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Titel
Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: "Wie antisemitisch war die Gruppe 47?"


Autor(en)
Briegleb, Klaus
Erschienen
Berlin 2003: Philo Verlag
Anzahl Seiten
323 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mona Körte, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Betrachtet man die jüngeren Studien zur Gruppe 47 und ihrer Bedeutung für die deutsche Literatur und Nachkriegsgeschichte, so ist seit den 1990er-Jahren ein Entzauberungsprozess im Gange.1 Von Anbeginn blieb die Gruppe 47 hinter ihren ästhetischen und poetologischen Vorgaben zurück, so der Tenor, habe jedoch im Laufe ihrer Geschichte als eine Art Großunternehmen im Verein mit Verlegern und Literaturkritikern für ihre eigene Mythenbildung gesorgt.

Der Hamburger Germanist Klaus Briegleb will die Entzauberung perfekt machen, wenn er am Ende seines Buches vermerkt, dass seine Streitschrift „die Gruppe 47 zum Fall“ mache, an dem „nichts Positives mehr zu sehen“ sei. Als literarische Agentur berufe sie sich zu Unrecht auf ihre Autorität in Sachen deutsche Vergangenheit und gehöre endlich in die Rumpelkammer der Geschichte (S. 320f.). Zum (Modell-)Fall werde die Gruppe durch ihren virulenten Antisemitismus, dessen Existenz Briegleb – ein polemischer Grundzug gehört für ihn zum Thema – voraussetzt. Man muss sich dem Buch von seinem Ende her nähern, um Aufschlüsse über die eigenwillige Textgestalt dieser Streitschrift zu erlangen. Dem Buch liegen drei in den 1990er-Jahren entstandene Einzelstudien zugrunde, deren Wiederverwendung in neuer Bündelung geeignet sei, „aus der literarhistorischen Fachforschung heraus, auf Martin Walsers berüchtigte Rede in der Paulskirche “ (S. 318) zu antworten. Eine weitere Legitimation erhalte das Buch durch Grass‘ Erzählung „Krebsgang“ und Walsers Roman „Tod eines Kritikers“. Briegleb möchte den „vergangenheitspolitischen“ Zusammenhang zwischen dem deutschen Nachkriegs-Antisemitismus und einer um Auschwitz herum geschriebenen Literatur untersuchen sowie „den logischen Zusammenhang zwischen der Gedenkschwäche von Schriftstellern und dem Niveau ihrer Arbeit erforschen“ (S. 319). Sein Vorhaben verspricht, die Modalitäten des Ästhetischen in einem bestimmten, ideologisch nicht wertfreien historischen Augenblick unter die Lupe zu nehmen.

Dieses Vorhaben löst das Buch jedoch nicht ein. Denn Brieglebs Studie unterzieht die Texte der Gruppe 47 keiner Relektüre, sondern versteigt sich zu einer redundanten Endlosschleife über die Befindlichkeiten einer Gruppe. In der angehängten Gebrauchsnotiz (S. 322), zu verstehen als Bändigungsversuch eines aus den Fugen geratenen Textes, spricht Briegleb von „Spielräumen für frei assoziatives Mitgehen“, von „Zwischenrufen, Einwürfen“ (S. 322), die, so könnte man wohlmeinend interpretieren, die mimetische Annäherung an ein Streitgespräch andeuten, in Wahrheit aber die Argumentation zerfasern. Lesenswert ist Brieglebs Buch – dies sei hier vorweggenommen – ab Seite 231, wo er sich auf einen in Zürich gehaltenen Vortrag stützt, der in dichterer Form verschiedene Aspekte des Buches bündelt. Insgesamt jedoch stören die obsessiven Wiederholungen und zu Kampfbegriffen mutierenden Etikettierungen der Gruppe 47 und ihrer Trabanten („germanischer Barbar“ (S. 44), „Märchenonkel“ (S. 78), „unverbesserliche Neoteutonen“ (S. 321)), mittels derer Briegleb der Leserschaft seine These vom Versagen der Gruppe 47 einhämmert: Die Gruppe habe die einzigartigen Möglichkeiten der Literatur nicht dafür verwendet, „jene Trauer um die ‚Folgen des Genozids‘ für Juden und Deutsche differenzbewusst zu bearbeiten“ (S. 77). Von Anbeginn habe die Gruppe, anstatt das Wissen um eine „jüdisch-deutsche Differenz“ nach der Shoah produktiv zu machen, „aus ihrer leeren Mitte heraus ihr Großes Tabu gepflegt: die Angst vor einer wirklichen Begegnung mit Juden und Judentum nach der Shoah“ (S. 12).

