orientiert und begierig auf deren Anweisungen aus dem Londoner Exil gewartet, um sich an diesen Vorgaben auszurichten. Die Wende „der Löwen“ zum Antitotalitarismus – Loewenheim galt der Kommunismus nun gar als neuer Faschismus – wurde von den Mitgliedern aufgesogen und adaptiert. All das ist nicht gänzlich unüberzeugend und der Versuch, dieses Paradoxon zu lösen, ist löblich. Dennoch ergeben sich mit Blick auf andere sozialdemokratische Intellektuelle (etwa Willi Eichler, aber auch die Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel und Franz L. Neumann), die im Exil ähnliche Überzeugungen gewannen, Zweifel an der Tragfähigkeit des Sektennarrativs.

Hier und da will Kühne also zu viel und stößt mit seinem Instrumentarium an Grenzen. Insgesamt bleibt seine Studie trotz dieser Einschränkungen jedoch ein lesenswertes Buch, das den Forschungsstand um wichtige Facetten ergänzt und manche der sich um Neu Beginnen rankenden Mythen beschneidet. Viel ist hier über die West-Berliner SPD der Nachkriegszeit und die ideologische Konstituierung des Netzwerks Neu Beginnen zu lernen. Dieses Kernziel der Untersuchung wird überzeugend erfüllt.

Anmerkungen:
1 Zuletzt bei der Tagung „Linke Zwischengruppen – vor, mit und jenseits der Neuen Linken in beiden deutschen Staaten“ an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, 12./13.10.2017 (Veranstalter: FZH Hamburg und ZZF Potsdam); siehe dazu den Bericht von Vera Bianchi, in: H-Soz-Kult, 13.03.2018, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7604 (11.02.2019). Die letzten einschlägigen Arbeiten zu Neu Beginnen entstanden am Ende der 1990er-Jahre (zum Forschungsstand siehe Kap. 2 im hier rezensierten Buch).
2 Terence Renaud, The German Resistance in New York: Karl B. Frank and the New Beginning Group, 1935–1945, BA thesis, Boston University 2007, http://terencerenaud.com/german_resistance.htm (11.02.2019); ders., Restarting Socialism. The New Beginning Group and the Problem of Renewal on the German Left, 1930–1970, Berkeley 2015, https://escholarship.org/uc/item/3v8721k4 (11.02.2019).
3 Scott H. Krause, Neue Westpolitik. The Clandestine Campaign to Westernize the SPD in Cold War Berlin, 1948–1958, in: Central European History 48 (2015), S. 79–99; ders., Bringing Cold War Democracy to West Berlin. A Shared German-American Project, 1940–1972, London 2019.
4 Krause, Neue Westpolitik.

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