Das allzu kompatible Wort Differenz sorgt bei Briegleb für erklärungsbedürftige Komposita wie „Differenz-Neugier“ (S. 44) und „Differenzangst“ (S. 204), die mehr verschleiern als sie enthüllen. Deutlich werde dieses Tabu in den Selbstzeugnissen, die geprägt seien von „Missachtung, Desinteresse, Verdrängung“ (S. 12f.). Dieser im Verlauf des Buches wiederkehrende Dreischritt liest sich als Konterkarierung des oft bemühten Freudschen Topos „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“, der den durch die Mitscherlichs aktualisierten Verarbeitungsmechanismus traumatischer Erlebnisse nach dem Holocaust anzeigen sollte. Hass, Tabu, Schuldwissen, Selbstmitleid sind die zentralen Kategorien in der Umschreibung der Gruppe, durch welche das „Verbrechen der Nation eingekapselt“ bleibe (S. 108) und eine „Literatur ohne Gedenken“ (S. 21) entstehe. Juden würden – ob als literarische Figuren oder als leibhaftige Schriftsteller – durch Rhetoriken der Ausgrenzung (S. 248) mit literarischen Mitteln noch einmal geopfert.

Ob Briegleb den uneigentlichen Ausdrucksweisen im Gruppengeschehen nachgeht (S. 65) oder deren Ausschlussregeln im Hinblick auf unliebsame Emigranten zugunsten von „Alibi-Juden“ (S. 265) und „Vorzeigefrauen“ (S. 170) untersucht – fast immer schickt er seinen Auswertungen der Quellen die Deutung voraus. Die mageren Belege stehen in schwachem Verhältnis zur angemaßten Deutungshoheit. Briegleb sieht unveröffentlichte Briefe Paul Celans ein und „blättert“ im Hans-Werner-Richter-Archiv (S. 310), doch was genau er dort findet, bleibt unklar. Dadurch entsteht weniger eine Studie darüber, welchen „Anteil die Gruppe an der [...] Einkapselung des Antisemitismus in seinen vielen öffentlichen Vermittlungen im Deutschland nach der Shoah“ gehabt habe (S. 23). Vielmehr wird die Gruppe zum Keim oder hartnäckigen Symptom der offenen wie versteckten Emanationen des Antisemitismus umgebogen. Dies lässt die Beweglichkeit unleugbarer Vorurteile ebenso wie die unterschiedlichen Stadien der Ein- und Ausschlussregeln von Emigranten und Schriftstellerinnen innerhalb der Gruppe außer Acht. Aus der Walserschen Paulskirchenrede liest Briegleb ebenso wie aus der Diskussion um das Berliner Holocaust-Denkmal die in der Gruppe 47 begonnene Abspaltung deutscher „Selbst-Erinnerung von ihrer deutsch-jüdischen Gesamtgeschichte“ (S. 60) heraus. Die verunglückte Mahnmal-Debatte wird hier zum Meta-Zeichen für „unaufgearbeitete Schuld“ (S. 149). Durch den Aufweis gruppentypischen Machtgebarens läuft der Autor Gefahr, die Gruppe als dämonische regelrecht zu inthronisieren, obwohl er sie doch eigentlich demontieren will. Briegleb möchte, indem er „ihrem Selbstgespräch“ (S. 24), darunter auch manchem Versprecher nachlauscht, das Unbewusste dieser Gruppe bergen, unterstellt ihr jedoch in seinen Formulierungen Taktik und Kalkül.2 Statt vom Affekt als unkontrolliertem Ausdruck des Unbewussten ist von Heuchelei und gezieltem Debattenverbot die Rede.

Brieglebs „Methode“, die den Antisemitismusvorwurf nicht nur belegen soll, sondern das Ausmaß zu bestimmen verspricht, folgt „einer Darstellung von hinten her, aus der Sicht von Resultaten einer ‚Entwicklung’“ (S. 25). Übersetzt könnte dies heißen, den eigenen historischen Ort des Denkens und Schreibens bewusst zu reflektieren. Brieglebs Instrumentarium ist indes wenig differenziert, auch dort, wo er das von der Gruppe ironisch als „elektrischen Stuhl“ apostrophierte Ritual des Vorlesens als „Zeichen eines gestillten Todestriebs“ (S. 237) interpretiert, um gleich darauf einen Methodenwechsel anzukündigen: „Jetzt Brückensteg, Methodenwechsel: Von der Psycho- zur Diskursanalyse!“ (S. 238). Hier wird der Versuch simuliert, das Unabweisbare seiner Streitschrift auf verschiedene Arten zu denken. Sein Verfahren ist das der Ideologiekritik, deren Crux darin liegt, dem Unbewussten Kalkül vorzuwerfen.

Trotz aller Kritik finden sich wichtige, jedoch nicht neue Befunde, darunter die skrupellose Haltung der Gruppe gegenüber Paul Celan3 und anderen jüdischen Autorinnen und Autoren. Nicht weniger entscheidend ist das Ergebnis, dass die zwischen Existentialismus und Todeskitsch hin- und herschwankende Nachkriegsliteratur einer dringenden Relektüre bedarf. Diese Befunde haben ihre Plausibilität jedoch bereits über frühere Studien erlangt, etwa durch Ruth Klügers Buch „Katastrophen“ und umfassender durch Ernestine Schlants Studie „The Language of Silence“.4 Hatte schon Schlant das Verschwiegene zu ihrem Thema gemacht, so dient ihr und Briegleb der verstorbene W.G. Sebald als Vorzeigeautor. Bei ihm offenbare sich „die Haltung des Sich-in-der-Differenz-Bewegen-Könnens, die die Voraussetzung ist, als deutscher Schriftsteller in den Raum der Shoah einzutreten“ (S. 253).

Auch werden Brieglebs kritische Anmerkungen zur Gruppe 47 in dem Sammelband „Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik“ vorweggenommen.5 Dort erfährt man, dass die Metaphern des Neubeginns wie „Nullpunkt“ weitgehend programmatisch blieben, eine Mystifikation im Eigeninteresse der Autoren darstellten und die Gruppe 47 „keine neue Ästhetik“ hervorgebracht habe. Auch habe die Gruppe das Exil gewissermaßen „verewigt“, indem eine produktive Rezeption und Integration der Exilliteratur ausgeblieben sei. Verschiedene Mechanismen der Abwehr werden thematisiert, die sich nicht selten in aggressiven Beschuldigungen gegen Emigranten ausdrückten. Die Ende der 1950er-Jahre zunehmenden Verdächtigungen, darunter der von Hans Habe vorformulierte Antisemitismusvorwurf gegen die Gruppe, finden dort ebenfalls Raum. Am Ende des Bandes steht die Erkenntnis, dass die Gruppe 47 längst kritisch als abgeschlossene Erscheinung im Raum der Literaturgeschichte zu verorten sei.

Die Gruppe in ihrer Unzulänglichkeit aufleben zu lassen, um sie wirksamer als bisher geschehen für tot zu erklären, ist wohl eine der Stoßrichtungen von Brieglebs Streitschrift. Wer aber sind die eigentlichen Gegner? Ist es wirklich die ‚linke’ Germanistik, der Briegleb das „Lieblingskind [...], die Gruppe 47“ (S. 317) endgültig entfremden möchte, oder ist die Polemik derart total, dass sie sich gar ironisch zur ‚Gattung Streitschrift‘ verhält? Durch ihren offensichtlichen Abrechnungscharakter jedenfalls versucht die Studie noch den Ton ihrer Gegner mitzubestimmen, der Logik entsprechend, dass auf rigorose Anklage kaum weniger vehemente Apologie folgt. Brieglebs Schrift bleibt in ihren diskussionswürdigen, aber undeutlich belegten Angriffen ein flüchtiges Buch, so flüchtig und wenig greifbar wie ein Gerücht.

Anmerkungen:
1 Fetscher, Justus; Lämmert, Eberhard; Schutte, Jürgen (Hgg.), Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik, Würzburg 1991; Cofalla, Sabine (Hg.), Hans Werner Richter. Briefe, München 1997; Schlant, Ernestine, The Language of Silence. West German Literature and the Holocaust, New York 1999; Braese, Stephan, Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur, Berlin 2001.
2 Auf diese Argumentationsschwäche hat bereits Gunther Nickel in der „Stuttgarter Zeitung“ vom 26.4.2003 hingewiesen.
3 Vgl. den Kommentar von Cofalla (wie Anm. 1).
4 Klüger, Ruth, Gibt es ein „Judenproblem“ in der deutschen Nachkriegsliteratur?, in: Dies., Katastrophen. Über deutsche Literatur, Göttingen 1994, S. 9-38; Schlant (wie Anm. 1).
5 Fetscher, Lämmert, Schutte (wie Anm. 1).

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